Stunden der Andacht/Zu Mussaf des Versöhnungstages

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Navigation springen Zur Suche springen
« Am Morgen des Versöhnungstages Stunden der Andacht Zug des Oberpriesters nach und aus dem Tempel »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[56]
Zu Mussaf des Versöhnungstages.

„Das Opfer, das dir wohlgefällt,
Ist ein gebrochner Sinn;
Ein gebroch’nes, ein zerschlag’nes Herz,
Gott, verschmähst du nicht.“
 (Ps. 51, 19.)

Mit Schmerz und Wehmuth begrüßt mein Herz die Erinnerung jener Tage der Versöhnung, die unsere Väter in deinem großen Tempel zu Jerusalem gefeiert, wo Pracht und Herrlichkeit gleich einem Wiederschein deiner Glorie und Majestät sich über die geheiligten Räume ergoß, wo der Leviten Schaaren unter feierlichem Sang und Klang, in Freudigkeit und Weihe deinen Dienst verrichteten, und der Hohepriester, strahlend in seiner Herzensreinheit, und in seiner äußern Pracht vor dich hintrat, um für sein Volk, das in heiliger Scheu um ihn versammelt stand zu beten, und ihre Opfer auf deinen Altar niederzulegen, und wo er ihnen die selige Verheißung verkündete: „An diesem Tage wird der Herr euch versöhnen, daß ihr rein werdet von allen euern Sünden vor ihm.“ Und das Volk, ergriffen und durchbebt von dem Namen Gottes, dem ehrwürdigen, dem furchtbaren, wie des Hohepriesters Mund in seiner Heiligkeit und Reinheit ihn aussprach, fiel nieder aufs Knie, bückte sich, und warf sich aufs Angesicht und rief: „Gelobt sei sein Name, sein Reich und seine Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Und als der Tempeldienst zu Ende war, da strahlte des Hohepriesters Antlitz wie die Sonne in der Mittagshöhe, wie die Gottesengel an dem Himmelsthron! Denn wohlgefällig angenommen waren Opfer und Gebet, versöhnt warst du, o Gott, rein war das Volk wieder vor dir, der Sünden Fleck und Makel, roth wie Blut, hatte sich in Unschuld weiß wie Schnee verwandelt. Und vor Freude und Jubel jauchzte das ganze Volk und ergoß sich in frohe Lieder, die Wanderer auf den Straßen stimmten an Gottes Lob, und priesen ihn mit Paukenschall und Harfenton – sein Name war ein Festgesang.

Also feierten unsere Väter den Versöhnungstag. Doch uns ist nichts von all dieser Herrlichkeit zurückgeblieben: die geweihete Stätte, die gesegneten Hallen, die geheiligten Altäre, die heiligen Priester, die feierlichen Levitenchöre – sind nicht mehr; wir haben nichts als unsere heißen Thränen, als unser Blut, das wir im Fasten und Kasteien dir heut zum Opfer bringen. Und mit ergriffenem, zerknirschtem Herzen flehen wir zu dir. Ach, Herr, wir [57] haben vor dir gesündigt und uns vergangen, wir und unser Haus. – Ach, vergib uns, Herr, unsere Schuld und unser Vergehen, nimm unsre Reue, nimm unsre Thränen, nimm unsre frommen Vorsätze und Entschlüsse als dir wohlgefällige Opfer an. – Laß die Cherubim deiner Gnade und Treue die Vertreter und Fürbitter für uns an deinem Throne sein, daß jeder Makel von uns genommen werde, und unsre Schuld in Unschuld sich verwandle, daß wir gesühnt und geläutert uns fühlen, wie neugeboren, wie der frische Tag, wenn Nacht und Nebel weichen. – Laß auch in unser Herz die Freude einziehen und den Jubel und das frohe Bewußtsein der von Gott erlangten Versöhnung. Laß von neuem stark und kräftig in uns werden die Hoffnung auf Gott, die da nimmer täuschet, und den frohen Gottesglauben, der wie Kühlung in des Sommers Hitze das Herz erfrischet, daß von neuem du mit Huld und Freundlichkeit auf uns niederblickest und uns gewähren mögest alles das, wonach das Herz sich sehnt in seinen innersten Tiefen:

Ein Jahr des Segens und des Gedeihens, reich an Frucht des Feldes und des Gartens, reich an beglückenden, segenvollen Ereignissen, auf daß Ruhe, Freude und Friede im Lande herrsche, und gesegnet all unser Thau und Unternehmen sei! – Lasse Wohlstand und Wohlergehen einkehren in Haus und Hütte, daß wir fern von Noth und Kummer uns deiner milden Gottesgaben erfreun. Laß alle Kranken Heilung, alle Trauernden Trost, alle Witwen und Waisen Annehmer und Vertreter finden, und alle unsre Lieben und Angehörigen erhalte uns zu einem langen und beglückten Leben, daß wir stets rührig und rüstig, freudigen Geistes und Herzens deinen Geboten nachgehen, und deiner geheiligten Lehre anhängen in unwandelbarer Liebe und Treue all unser Leben lang. Amen.