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Maß besser gefällt als die Bibel sich bestrebt, ihn gegen Jacob, den jüdischen Stammvater herabzusetzen, Esau hat geschworen, seinen schlauen Bruder, der ihn schon zweimal betrogen, zu erwürgen und Rebecca treibt ihren Liebling zur Flucht nach Canaan, wo Laban, ein reicher und mächtiger Nomadenhäuptling, seine zahlreichen Heerden weidete.

Unterwegs legt sich der noch im zarten Alter befindliche Jüngling in einer menschenleeren Gegend zum Schlaf nieder und träumt: der Himmel öffne sich hoch über ihm und eine Leiter reiche von oben herab bis zur Erde, auf deren Sprossen die Engel Gottes auf und nieder stiegen. Eine Weissagung wird über den jungen Schläfer ausgesprochen: in Deinen Nachkommen sollen alle Völker der Erde gesegnet werden. Als Jacob erwacht, glaubt er an das majestätische Traumgesicht und spricht: diese Stelle ist heilig und ein Haus Gottes, und er beschließt, hier einen Altar des Allerhöchsten zu erbauen.

Der Maler hat mit sehr künstlerischem Takte die materielle Vorstellung einer Himmelsleiter, wie wir sie in ältern Gemälden und geätzten Blättern, gewöhnlich mit dem Allvater auf der Spitze derselben, so oft finden, bei Seite gelassen. Ein hehrer Engeljüngling schwebt neben dem schlafenden Wanderer, die rechte Hand segnend ausgestreckt, und eben im Begriff nach den, von blendenden Stralen erhellten, Himmelsräumen zurückzukehren. Oben ringsum ist tiefe Nacht; das zauberische Licht fällt vorn auf die wie aus Sternenglanz gewobene Figur des Engels und etwas gedämpfter auf den Jacob, welcher rechts im Vordergrunde im seligen Schlummer der Jugend, Gesundheit und Unschuld ruht, das Angesicht verklärt von dem Widerscheine der Herrlichkeit seiner Vision. Dunkle Palmenbüschel erheben sich neben ihm und wehen geisterhaft hinein in das Stralenmeer oben. Neben dem dunkelgrünen Blätterwerke lauschen zwei Engelsköpfchen, indeß ein dritter Engelsknabe, durch den leichten Wolkenschleier nur halb sichtbar, mit unendlich anmuthigem Ausdrucke in Miene und Bewegung sanft die Mütze Jacobs emporhebt, um die Schönheit des Schläfers schelmisch lächelnd zu betrachten.

Es weht in diesem Bilde eine frühlingsfrische Lebensfülle, und die Licht- und Schattenmassen sind nach einem großartigen Styl behandelt. Bei aller Kräftigkeit der dunklen Partien sind hier die Farbentöne so abgestuft und die Uebergänge so zart gehalten, daß die ganze Luft- und Wolkenregion eine ungemeine, durchsichtige Leichtigkeit erhalten hat. Die Figuren in ihrer zwanglosen Zeichnung harmoniren vollständig mit dem Ton des Gemäldes, und so ausnehmenden Vorzügen gegenüber dürfte das willkührlich erfundene Costüm Jacobs, welches von dem historisch richtigen allerdings sehr abweicht, um so weniger Tadel erfahren, als es der Neuzeit und ihren gelehrten Reisenden vorbehalten war, dasjenige zu erforschen und festzustellen, was wir in diesem Punkte in der Malerei als Norm annehmen.




Ruhe auf der Flucht.
Von Ferdinand Bol.

Hat der Beschauer die italienischen Madonnen und heiligen Familien im Gedächtniß, deren Darstellung namentlich bei den Malern des achtzehnten, aber auch unsers Jahrhunderts in

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/781&oldid=- (Version vom 1.8.2018)