Stunden der Andacht/Am Morgen des Versöhnungstages

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Am Morgen des Versöhnungstages.[1]

„Ich bekenne meine Sünden dir,
Will mein Vergehen nicht bemänteln.
Ich sprach: Meine Missethat gesteh ich dem Herrn,
Und du vergabst mir meiner Sünden Zahl.“
 (Ps. 32, 4.)

Der Morgen des geheiligten Tages ist herangebrochen und wieder stehen wir vor dir versammelt, um das Werk der Sühne [52] und der Buße, das wir am Abend begannen, fortzusetzen. Die Schauer der Andacht durchbeben jedes Herz, alle Lippen regen sich in inbrünstigem Gebete und reuig klopft der Sünder an sein Herz und kehrt um von seinen Wegen, um zu dir zurück zu kehren.

Niedergedrückt und gebeugt stehe auch ich vor dir, Allbarmherziger, das Herz wund von dem scharfen Stachel der Reue, den Blick gesenkt in tiefer Scham und mit heißen Thränen lege ich vor dir das schmerzvolle Bekenntniß ab: Gott, mein Gott, ich habe gesündigt, ich habe gefehlt und gefrevelt, und oft gethan, was schlecht ist und ungerecht in deinen Augen. Traurig und zerknirscht werfe ich den Blick zurück auf meinen Wandel, und ach, wie Vieles, tritt mir da als nagender Vorwurf entgegen, wie Vieles, das ich in schwerer, herber Selbstanklage als eine Frucht der Verirrung und der Versündigung meines Lebens erkennen muß! Angstvoll poche und klopfe ich an mein Herz und frage mich:

Habe ich nicht so viel Sündiges wissentlich und absichtlich, oder auch ohne Wissen und Absicht begangen und in mir genähret?

Bin ich nicht in des Herzens Härte gewandelt, habe ich nicht mein Gemüth verschlossen den Lehren des Heils und den Ermahnungen zum Guten, wo sie aus deiner heiligen Schrift und aus dem Munde deiner Diener mir entgegen tönten?

Habe ich nicht aus Unverstand gegen deine Wege gemurret, und habe ich nicht in meiner Kurzsichtigkeit an deiner Huld und Gnade gezweifelt, wo sie sich mir nicht so offen und sichtbarlich dargestellt?

War ich nicht leichtfertig und unbesonnen in meinen Reden und Aeußerungen, erwog ich stets jedes Wort, ehe es über meine Lippen kam und habe ich die Gabe der Sprache, mit der du den Menschen gesegnet hast, stets zum Guten angewendet?

War mein offenes und geheimes Leben stets ein gleiches, und war ich niemals schwach genug, äußerlich das zu bekennen, was ich im Innern verleugnete, und wiederum anderes zu verschweigen und zu verheimlichen, was ich pflichtgemäß hätte aussprechen und offenkundig machen sollen?

Habe ich stets der Sittsamkeit mich beflissen, und niemals den Geboten weiblicher Keuschheit und Schamhaftigkeit zuwider gehandelt?

Habe ich niemals durch meine Worte Anstoß und Aergerniß gegeben, niemals meine Lippen entweiht durch unzüchtige und unsittliche Redensarten?

[53] Habe ich nie mit böser Zunge meinen Nächsten angefallen, und statt der Liebe und des Friedens, den Haß geschürt und genährt, habe ich mich stets frei gemacht von Tadel- und Verkleinerungssucht?

Habe ich niemals durch Klatschsucht und Angeberei Unheil und Unfrieden gestiftet und der Ehre meines Nächsten einen Flecken angeheftet?

Ließ ich mich niemals verleiten, meinen Nächsten zu übervortheilen, und vermied ich stets nach Kräften Alles, was ihm Schaden und Nachtheil bringen konnte; und habe ich derart im Verkehr und Erwerb, im Handel und Wandel stets Treue und Redlichkeit beobachtet?

Habe ich nie sündiges Gelüste im Herzen gehegt, und hielt ich es stets verschlossen all jenen Eindrücken, die es beflecken und verderben könnten?

Ließ ich mich nie verlocken zu unerlaubten Genüssen, und bin ich nie dem Vergnügen nachgegangen, wo mich die Pflicht davon abrief?

War ich auch immer bereit, meine Bequemlichkeiten zu opfern, um den Anforderungen zu entsprechen, die mir als Gattin, als Mutter und als Hausfrau obliegen?

War ich nie gleichgültig gegen die Anforderungen der Religion, gegen die Gebote Gottes, gegen das Heil meines Volkes?

Habe ich nicht Trug und Tücke im Herzen genährt und durch Schein und Arglist meinen Nächsten hintergangen?

Habe ich nie ein gedankenloses Bekenntniß vor dich, mein Gott, gebracht, mit den Lippen bloß, ohne daß mein Herz dabei war, und durch das Bekenntniß einer Sünde eben eine Sünde begangen?

Habe ich nie im Uebermuth und in tadelhaftem Selbstvertrauen mich in Versuchungen begeben, und nicht sorgfältig die Gelegenheit gemieden, die so leicht zu Fehlern und Irrthümern führt?

Habe ich niemals die kindliche Ehrfurcht und Liebe verletzt gegen meine Eltern und Führer, und ihre Lehren und Ermahnungen niemals geringschätzig von mir gewiesen?

Habe ich niemals meine Gewalt gemißbraucht gegen Schwächere und Untergebene?

Habe ich niemals durch mein Thun und Lassen Gelegenheit gegeben zur Entweihung deines heiligen Namens?

[54] Habe ich nicht durch unbesonnene und thörichte Aeußerungen über das Heilige und Erhabene mich vergangen und versündigt?

War ich niemals die Anstifterin zum Bösen, und habe ich niemals das Schlechte und Verwerfliche befördert, anstatt es zu unterdrücken?

Habe ich nie verabsäumt, mich belehren und unterrichten zu lassen über das, was mir Pflicht ist zu thun und zu lassen, und bin derart der Sünde verfallen durch selbstverschuldete Unwissenheit?

Habe ich mich niemals und durch Nichts zur Ungerechtigkeit verleiten und bestechen lassen?

Habe ich niemals zur Lüge meine Zuflucht genommen, zur Heuchelei und Gleißnerei?

Habe ich niemals dem Spotte und der Lästerung Beifall gezollt, statt des Gehöhnten und Gelästerten mich anzunehmen?

Habe ich nie das Gute getan des Lohnes halber, und dem Hilfsbedürftigen die Hilfe gewährt für Zins und Entgelt?

Habe ich nie eitel und hochmüthig das Haupt erhoben meiner Eigenschaften halber, und im eiteln Dünkel vergessen, daß du es bist, der sie mir gegeben in deiner Huld, ohne mein Verdienst?

Blickte ich nie mit scheelen Augen auf das Glück meiner Mitmenschen, und beneidete ich nie den, welchen ich vor mir bevorzugt glaubte?

Habe ich mich nicht vergangen durch eitle Hoffnungen, und Wünsche vor dir ausgesprochen, die thöricht und sündhaft sind?

Blickte ich niemals stolz auf den Armen und Geringgestellten, und habe ich in dem Unglücklichen und Dürftigen auch stets den Menschen in deinem Ebenbilde erkannt und gewürdigt?

Habe ich mich nie schuldig gemacht der Anmaßung und der Härte, und war mein Blick und Wort stets sanft und mild, wie es dem Weibe gebührt und geziemt?

War ich nie engherzig bei meinen Hilfeleistungen, habe ich meine Spenden nicht eng und kärglich zugemessen, und gab ich stets, wo ich geben konnte, mit Freudigkeit und Freundlichkeit im Blick und Herzen?

Bestand ich nie hartnäckig auf meinen einmal gefaßten Ansichten, wenn gleich erfahrene und einsichtsvolle Menschen mir dagegen ihre Gründe angaben, scheuete ich mich nie mein Unrecht zu [55] bekennen, und konnte ich nachgeben und zurücktreten, wo das Recht auch wirklich auf meiner Seite war, um des Friedens willen?

Habe ich niemals mich verleiten lassen zu falschen Betheuerungen, zu Schwüren, Versprechungen und Zusicherungen, die ich nicht halten konnte oder wollte?

Habe ich niemals unversöhnliche Feindschaft genährt, mich nie von blindem Haß beherrschen lassen ohne Prüfung und Untersuchung?

Hat mich niemals schnöder Eigennutz und Geiz dahin gebracht, fremdes Gut mir anzueignen, ohne Fug und Recht?

Habe ich nie in der Aufregung des Herzens Gutes und Böses, Heiliges und Gemeines mit einander verwechselt.

Ach mit tiefem Schmerz und bitteren Thränen muß ich es bekennen, gar viel habe ich gesündigt, und mich gegen dich vergangen, gegen dich, mein Gott, der du mir stets ein so huldvoller Vater, ein so treuer Beschützer und Hort warst! Gegen dich habe ich mich vergangen, ohne zu bedenken, daß ich durch mein Thun und Lassen deine Liebe verlieren, deinen Unwillen über mich herbeiführen mußte. – Doch, Allgütiger, so sehr wir auch fehlen, deine Huld ist immer noch größer als unsere Sünde, deine Gnade reicher weiter als unsere Schuld. „Es kehre zurück der Sünder zu mir, und ich will ihn Gnade finden lassen, ich habe kein Gefallen daran, daß er sterbe der sündige Mensch, sondern daß er ablasse von seinem Wandel und lebe.“ Das ist die trostvolle Verheißung, auf die gestützt ich mein Gebet zu dir aufschicke. Verwirf mich nicht, o Herr, vor deinem Angesichte, nimm deinen heiligen Geist nicht von mir, berge mich ferner unter den Flügeln deiner Gnade, wende ab von mir jedes böse Verhängniß, jede unheilvolle Begegnung, und verleihe mir, mein Gott, Kraft und Ausdauer, stets den guten Regungen meines Herzens zu folgen, auf daß ich immer würdiger werden möge deines göttlichen Erbarmens und deiner beseligenden Liebe. Amen.


  1. Der zehnte Tischri ist ein Fast- und Bußtag, der Selbstprüfung, der Einkehr in sein Gemüth, der Versöhnung mit Gott, mit der Welt und mit sich selber gewidmet.