Seite:Ueber die Liebe 335.jpg

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Indessen fanden es alle Freunde der Familie niederträchtig, daß dieser armselige Weilberg eine junge Frau verführt hatte, in deren Hause er täglich als Gast verkehrte, deren Gatte ihm tausend Dienste geleistet und die selbst bis dahin sehr rechtschaffen gelebt hatte. Ich machte ihn auf die zweideutige Rolle aufmerksam, die man ihn spielen ließ. Er umarmte mich, dankte mir für meinen Wink und beteuerte, keinen Fuß mehr über die Schwelle jenes Hauses setzen zu wollen. Dabei erzählte er mir, was sich auf der Reise alles zugetragen hatte.

Als Felicie ein paar Tage Weilberg, der fast täglich bei ihr zu Tisch war, entbehren mußte, spielte sie die Verzweifelte. Sie sagte, es sei eine Nichtswürdigkeit ihres Gatten, daß er diesen tugendsamen Mann aus dem Hause gejagt hätte. (Mir und zwei anderen Bekannten hatte sie ja anvertraut, daß dieser tugendsame Mensch sie regelrecht verführt habe, im Moose zu Füßen einer Tanne des Schwarzwaldes, wie das so zu geschehen pflegt.) Sie deutete ferner in schonenden Worten an, ihre Mutter sei ihr zwar erst gefällig gewesen, habe ihr hinterher aber den tugendhaften Verehrer streitig gemacht. Dabei war die gute alte Dame sechzig Jahre alt und seit zwanzig Jahren über alle Liebesgedanken hinaus. Dann bestellte sie sich bei einem geschickten Messerschmied einen Dolch mit Damaszenerklinge und ließ ihn sich eines Tages, als man gerade bei Tisch saß, überbringen. Ich sah, wie sie dafür vierzig Franken bezahlte und ihn vor unseren Augen in ihren Schreibtisch einschloß. Dann brachte ein Dutzend Apothekergehilfen jeder eine kleine Flasche Opiumsaft; diese Fläschchen ergaben insgesamt eine

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_335.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)