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Felicie
(Ein Beispiel für die Liebe in den wohlhabenden Kreisen Frankreichs)

Gelegentlich seines Buches „Über die Liebe“ gingen dem Verfasser zahlreiche Briefe zu. Einer der interessantesten (von Victor Jacquemont) sei hier wiedergegeben.

Saint-Dizier, im Juni 1825.
Mein lieber Philosoph!

Ich weiß nicht recht, ob Sie mit „Liebe aus Eitelkeit“ die kleine berechnende Eitelkeit der jungen Französin bezeichnen mögen, die Sie im vergangenen Sommer in Aix-les-Bains in Savoyen kennen gelernt haben, und deren Geschichte ich Ihnen versprach. Denn in dieser, übrigens ziemlich faden Komödie steckt nicht eine Spur von Liebe. Es ist sozusagen leidenschaftliche Träumerei, die das Glück der völligen Hingabe überschätzt.

Glauben Sie aber nicht etwa, ich hätte Ihr Buch nicht verstanden; ich halte mich lediglich an ein schlecht gewähltes Wort.

An jeder Spielart der Liebe muß es irgend eine gemeinsame Eigentümlichkeit geben; im Grunde ist es das Verlangen nach völliger Hingabe. Nun, in der „Liebe aus Eitelkeit“ fehlt dieses Kennzeichen.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_324.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)