Stunden der Andacht/Auf dem Grabe eines Verwandten

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« Gebet einer Mutter am Grabe ihres Kindes Stunden der Andacht Am Laubhüttenfest beim Kreisgang mit dem Lulaw und Essrog »
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Auf dem Grabe eines Verwandten.

„Der Mensch ist dem Hauche gleich,
seine Tage dem Schatten, der vorüberwallt.”

Theure (r) Hingeschiedene (r), du warst mir werth und lieb im Leben, und ich komme auf deine Ruhestätte, um deiner verklärten Seele im Jenseits noch meine Gefühle der Liebe zu zollen, und hier zu Gott für deinen ewigen Frieden zu beten. Möge der Allgütige meine frommen Wünsche für dich erhören, möge deinen Gebeinen sanfte Ruhe, und deinem Geiste des Himmels Seligkeiten und Freudenfülle werden!

Hier, in dieser stillen Behausung des Todes, sollte der Mensch sich oft ergehen, um stets der Nichtigkeit alles Irdischen sich bewußt, und seiner höhern Bestimmung auf Erden eingedenk zu bleiben. – Was ist das ganze Erdenleben! Eine Spanne Zeit und wir stehen am Grabe. Unser Lebensweg, ob er mit den Blüthen der Freude und des Genusses sich bekränzt, und das Glück und der Reichthum mit uns Hand in Hand wandelt, oder ob er [134] uns ein blumenloser Steinweg ist, von Unglück umdunkelt, von Dürftigkeit verödet: wohin führt er anders als an die Pforten des Todes! Und diese öffnen sich für uns, ob wir in der Blüthe jugendlicher Schöne, oder von Alter geknickt da stehen. Das Reich des Todes nimmt uns auf, und wir werden zu Moder und Asche; und das, womit wir so oft in thörichtem Dünkel groß gethan, in Stolz und Hochmuth geprunkt, und darüber so oft das Edle und Bessere vergessen und verachtet haben – sinkt in Trümmer und Verfall.

Doch nur die Hülle sinkt zusammen, aber das eigentliche Wesen bleibt unvergänglich; die morsche Hütte bricht, aber der Geist steigt auf in seine ewigen Wohnungen des Jenseits! Wohl ihm, wenn er seiner Bestimmung getreu seine Erdenpilgerschaft vollbracht hat; wenn er in allen Kämpfen und Mühen des Lebens nie sein ewiges Heil außer Acht gelassen; wenn er gereinigt und verklärt, begleitet von Werken der Liebe und Gerechtigkeit, zur ewigen Herrlichkeit eingeht! –

Lerne du, mein Herz, hier das Leben würdigen, lerne gebrauchen die Tage des Glückes, wie die Tage des Mißgeschickes zum Heil und zur Bildung deines unsterblichen Geistes, damit ich ohne Bedauern und Reue am letzten meiner Tage darauf zurückblicken kann, und meine Seele in Frieden und Seligkeit zu meinen Vorfahren eingehe. Dies sei dein Wille, Herr, mein Gott, dazu gib mir deinen Segen und deine Kraft. Amen.