Trotzige Herzen

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Autor: W. Heimburg
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Titel: Trotzige Herzen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1-20, S. 1–4, 21–27, 37–40, 53–59 69–76, 85–87, 101–107, 117–123, 133–139, 149–155, 166–172, 181–188, 201–207, 222–226, 241–246; 261–267, 277–282, 293-299, 309–312, 336–339
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[1]
Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

Auf den Bergen lag dichter bläulicher Herbstnebel; er schien liebkosend festgehalten zu werden in den unzähligen Wipfeln der Buchen und Eichen und verflüchtigte sich erst zu einem dünnen zarten Schleier, als die Wälder zurücktraten, um den Häusern des Städtchens Platz zu lassen. Die kleine norddeutsche Residenz zog sich reinlich und niedlich, als habe eine Kinderhand sie soeben der Spielzeugschachtel entnommen, in die Ebene hinunter. Ueber ihr, stolz und frei auf einem Kegel erbaut, thronte das herzogliche Schloß mit seinem stumpfen Turm und dem mächtigen Flügelbau. Die herrlichen weiten Gärten, die mählich in den Wald übergingen, stiegen abwärts bis zum Schloßplatz, an dem die Wohnungen der Hofbeamten, das Herrenhaus der Domäne, der Marstall, das Theaterchen, die Hofkirche und der Gasthof lagen. Erst hier begann die eigentliche Stadt. Schnurgerade Straßen, mit alten dichtbelaubten Kastanien besetzt, führten zum Marktplatz. Oben standen noch einige stattliche villenartige Gebäude, hier unten herrschten die kleinen Bürgerhäuser vor, und allmählich wurden es gar Hütten. Aus den Regionen des Hofes gelangte man in die Regionen, wo sich das geschäftliche Leben abspielte, das in Ackerbau und Viehzucht gipfelte, demzufolge die Residenz einen fast dörflichen Anstrich in ihrem centralen Teile bot und weder für ein patentes Schuhwerk noch für verwöhnte Nasen etwas Anziehendes hatte.

Oben „am Schloß“, wie die Leute stolz den schöneren Teil ihrer Vaterstadt nannten, war es desto feiner. Die Natur hatte hier verschwenderisch ihre Reize ausgestreut, und wer diesen Glanzpunkt des Städtchens heute am verschleierten Herbstmorgen gesehen hätte, dort überragt von nebelumwallten Bergen, hier von dem Schlosse, über dessen Terrassen die Ranken des wilden Weines ihre Purpurbanner flattern ließen, dessen weiße Mauern aus dem bunten Herbstlaube der Gärten auftauchten, der würde den guten Stadtkindern von Breitenfels gern zugestehen, daß ihr Städtlein von hoher Poesie umgeben sei, wozu übrigens die fast spukhafte Einsamkeit und Verlassenheit, die hier herrschte, nicht wenig beitrug. Wie traumverloren sah das Schloß auf den Platz herab. Die meisten Fenster waren verhangen, nur nach der Waldseite, nach Süden hinaus, schien der mittlere Stock bewohnt und war es auch. Dort verbrachte die alte verwitwete Herzogin ein einsames Leben in Gesellschaft zweier Hofdamen, einer älteren und einer jungen, eines weißhaarigen, von der Gicht geplagten Kammerherrn sowie verschiedener Möpse und zärtlich geliebter Papageien. Die Kammerfrauen und Lakaien brauchten keinen Puder für ihr Haar, es war vom Alter weiß geworden. Der Leibkutscher wackelte sogar schon ein wenig mit dem Kopfe, und der Viererzug der Durchlauchtigsten Herzogin, welcher jeden Nachmittag [2] den letzten steilen Hang die riesige Kalesche hinaufzog, um, vor dem Portale haltend, die hohe Frau zu erwarten, die mit der Regelmäßigkeit einer Uhr ihre Spazierfahrt unternahm – dieser Viererzug schien unsterblich. Seit langen Jahren kannten die Breitenfelser die großen Schimmel, und es ging sogar ein dunkles Gerücht von ihnen, daß sie einstmals, vor grauen Zeiten, durchgegangen seien. Aber Bestimmtes wußte niemand, es war zu lange her.

Vor dem kunstvollen schmiedeeisernen Gitter droben ging eine Schildwache auf und ab; das war aber auch heute das einzige lebende Wesen hier herum, wenn man nicht des Herrn Oberförsters Teckel, die Lola und den Männe, dazu rechnen wollte, die sich im welken Kastanienlaub umherjagten. Geradezu spukhaft war es. Da auf einmal zitterte etwas durch die feuchte Herbstluft, eine Menschen-, eine Frauenstimme, ein glockenheller Sopran.

„O, du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,“ klang es aus dem trotz der Kühle geöffneten Wohnstubenfenster des Herrn Medizinalrat Doktor May, des vielgeliebten, aber auch vielgeplagten Leibarztes Ihrer Durchlaucht, ohne dessen Rat die hohe Frau keinen Tag leben konnte, dem sie, wie sie jedermann, der es hören wollte, erzählte, ihr Leben nicht ein-, sondern hundertmal verdankte, den sie sämtlichen Autoritäten seines Standes, und wären es die berühmtesten unter den berühmten, vorzog. Das May’sche Haus lag dem Schlosse gegenüber, seine Fenster blinzelten von unten herauf ehrerbietig zu ihm empor. Durchlaucht pflegte „ihrem lieben May“ des öfteren zu versichern, wie wohlthuend es ihr sei, den abendlichen Schein seiner Lampe heraufstrahlen zu sehen, wisse sie doch, daß dort ein treues Herz für sie denke und ihr Leben zu verlängern trachte, welches ihr, obgleich es eigentlich nichts bedeute als einen Kampf gegen den Egoismus ihres erlauchten Stiefsohnes, doch zur lieben Gewohnheit geworden sei.

Jedenfalls wollte sie noch nicht sterben, die hohe Dame, und so befolgte sie mit rührender Gewissenhaftigkeit die Vorschriften ihres ärztlichen Beraters. Der Herr Medizinalrat mußte natürlich jeden Augenblick gewärtig sein, auf das Schloß citiert zu werden; eine auswärtige Praxis konnte er infolgedessen nicht betreiben, und im Städtchen selbst waren noch vier Kollegen, die kaum ihr Brot fanden. Was aber das ärztliche Honorar für die Hilfleistung und täglichen Konsultationen am herzoglichen Hofe anlangte, so war es durchaus nicht verblüffend groß; Durchlaucht zahlten tausend Thaler jährlich für sich und den gesamten Hof, außerdem hatte ihr „lieber May“ freie Wohnung, so und so viel Klaftern Buchenholz, und endlich besaß er mehrere Orden des herzoglichen Hauses. Er war aber zufrieden damit, sagte sich, daß er als einfacher praktischer Arzt mehr als ein Paar Stiefel ablaufen müsse, um tausend Thaler zusammen zu bringen, schlug Wohnung und Holz über Gebühr hoch an und lebte schlecht und recht und glücklich mit seiner Frau, die vollständig die Ansicht ihres Eheherrn teilte. Die Söhne, von denen der eine Lieutenant in einem preußischen Artillerieregiment, der andere noch Student war, hätten freilich lieber gesehen, wenn ihnen ein reichlicherer Zuschuß aus der väterlichen Kasse geflossen wäre, indes, ein Schuft giebt mehr als er hat, erklärte der Medizinalrat. „Drückt euch durch, Jungens, ihr habt es ja nicht besser gewollt, habt eure Metiers selbst gewählt – mehr als zehn Thaler monatlich kann ich nicht hergeben; ihr habt ja noch den Zuschuß aus der Ruprecht-Stiftung.“

Am wenigsten ward Aenne von der bescheidenen Lage ihres Vaters angefochten. Sie vermißte nichts, bis jetzt jedenfalls noch nichts. Sie kannte nichts anderes, war nach alter guter Sitte erzogen, und nach der gehörten die Frauen und die Oefen in das Haus, ein Sprichwort, das der Herr Leibarzt des öfteren im Munde führte. Aenne war so jugendfrisch, so gesund an Seele und Leib, so befriedigt von ihren kleinen Pflichten, so beglückt von ihrem einzigen, durch mangelhaften Unterricht freilich nicht sehr geförderten Talent ihrer schönen Singstimme, daß sie mit niemand getauscht hätte; am wenigsten mit Fräulein Antonie von Ribbeneck, der jüngsten Hofdame Ihrer Durchlaucht, die in ihren dienstfreien Stunden, von trostloser Langweile geplagt, zuweilen ein Stündchen bei Mays vorsprach. Mays waren ja hoffähig in Breitenfels; zu jedem Theeabend wurden sie von Durchlaucht befohlen, und Aenne mußte singen vor dem wunderbar zusammengestellten Cercle im herzoglichen Musiksaal.

Auch für heut’ abend war sie huldvollst darum ersucht worden, und nun probte sie noch einmal ihre Lieder, eines besonders, zu dessen Vortrag sie sich erst eben entschlossen hatte, um mit ihm den heutigen Musikabend, den ersten der kommenden Saison, zu eröffnen.

Es mochte so ungefähr zehn Uhr morgens sein; Mutter May war unter Assistenz des Dienstmädchens Karoline, die eben sechzehn Lenze zählte, beim Zubereiten des Mittagsessens in der Küche, der Herr Medizinalrat saß in seiner Stube vor dem Cylinderbureau und schrieb. Die Frau Herzogin wünschte in einigen Zimmern neue Oefen, da die alten nicht genügend mehr heizten, und Se. Hoheit, der Regierende, hatte die Eingabe des Kammerherrn von Ellenberg nicht beantwortet, wohl in der Meinung, daß die hohe Stiefmama die gewünschte Verbesserung aus eigenen Mitteln bestreiten könne. Die Herzogin-Mutter aber bestand auf ihrem verbrieften und besiegelten Recht, demzufolge der Regierende gehalten war, ihren Witwensitz in wohnlichem Zustand zu erhalten, und alterierte sich sichtlich über den Rabensohn so, daß der Leibarzt sich ins Mittel zu legen für gut fand und von der Gefährlichkeit sothaner Oefen, die Kohlenoxydgase ausströmen lassen und somit die Gesundheit der hohen Dame zu gefährden ernstlich imstande seien, eine blühende Schilderung entwarf. Wenn Se. Hoheit auch hierauf nicht zeichnete, so gab er sich vor dem ganzen Lande das Ansehen eines lieblosen Stiefsohns.

Im Wohnzimmer, der Arbeitsstube des Rats gegenüber und von dieser nur durch den Flur getrennt, verhallten eben die letzten Töne. Aenne May stand vom Piano auf und klappte etwas geräuschvoll den Deckel des Instruments zu, so daß Tante Emilie aus dem leisen Schlummer, in den die süßen Töne sie gewiegt hatten, entsetzt aus der Sofaecke empor fuhr und schrie:

„Gott im Himmel, was bist du für ein Mädchen – man meint ja, ’s ist ein Erdbeben!“

Aenne May lachte, und unter diesem Lachen, bei dem Anblick dieser Frühlingserscheinung, an der alles lachte, schwand die verdrießliche Miene der alten Dame und sie sagte: „Wo willst hin, Goldköpfchen? Du ziehst ja die Handschuhe an?“

„Zur Generalprobe aufs Schloß, Tantchen. Leb’ wohl, setz’ dich gemütlich in deine Ecke und schlafe weiter – kannst’s ja haben! Auf Wiedersehen!“ Sie machte einen Knicks nach Art kleiner Mädchen und entschwand den entzückten Augen der alten Dame, um gleich darauf über den Schloßplatz der schmiedeeisernen Pforte des herzoglichen Parkes zuzugehen.

Aenne May hatte eine schlanke, im schönsten Ebenmaß gebaute Gestalt, blondes Haar, duftig und lose, das aussah, als wäre es leicht mit Asche überstäubt; dazu den zartesten Teint und glänzende bräunliche Augen, die jedermann groß und offen anzuschauen pflegten, vertrauende Augen, denen man es anmerkte, daß sie in ihrem jungen Dasein noch nichts Häßliches erblickt, noch keine Thräne der Enttäuschung zu weinen gebraucht hatten. Manchmal war es, als spielten Goldfünkchen in ihnen, gleich den lustigen Gedanken, die hinter der Stirn sich jagten; und so war es meistens, es gab kein fröhlicheres Mädchen wie Aenne May, ihr Gekicher hörte man zu allen Zeiten und die Mutter schüttelte des öftern den Kopf, wenn sie eine Neckerei verübt hatte, und pflegte zu versichern: „Das Lachen wird dir schon noch vergehen.“

Jetzt aber war es noch nicht so weit, und das feine Näschen schnupperte noch beständig in der Luft umher, ob es nicht etwas zu lachen gab für den Mund, hinter dessen roten Lippen so gern die prächtigen Zähne hervorlugten.

Sie war mittlerweile bis an die Gartenpforte gekommen, ohne zu gewahren, daß vom Fenster der Oberförsterei ein paar Männeraugen ihr folgten. Aber sie mußten keine Macht über sie haben, diese Blicke; sie sah sich nicht um, sondern ging jetzt innerhalb des Parkes langsam einen Seitenpfad empor, der auf die sogenannte Südterrasse und von da in den Schloßhof führte. Oben blieb sie an dem steinernen Geländer stehen und schaute in die Ebene hinein, die im Scheine einer blassen Herbstsonne vor ihr lag, so weit, ach so weit! Dann spazierte sie, wie die Schulkinder thun, in dem welken raschelnden Laub mit möglichst wenig aufgehobenen Füßen weiter und um die große Fontäne herum, auf deren ruhigem Spiegel die gelben Blätter der Linden schwammen, die im Kreise um sie her standen.

Die heisere Uhr des alten Schloßkirchturmes schlug just halb, und bei diesem Klange blieb Aenne May stehen; sie hatte ja noch Zeit, eine halbe Stunde lang. Sie wandte sich und [3] raschelte wieder vorwärts in dem Laub bis zu einem Pavillon am westlichen Ende der Terrasse und lugte dort durch die Scheiben der Glasthür. Im selbigen Augenblick fuhr ihr Kopf aber so blitzschnell zurück, daß der dunkelblaue Filzhut vom Scheitel rutschte und sie, mit beiden Händen danach greifend, eine jähe Wendung zur schleunigsten Flucht machte. Die Thür des kleinen achteckigen Gebäudes wurde nämlich aufgerissen und ein junger Mann in farbenbekleckstem Leinwandrock trat oder stürzte vielmehr mit dem Rufe ihr entgegen:

„Das ist wirklich zu nett; Fräulein Aenne – nun müssen Sie aber auch gleich eine Kritik abgeben! Treten Sie ein und sagen Sie mir, wie die Kleckserei ausgefallen ist und ob die Herzogin und ihr Gefolge holder Damen es ansehen können, ohne von Krämpfen befallen zu werden!“

Sie hatte sich dem Redenden gleich zugewandt, aber sie lachte nicht, sie sah vielmehr ein bißchen blaß aus, folgte indessen ohne eine Spur von Widerstreben der Einladung und trat voran in den Raum, dessen Thür weit offen blieb und an dessen zwischen den Fenstern befindlichen Wänden eine gar nicht ungeübte Hand figurenreiche Fresken mittelalterlichen Stiles gemalt hatte.

„Da, Aenne,“ rief er mit komischem Stolz und zeigte auf das Mittelfeld, „das sind Sie! Machen Sie ein Kompliment vor sich!“

„Wirklich? Das soll ich sein?“

„Ja! Sehen Sie es denn nicht selbst? Da sind Ihre blonden Haare, Ihre braunen Spitzbubenaugen – –“ Er hielt inne und schaute sie an mit solchem ehrlichen Entzücken, daß sie verlegen von ihm weg zu dem Bilde hinüber sah.

„Und das sollte ich sein?“ sagte sie noch einmal forciert lustig, „aber keine Spur!“

„Lange nicht so reizend wie in natura, natürlich nicht!“ gab er zu, „aber –“

„Keine Spur!“ unterbrach sie ihn, „so geschmacklos hätte ich mich im ganzen Leben nicht angezogen – ein grünes Unterkleid, ein karmoisinrotes darüber, o, und ein blauer Saum und blauer Gürtel dazu! Pfui, Heinz, Sie haben keine Spur von Farbensinn!“

„Das bestreite ich! Uebrigens damals, Anno 1450, war es so Mode,“ verteidigte er sich.

„Und die dort daneben, die Hofdame mit dem Kränzlein im Haar, das ist – ja, das ist nun wirklich ähnlich. Heinz!“ jubelte sie jetzt, „die haben Sie mit Liebe gemalt, o ja, die Toni von Ribbeneck!“

„Mit was habe ich sie gemalt?“ fragte er lachend.

Aber sie antwortete nicht, sondern betrachtete königlich belustigt die Figur, diese Figur, die der Natur so köstlich abgelauscht war; das starke hochmütige Gesicht mit den blassen aufgeworfenen Lippen, die allzu breiten Schultern, die viereckige Taille und das dünne, zu einzelnen Strähnen aufgelöste Haar, auf dem das Blütenkränzlein saß. Die Guitarre im Arm schritt sie neben der Gräfin Breitenfels, der Ahnfrau der Herzogin, her.

„Es ist ein Jammer und ein Elend, Heinz, daß Sie nicht Maler geworden sind!“ rief das Mädchen endlich. „Satteln Sie um, machen Sie, daß Sie nach München oder sonst wohin kommen, und lassen Sie diese Ihre schöne Gabe nicht verkümmern!“

„Sie sehen ja, Aenne, daß ich ihn mächtig kultiviere, diesen Götterfunken!“

„Das sind doch nur Possen,“ antwortete sie und wies auf die Bilder. „Nun ’mal ganz im Ernst, Heinz, fühlen Sie sich denn wirklich glücklich in Ihrer gegenwärtigen Stellung?“

„Ja,“ sagte er fest, aber mit einem Schatten über dem hübschen Gesicht.

„Ja?“ fragte sie spöttisch. „Es muß ja allerdings ein erhebendes Gefühl sein, in Breitenfels ein zwanzig Mann starkes Corps zu befehligen, die Wachen vor den Thüren Ihrer Durchlaucht zu revidieren und mittags mit Helm und Schärpe der alten Excellenz zu melden, daß alles ruhig sei im Land und die Frau Herzogin ohne Gefahr ihr Mittagsschläfchen machen kann.“

„Er zieht nicht, Aenne, der Spott – das ist Dienst,“ erklärte er. „Ich bin mit Leib und Seele Soldat, wer daran je zweifelt, der – – ich möchte es keinem raten – – und sehen Sie, Aenne, dies Kommando finde ich obenein noch riesig nett!“ Und dabei setzte er sich auf den Tisch und sah ihr mit beredtem Blick in die Augen und lächelte.

Er war in seiner Art ein ebenso schönes Menschenexemplar wie Aenne May in ihrer, genau so frisch, so jung wie sie, leider auch ebenso arm, nur mitunter weniger zufrieden, was er aber nur sich selbst eingestand. Und das war ihm nicht übelzunehmen in Anbetracht seiner wirklich drückenden Familienverhältnisse.

„Haben Sie gut geschlafen, Spötterin, und ist Ihnen der Waldspaziergang gut bekommen?“ fragte er nach einer Pause.

Sie war glühend rot geworden. „Ja!“ flüsterte sie ausweichend. „Aber, bitte, sagen Sie mir, Heinz, wie spät es ist! Ich muß zur Probe punkt elf Uhr im roten Saale sein.“

„Noch viel Zeit, Fräulein Aenne, noch eine ganze Viertelstunde! Haben Sie die Gnade, nehmen Sie drüben Platz auf jenem Schemel und lassen Sie mir noch ein wenig Ihren Anblick – – behufs Verbesserung der mangelhaften Aehnlichkeit.“ Und während er zur Palette griff, sprach er immer zu ihr, ohne sie anzusehen. „Solchen Sonnenuntergang habe ich noch nicht erlebt wie gestern, Aenne, das war ja, als ob der ganze Wald in Feuer stände! Wenn man das malen wollte, es käme ein Gewirr von leuchtenden Farben auf die Leinwand, daß jedermann rufen würde: ‚Unmöglich! Ganz unmöglich! So was giebt’s nicht!‘ – Und wir da so mitten in dem Purpur auf der Lichtung – Sie hätten nur Ihr Gesichtel sehen sollen, Aenne, es war ja einfach reizend; und dann das Lied dazu, Sie wollten es erst gar nicht singen.“ Und er markierte die Melodie zu den Worten, während er den Takt mit dem Malstock schlug.

„O du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain;
Wie färbst du mit lodernder Rosenwonne
Das blasse Antlitz der Liebsten mein!

Diese Worte, die fanden sich wie von selber in meinem Kopf – für einen Lieutenant – das müssen Sie doch zugeben – gar nicht so übel, ja sogar famos! Und dann die Melodie – Ihre Lieblingsmelodie – ach – sehen Sie, Aenne, daß war so ein Lebensmoment, den man nie vergessen kann! Und wie dann die blaue Dämmerung kam und im Waldpfad dunkle Schatten auftauchten – Aenne, wissen Sie – – “ rief er entzückt.

„Ich weiß gar nichts mehr!“ unterbrach ihn das Mädchen, und als er sich, betroffen von ihrem Ton, umwandte, sah er, daß sie jäh errötet war und daß ihre Züge einen peinlich gespannten Ausdruck hatten. „Aber, Aenne, Sie sind mir böse? Mir, Ihrem alten Freunde?“ Und als sie schwieg, fuhr er fort: „Na, Aenne, wie lange kennen wir uns nun schon! Seit unserer Görenzeit, beinahe seit zehn Jahren, wo ich Schüler des Gymnasiums hier war. Ist es nicht genug, wenn wir uns feierlich ‚Sie‘ nennen, seit wir uns vor nun einem Vierteljahr als erwachsene Menschen wiedersahen? Gestern abend habe ich sogar – glaube ich – du – – Ach, Aenne, können Sie mir nicht verzeihen? Warum soll man denn – aber Aenne – was haben Sie nur?“

„Ich muß nun gehen,“ erklärte sie, sich langsam erhebend, blaß bis in die Lippen.

„Auf Wiedersehen denn, Aenne, heute abend; und daß Sie sich von keinem andern Menschen als von mir das Abendessen vom Büffett holen lassen – ich warne Sie! Und Aenne, geben Sie mir doch die Hand, seien Sie mir nicht böse, wegen gestern!“

Sie reichte ihm lächelnd die Rechte, aber dabei konnte sie es nicht hindern, daß ihr ein paar schwere Thränen aus den Augen fielen. Es war dies etwas so Ungewohntes, etwas, das so im Kontrast stand zu ihrem lachenden Mund, daß er sie wie ein Rätsel anstarrte, und als sie nun rasch aus der noch immer geöffneten Thür und unter den entlaubten Kastanien über die völlig einsame Terrasse schritt, da blieb er wie angewurzelt stehen und sah ihr nach, und noch lange, nachdem sie verschwunden war, stand er so. Dann strich er sich wie erwachend über die Stirn, betrachtete wie abwesend die Wandmalerei, die er wie weiland „Fludribus“ in Scheffels „Trompeter“ zu einem hohen Namenstage zu verbrechen im Begriff war, und setzte sich, ganz hingenommen von seinen Gedanken, auf den nämlichen Stuhl, von dem eben das junge Mädchen aufgestanden war.

Du lieber Himmel – Aenne May hatte geweint! Es war ihm, als seien mit diesen Thränen aus ihren Augen zugleich die Schuppen von seinen Augen gefallen; aber, wie konnte er denn auch denken – Aenne May und er! Er, der ärmste Lieutenant der gesamten deutschen Armee, den man höheren Ortes für ein halbes Jahr hierher kommandiert hatte, um ein wenig seinen [4] Finanzen aufzuhelfen, d. h. um ihn eine Zeit lang dem teuren Garnisonleben zu entrücken: hierher, wo er, sozusagen, umsonst lebte und die Kommandozulage obenein bekam. Auch hatte er freie Wohnung im Schlosse und Verpflegung dank dem Interesse der Frau Herzogin, bei welcher seine Tante Hofdame war. Und in eine solche Null, solch’ aussichtsloses Nichts, sollte sich ein schönes Mädchen verliebt haben so ohne weiteres? Eine, die jedenfalls nicht, selbst nicht in dieser kleinen Stadt, von Männeraugen unbemerkt geblieben war in ihrer jungen Schönheit!

Ach was, Heinz, das ist ja Unsinn! Höchstens hat sie dir den – – ja Donnerwetter, es war auch frech – den leisen Kuß auf die schönen blonden Haare übelgenommen bei dem gestrigen Spaziergang. – Aber eigentlich war die Sache so natürlich und eigentlich hat sie es kaum merken können. – Warum auch ging sie so weit von ihm ab, an der Grenze des Weges? Warum blieb sie mit ihren Flechten an einem Ast hängen, so daß er sie befreien mußte, wobei dann diese Unthat vorfiel? Er erinnerte sich, daß sie nachher gestern abend kein Wort mehr zu ihm gesprochen hatte, daß er nicht wie sonst vor der Hausthür ihrer väterlichen Wohnung aufgefordert wurde: „Kommen Sie mit hinein, Heinz.“ – – Und nun heute? Freilich konnte sie nicht wissen, daß er um diese Zeit hier malen würde; sie hatte nur sehen wollen, wie weit er mit den Bildern sei, zu denen er da unten in der Wohnstube ihrer Eltern eine Skizze von ihr gemacht hatte. – Dann war sie doch hereingekommen auf seine Bitte, aber erst, nachdem sie versucht hatte, fortzulaufen. – –

Ja freilich, sie war anders gewesen heute. – „Ach Himmel, und das – das wäre ja zum Schreien!“ sagte er laut. „Sie sollte es nur wissen, das liebe Tierchen, was ich in meinem Leben schon alles geliebt, begehrt und erstrebt habe, um es dann aufgeben zu müssen, so daß ich allmählich eine Art Fertigkeit im Entsagen gewonnen habe. Zuerst die Schule, als Vater gestorben war und es hieß: Kadettencorps – durch Gnade des Herzogs – Schulgeld nicht mehr zu erzwingen – –! Dann mein Malergelüste, diese brotlose Kunst, wie Mutter jammerte, als ich sie fast kniefällig bat, mich in München studieren zu lassen! Ich wollte nichts von ihr als die fünfhundert Thaler, das fürstliche Erbe Onkel Davids. – Dann die Kriegsakademie – aber wovon sollte ich leben in Berlin während dieses Kommandos?

Ach, Aenne May, du kennst die Welt nicht, du weißt nicht, wie jammervoll sie ist für einen blutarmen Lieutenant! Aber es soll mir eine Warnung sein, ich bin kein schlechter Kerl, ich will deinen Frieden nicht trüben, will dich nicht unglücklich machen! Heute abend spiele ich den liebenswürdigen Schwerenöter gegen alle Welt, du wirst dich wundern, Aenne May! Ich will schon sorgen, daß du die Achseln zuckst und wieder lachst in ein paar Tagen und sagst: ‚Dummer Junge, der Heinz!‘ – Weinen darfst du nicht über mich, das soll nicht sein! Nein – ein Schuft bin ich nicht – –“ Er fuhr unter diesen Selbstvorwürfen und Gelöbnissen aus seinem Malerkostüm in die Uniform, wusch die Hände, stülpte den Helm auf und schlug den nämlichen Weg ein wie Aenne, d. h. er ging nach dem inneren Schloßhof, ließ die Hälfte seiner bewaffneten Macht, zehn Mann stark, antreten vor der Hauptwache, gab Parole aus und meldete sich dann zum Rapport bei Sr. Excellenz dem Kammerherrn. Als er über den teppichbelegten Korridor schritt nach dem Empfangszimmer, klang Aennes Stimme aus der nur angelehnten Flügelthür des Musiksaales:

„O du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain;
Wie färbst du mit lodernder Rosenwonne
Das blasse Antlitz der Liebsten mein!

Halt ein! Entzieh’ deine segnenden Gluten
Der heilig erschauernden Welt nicht gleich!
Vergebens – sie sinkt in die schimmernden Fluten ...
O Sonne, o Liebe, wie kalt ohne euch!“

Ein lebhafter Applaus folgte. Heinz blieb stehen. Ein glückliches Lächeln ging über seine Züge. Er machte einen Schritt nach dem Musiksaale zu. Dann aber raffte er sich zusammen. „Unsinn, Heinz! Ruhig Blut!“ murmelte er vor sich hin und setzte seinen Weg fort.

[21] Aenne kam just zum Mittagsbrot wieder zu Hause an. Der Vater stand bereits, die Hände auf dem Rücken, am Kachelofen der sogenannten Eßstube, die, nach dem Garten hinaus gelegen, im Sommer von grünlichem, geheimnisvollem Lichte erfüllt war, welches die beiden alten Birnbäume draußen vor den Fenstern verursachten, im Winter jedoch licht und freundlich von den Strahlen der Mittagssonne erhellt wurde. In der Mitte des mäßig großen Raumes stand der Klapptisch aus Birkenholz, mit Wachstuch überzogen, jetzt von einem blendend weißen Drelltuch bedeckt, die Ecke hinter dem Ofen war von dem Sofa eingenommen, dessen Lederbezug schon Brüche und Risse aufwies - es hatte noch immer nicht zu einem neuen gelangt – davor ein kleiner Tisch. Den gegenüberliegenden Winkel füllte der das Buffett vertretende Eckschrank, in welchem das Speisegeschirr, die Tassen, Zucker und Theekekse sowie ein Magenbitter aufbewahrt wurden, und an der Wand zwischen den Fenstern stand die Kommode mit einem Spiegelchen darüber. Alles aus Birkenholz, nur die Nähmaschine am Fenster rechts war echtes Mahagoni und erzählte in ihrer leuchtenden Politur, daß sie eine Ehrenstellung einnehme im Hause.

Heute herrschte neben dem Geruch von Weißkraut und Hammelfleisch noch ein starker Bügeldunst, die Frau Rätin hatte eigenhändig das helle Batistkleid ihres Töchterleins zur abendlichen Toilette geplättet. Daß auch noch ein wenig Benzingeruch von gewaschenen Handschuhen sich hineinmischte – Tante Emilie hatte dies Geschäft besorgt, und zwar ebenfalls in der Eßstube, die in ihrer isolierten Lage nach hinten hinaus sich vorzüglich für solche Arbeiten eignete – machte die Atmosphäre noch ein wenig pikanter.

Aenne riß also gleich das Fenster auf und bekam dafür von allen Seiten Vorwürfe. Der Papa deckte schleunigst sein rotes Schnupftuch über den glänzenden kahlen Scheitel, Tante Emilie schrie nach einem Shawl und die vom Kochen und Plätten echauffierte Hausfrau rief. „Wirst du wohl das Fenster zumachen, Aenne! Denkst du, daß es mir egal ist, ob ich meine Kopfkolik heute abend bekomme, oder nicht.“

Gehorsam schloß das junge Mädchen das Fenster, trat an den Tisch, wo die andern bereits hinter ihren Stühlen standen, und sprach das Tischgebet. Dann aß sie mit dem besten Appetit der Welt, hatte für alle ein freundliches Wort, lachte, neckte ihre Tante, erzählte, daß dieselbe beim gestrigen Spaziergange gestreikt und sie mit Heinz von Kerkow nahe am Ziele, am Borkenhüttchen verlassen habe, angeblich weil sie einen Krampf im Fuß bekommen könnte, wenn [22] sie nicht schleunigst umwende und sich beeile, den Stiefel auszuziehen. Von dem Sonnenuntergang, von dem Heimweg auf dunklen Waldpfaden sprach Aenne freilich kein Wort, nur in ihren leuchtenden Augen stand sie, die Geschichte ihrer jungen Liebe, aber diese Schrift konnte keines von den dreien lesen.

Sie sprudelte über vor lauter innerer Glückseligkeit; es war ja auch zu wundervoll, daß sie ihn heute früh schon gesehen hatte! Und nun heute abend – wie wollte sie das Lied singen, das Lied von der Abendsonne! Sie wußte, wie alles kommen würde: in irgend einem Fenstereckchen des großen Saales würden sie sitzen, nachdem er ein wenig kaltes Fleisch und Salat und ein paar Gläser Champagner vom Büfett geholt, so allein, so einsam zu zweien, wie drüben im Walde, der Heinz Kerkow und sie, der Heinz Kerkow, der wilde prächtige lustige Heinz, den sie liebgewonnen, so über alles lieb!

Aenne May fiel es vorläufig gar nicht ein, weiter zu denken; sie war sich gestern ihrer Liebe bewußt geworden, und die war aufgeblüht wie eine Rose mit hundert Blättern. Wie es weiter kommen würde, das kümmerte sie nicht, sie sog das Glück der Gegenwart in vollen Zügen ein.

Beim Ankleiden zur Soiree auf dem Schloß trieb sie tausend Possen. Natürlich ging dieser feierliche Akt wieder in der Eßstube vor sich, Mama frisierte ihr schönes Töchterlein vor dem Spiegel, der über der Kommode hing; von der Petroleumlampe war die Glocke genommen, damit sie heller leuchte, und Tante Emilie, die als Landfremde nicht hoffähig war, half wie eine perfekte Kammerjunger. Ueberall lagen Sachen umher, das unsterbliche schwarze Seidendamastkleid der Rätin baumelte am Thürpfosten und der etwas verflüchtigte Geruch des Mittags war noch mit dem Duft von Kölnischem Wasser und Mandelseife versetzt.

„Nee – reizend!“ erklärte Tante, als Aenne fertig dastand. „Wenn du 'mal eine Excellenz bekommst, trautstes Herzchen, werde ich mich nicht wundern.“

„Was soll ich mit einer Excellenz, Tante,“ antwortete das Mädchen und knöpfte die gewaschenen Handschuhe zu, „ich will keinen Alten.“

Die Rätin lächelte. Sie war auch wirklich reizend, die Aenne, und wenn sie ebenso vernünftig wäre wie hübsch, könnte sie bald versorgt sein! Der Oberförster nebenan bemühte sich auffällig um sie, ein guter stattlicher Mann. Aber Aenne that ja, als sei sie in diesem Punkte taub und blind.

„Höre, Engelsköpfchen, wird heute getanzt?“ erkundigte sich Tante Emilie.

„Hoffentlich, Tante!“

„Na, da wird wohl der Kerkow Matador sein?“

„Er wird ja vermutlich Sorge tragen, daß ich nicht ganz sitzen bleibe.“

„Wenn er's nur könnte, er tanzte den ganzen Abend mit dir, wie Hans mit Grete,“ nickte die Tante.

„Ich denke, der Kerkow wird genug zu thun haben mit den fünf Asselbach’schen Komtessen, der Toni Ribbeneck und den andern vom hohen Adel; bezweifle, daß er sich viel um Aenne kümmern kann,“ meinte die Mutter und bohrte eine Granatnadel in das Blondenhäubchen auf ihrem Scheitel.

Aenne warf ihrer Mutter einen mitleidig drolligen Blick zu. „Meinst du, Mama. O weh! – Da setze dich nur nicht in den Tanzsaal, ich fürchte, ich werde furchtbar schimmeln.“ Dabei aber strahlte ihr Gesichtchen von Siegesgewißheit.

Die ahnten ja samt und sonders nichts von alle dem Herrlichen, was sie wußte!




„Ich bleibe heute nacht auf, ich muß doch erst hören, wie ihr euch amüsiert habt,“ erklärte Tante Emilie beim Abschied, „ich stell' mir Thee in die Röhre und leg' Patience.“ Und so that die alte Dame, zuweilen auch trat sie ans Fenster und schaute zum Schlosse empor, in dem die langen Fensterreihen des Mittelstockes rötlich in den Oktoberabend hinausleuchteten. Die alte seelensgute Frau, die das Kind ihres Bruders abgöttisch liebte, malte sich aus, wie Aenne an den Flügel treten und singen würde, wie sie, zur Herzogin beschieden, der hohen Frau die Hand küßte und wie sie dann mit dem Kerkow im Walzer dahin flog. Sie hatte es gemerkt, längst gemerkt, daß sich die beiden mächtig anzogen, und deshalb hatte sie Mitleid gespürt und die jungen Leute gestern allein gelassen, mitten im Walde, natürlich in der Meinung, daß sie als Brautleute nach Hause kommen würden.

Das war nun nicht geschehen, die Jugend war eben anders heute, gar nicht mehr so ideal, so stürmisch. Von dem Kerkow hatte sie anderes erwartet. Hätte jemand ihr gesagt. Tante Emilie, die Jugend ist noch ebenso, ebenso stürmisch, so heiß, so begeistert, nur die Welt, die Verhältnisse sind anders geworden, sie hätte es nicht geglaubt. – Aber diesen Jemand gab es nicht. Tante Emilie hatte eben in den denkbar zurückgezogensten Verhältnissen gelebt und war drauf und dran, sich in der naivsten Weise der Welt bei Aenne und Kerkow den Kuppelpelz zu verdienen.

Sie legte sich alle möglichen Patiencen – wird er sich heute abend erklären? Keine ging auf. Sie fieberte vor Ungeduld, Aenne wiederzusehen, sie würde es ihr auf den ersten Blick anmerken, ob das große Ereignis eingetreten sei, wie sie es gestern abend gemerkt, daß sich das junge Paar um einen großen Schritt näher gekommen sein müsse, denn die Aenne war ins Zimmer getreten, so eigen, so rosig, so, als sei noch was an ihr hängen geblieben von der Glut der Abendsonne. Es war kein Zweifel, heute mußte sich etwas ereignen!

Die Stunde bis zwölf Uhr, wo die Schloßfeste, dem hohen Alter der Herzogin zulieb, ihren Schluß fanden, verging, Tante Emilie, die ein klein wenig eingenickt war in der Sofaecke, hörte die Hausthür aufschließen wischte den Schlaf aus den Augenn und sah den Eintretenden entgegen, ihre Blicke suchten natürlich Aenne. Ein blasses müdes Antlitz blickte an ihr vorüber.

„Engelchen, bist du krank?“ rief sie.

„Nein, nur müde,“ war die tonlose Antwort. Dann ein flüchtiges Kopfnicken zur Tante hinüber, ein ebenso tonloses „Gute Nacht!“ und sie war verschwunden.

„Was ist's denn mit der Aenne?“ fragte die Erschreckte die Eltern.

„Sie hat sich vielleicht beim Singen zu sehr angegriffen,“ meinte der Herr Rat und gähnte.

„Gott bewahre! Als ob sie das spürte! Nein sie hat vielleicht zu viel getanzt!“

„Ach, du liebe Zeit,“ sagte die kleine dicke Rätin, „einmal mit Günther, dem Oberförster, die Polonaise, und eine Extratour mit Kerkow, sonst habe ich sie nicht gesehen. Es wimmelte so von Damen, und die paar Herren hatten genug zu thun, die Komtessen herum zu schwenken, die vollzählig angelangt waren.“

„Aber Kerkow konnte doch –“ ereiferte sich die Tante, „der konnte doch öfter mit ihr tanzen, wo er jede Woche ein paarmal hier an unserm Tische sitzt!“

„Ei, der hatte genug mit der Ribbeneck zu thun,“ lachte gutmütig die Frau Rätin, der es endlich gelungen war, sich aus ihren Mänteln und Tüchern herauszuschälen, und die jetzt ihrem Gatten half. „Aber nun wollen wir schlafen, gelt, May. Wer weiß, ob die Herzogin dich nicht noch herausklingeln läßt! Daß du nicht vergißt, die fünfundsiebzig Pfennige, die du im Whist gewonnen hast, in die Sparbüchse zu thun – Aenne braucht notwendig um Weihnacht ein neues Gesellschaftskleid.“

Der Rat nickte. Ihm war von dem langen Stehen an der Saalwand während des Konzertes, des Singsangs und Klaviergetrommels, wie er es nannte, schon ganz elend geworden. Die Hummermayonnaise sowie die Kaviarsemmeln des Büffetts hatten auch nicht gewartet, bis an ihn die Reihe kam, er hatte mit ein wenig kaltem Rehbraten und Heringssalat vorlieb nehmen müssen. Letzterer aber war nicht nach seinem Geschmack gewesen, den konnte nur Eine genießbar zubereiten und das war seine Frau. Dann, wie ärgerlich, das Whist mit dem Oberamtmann, dem Hofprediger und dem Oberförster! Die Herren wollten partout den Point zu einem Groschen spielen, er setzte es aber durch, daß er nur einen Pfennig galt. Er verlor sonst immer, und nun heute gewann er! Das hätte sieben Mark und fünfzig Pfennig betragen – na, es war nicht mehr zu ändern!

Mit einem halb gähnenden „Gute Nacht“ zur Schwester zog er ab in Begleitung seiner Frau. Tante Emilie blieb zurück, packte die Karten zusammen, schloß die Läden und schlich auf ihren Filzpantoffeln nach oben in ihr Stübchen, das im Giebel neben dem Aennes lag, nur durch eine kleine Tapetenthür getrennt, die aber auf Aennes Seite mit einem Kleiderschrank versetzt [23] war. Die alte Frau tastete sich hinüber zu diesem Thürchen und horchte, es war ihr auch, als hörte sie das Mädchen gehen. Sie rief also: „Engelchen, Goldköpfchen, bist du noch wach? Kann ich noch 'mal zu dir kommen?“

Keine Antwort.

Seufzend kleidete sie sich aus und suchte ihr Bett auf. Was konnte es nur sein? Sollte sie sich zu Herzen genommen haben, daß der Kerkow nur einmal mit ihr getanzt hatte? „Lieber Gott, na ja, man ist so thöricht, wenn man jung und verliebt ist. Na, das ist wie Regenschauer im April – sie wird wohl schlafen, das Kind, und morgen ist’s wieder anders mit ihm!“

Es mochte gegen drei Uhr sein, da erwachte die alte Frau. Es war ihr, als habe jemand gerufen, und als sie sich aufrichtete vom Lager, da hörte sie ein ganz unvernünftiges wildes Schluchzen, das kam von jenseit der Wand, wo Aennes Bett stand.

„Aenne!“ rief sie und pochte mit den geballten Händen gegen die Wand, „Goldherzchen, Kind, was fehlt dir?“

Da ward es still, und wieder keine Antwort. Das war kein Aprilregen, das war der Sturm, der Blumen vernichtet und Bäume entwurzelt, das war die Todesstunde von Aenne Mays junger Liebe. – – –

Und drüben im dritten Stockwerk des Schlosses ging nach Schluß der Soiree Heinz von Kerkow in seinen beiden Zimmern auf und ab. Weinen thut kein Mann um so etwas, aber weh war es ihm doch ums Herz, bitter weh! Er konnte das bleiche Gesicht, die starren fragenden Augen nicht vergessen, mit denen sie ihn angeschaut ob seines unbegreiflichen Wesens. Während sie sang, hatte er sich in einem Nebenzimmer aufhalten wollen, aber wie von Ketten gehalten war er geblieben. Und wie hatte sie gesungen!

     „O, du purpurner Glanz der sinkenden Sonne –“

Diese Sehnsucht in der Stimme, diese Freude auf dem reizenden Gesicht! Sie hatte ihn nicht angesehen dabei, keine Spur von Koketterie war in diesem Mädchen, aber er wußte ja, daß jedes Wort ihm galt. Und wie lieb sah sie aus in dem weißen Kleide, wie sicher und anmutig war ihr Auftreten, die tiefe Verneigung vor der Herzogin! Die ganze andere Bande, wie er sich respektlos ausdrückte, war nichts gegen sie, trotz Grafen und Freiherrenkronen. Wie das Souper begann, wie sie lächelnd dastand, um ihn zu erwarten, laut ihrem Versprechen von heute morgen, wie er dann zu ihr kam mit dem Imbiß und seine Rolle zu spielen begann, formell, verstimmt, wie er von der Hitze im Saale erzählte und daß er froh sei, wenn die Sache vorüber wäre, daß er überhaupt das Leben hier satt habe und alles daran setzen wolle, um ein Kommando nach Berlin zu bekommen, etwa an die Centralturnanstalt, denn es sei ja in diesem Wurstnest einfach zum Rasen langweilig, da hatte sie ihn angestarrt, als fürchtete sie, er sei wahnsinnig geworden.

„Sagen Sie doch selbst, Fräulein May“ –Fräulein May hatte er sie genannt - „ob es nicht wahr ist! Na ja, die Gegend – die Gegend ist ganz nett, aber diese ewige Natursimpelei! Und dann die schrecklich spießbürgerlichen Verhältnisse überall! Im übrigen fühle er, daß er sie ermüde mit seiner Unterhaltung, auch müsse er sich einmal um die Ribbeneck bekümmern und um seine Tante.

Damit hatte er sie verlassen, wobei er verstand, sie nicht anzusehen, und hatte sich mit krampfhafter Ausdauer der Toni Ribbeneck gewidmet. Aber einmal sah er doch zu ihr hinüber, es war, als zöge etwas seine Blicke dahin. Sie saß auf einem der mit rotem Seidendamast bezogenen Stühle im Empirestil, an der weißen mit Goldornamenten geschmückten Wand des kleinen Tanzsaales, und da wollte sich ihm beinahe das Herz umdrehen. Das Gesicht weiß wie die Wand, die Augen verständnislos, groß und flehend zu ihm hinüber gerichtet, um den Mund ein Zucken wie von verhaltenem Weinen – – das würde er nie wieder vergessen, nie! So ähnlich war ihm zu Mute gewesen, als er sein erstes Reh erlegte. Er hatte das Tier nur krank geschossen und fand es nicht weit von der Schußstelle im Verenden, das hatte ihn angesehen mit dem nämlichen Blick wie Aenne. Scheußlich, scheußlich kam er sich vor – lieber Himmel, wenn man nur einen Ausweg wüßte! Aber wie denn, wo denn – Nein – lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende – er durfte sich ihr nicht nähern!

Aber alle diese gewaltsamen Versuche, sich Vernunft einzureden, vermochten es doch nicht zu hindern, daß er in Träumereien sich verlor, in süße und hoffnungsreiche Träume, wie die nie zu entmutigende Jugend sie träumt. Ach, vielleicht – vielleicht ginge es doch noch, wenn sie warteten. Vielleicht gewinnt er das große Los – vielleicht findet sich ein Erbonkel – vielleicht – –. Heute früh hatte er es noch nicht so klar, so deutlich gefühlt wie jetzt, wo er der Unmöglichkeit ihres Besitzes gegenüberstand, wie sehr, wie tief er sie liebte!

Aenne! Aenne, ich kann dich nicht lassen! klang es in ihm, ich will dich nicht lassen!

Er fuhr empor aus seinem Brüten, draußen hatte es geklopft. Auf sein „Herein!“ trat einer der herzoglichen Lakaien ins Zimmer und bestellte eine Empfehlung von Frau von Gruber, und wenn der Herr Lieutenant noch nicht zu müde wäre, würde sie sich freuen, ihn heute abend noch sprechen zu können.

Er warf einen verwunderten Blick auf die Uhr – es war ein Viertel vor Eins. Dann sagte er, er werde kommen, knöpfte die aufgerissene Uniform wieder zu und stieg die Treppe zum zweiten Stock hinunter, wo, just unter seinen Zimmern, die Appartements der Hofdamen lagen.

Frau von Gruber, eine Cousine seines Vaters, war bereits im bequemen Hauskleide, eine alte Dame von sechzig Jahren, die ein wenig vornübergebeugt ging und für gewöhnlich einen ziemlich hochmütigen Ausdruck zur Schau trug, der aber in Anbetracht ihrer Stellung als Oberhofmeisterin Ihrer Durchlaucht wahrscheinlich notwendig war. Sie mußte ehemals sehr schön gewesen sein, hatte noch heute eine kerzenschlanke Gestalt, ein feines Gesicht, von grauen Haaren umrahmt, die zu dem frischen Teint gut kleideten, der etwas künstlich aufgebessert schien. Sie hatte eine stürmische Ehe hinter sich, ihr Mann war der unverbesserlichste Spieler gewesen. Von seinem großen Vermögen, von den prachtvollen Besitzungen ihres Gatten – er übernahm drei Rittergüter beim Tode seines Vaters – war nichts geblieben. Als der Krach kam, war sie einige vierzig Jahre alt und noch sehr schön, und nach dem Tode ihres Gatten, der plötzlich nach dem Zusammenbruch erfolgte – er starb in Monaco – trat sie die Stelle der Oberhofmeisterin bei der verwitweten Herzogin an, der sie nun seit zwanzig Jahren treu und tadellos vorstand. Kinder besaß sie nicht, interessierte sich aber aufrichtig für diejenigen, die in ihrer Verwandtschaft emporwuchsen und nicht eben das kleinste Interesse hegte sie für Heinz von Kerkow. Am liebsten stiftete sie, die doch so unglücklich in ihrer eigenen Ehe gewesen, Heiraten, und auf Heinz hatte sie es in dieser Beziehung schon lange abgesehen. Bis jetzt freilich waren ihm noch keinerlei derartige Bestrebungen von ihrer Seite aufgefallen, sie bekümmerte sich bisher nur insofern um ihn, als sie es gern sah, wenn er zuweilen in ihren dienstfreien Stunden zu ihr kam und etwas mit ihr „klatschte“. Er war dabei unendlich drollig, ging mit Feuereifer auf jedes angeregte Thema ein und band seiner verehrten Tante Christiane unglaubliche Dinge auf mit dem ehrlichsten Gesicht von der Welt. Zuweilen, wenn die Rede auf seine Mutter und die beiden verblühenden Schwestern kam, auf die ganze trostlose Misere seiner Lage, wurde er elegisch, und das war jedesmal der Zeitpunkt, wo sie sagte: „Junge, du mußt eine gute Partie zu machen suchen, weiter kann ich dir keinen Rat geben! Wenn ich nur eine wüßte, die reich und gut genug für dich wäre, aber heutzutage sterben die Erbinnen aus.

„Ich muß unter die Semiten gehen, Tante,“ antwortete er dann regelmäßig, „und ich bin überzeugt, du wirst, wenn sie einmal meine Frau ist, das ‚Veilchen‘ oder ‚Rebbeckchen‘ liebgewinnen.“

„Rede nicht so gottlos, Heinz! Das wäre das letzte!“

„Ach, teuerste Tante, in der Not frißt der Lieutenant – Fliegen.“

Heute abend, als sie ihn mit einem Scherze empfing, vermochte er nicht darauf einzugehen, merkte auch nicht, daß das Lächeln auf ihren Lippen nicht ganz ungezwungen war. Er küßte zwar aufmerksam die noch immer hübsche Hand, machte es sich in einem Fauteuil des ungemein herrlich ausstatteten Zimmers bequem und nahm ein Glas Schlummerpunsch aus ihren Händen entgegen, aber er blieb stumm.

„Was stimmt dich denn so schweigsam, Heinz,“ erkundigte sie sich, ihn etwas unruhig beobachtend.

[26] „Ach Gott, na, man ist eben 'mal einen Tag nicht so wie den andern,“ lautete die nicht sehr zuvorkommende Antwort.

„Aber du warst so strahlend lustig beim Tanz vorhin, Toni Ribbeneck sagte noch – –“

Er machte ein Gesicht, als ob er sich vor einer mißliebigen Speise ekelte. „Was will sie denn von mir?“ erkundigte er sich mit einem Ausdruck als wollte er sagen „Sie soll mich doch um Gottes willen zufrieden lassen!“

„Gott behüte! Sie will gar nichts, sie freute sich nur, daß wir für unseren langweiligen Winter an dir einen so netten Kavalier gewonnen haben. Du weißt ja, Heinz, daß wir daran keinen Ueberfluß besitzen.“

„So. Na, Tantchen, nimm's schon nicht übel, ich habe ganz und gar keinen Mumm, den Winter über hier in eurem verwunschenen Schloß zu versauern.“

„Aber Heinz!“ Tante Gruber entfiel der Löffel, mit dem sie ihren gar nicht schwachen Punsch rührte.

„Nun ja, ich will versuchen, daß ich fortkomme, Tante – es gefällt mir nicht mehr hier.“

„Du bist ja ein ganz undankbarer Mensch, oder läßt du dich durch die Geschichte so furchtbar herunterdrücken, daß – –“

„Herunterdrücken? Welche Geschichte meinst du?“ fuhr er auf.

„Na – deine Mutter, meine ich, und das mit Ottilie. Hab’ doch Vertrauen zu mir, Heinz, ich weiß es ja natürlich schon.“

Er sah sie verständnislos an.

„Solltest du wirklich noch nichts wissen?“ fragte sie erschreckt. „Das thut mir leid, armes Kerlchen. Morgen früh wirst du den Brief wohl bekommen, oder – er liegt auf deinem Schreibtisch und du hast ihn übersehen. Ich dachte, deine finstere Laune komme daher; Gott, wie ungeschickt von mir!“

„Ich muß dich schon bitten, liebe Tante, nach diesen Aeußerungen, die mich begreiflicherweise in Besorgnis versetzt haben, weiter zu berichten und mich nicht bis morgen früh, wie einen aufgespießten Schmetterling, weiter zappeln zu lassen.“

„Ich will’s dir mitteilen, natürlich, Heinz, aber die Nachtruhe wird's dir nicht bessern.“

„Auch eine Logik!“ brummte er.

„Sei nicht so schrecklich unangenehm, Heinz! Also, nun du es hören willst – Ottilie ist krank aus ihrer Stellung zurückgekehrt!“

Er atmete auf – es war da noch etwas, das sich wenden konnte; er hatte Schlimmeres gedacht. „Was fehlt ihr denn?“ fragte er, „weißt du es?“

Sie schüttelte den Kopf, aber ihre sonst so kalten Augen hatten sich mit Thränen gefüllt.

„Also etwas Ernstliches, Tante. Nur zu, sag's doch! Typhus? – oder – oder Herrgott, spanne mich doch nicht auf die Folter, Tante!“

„Man mußte sie in eine Anstalt – in eine – weißt du, Heinz, – ihre Nerven – eine, ja in das –“

„Irrenhaus,“ ergänzte er dumpf. Er saß plötzlich da wie gebrochen.

Die alte Dame schwieg. Sie hielt ihre Hände im Schoß gefaltet und schluckte an emporquellenden Thränen. Der Junge that ihr so leid, so furchtbar leid!

„Und Mutter“ fuhr er endlich auf. „Mein Gott, wie wird sie den Schlag überstehen – und was wird das kosten! Was soll überhaupt –“

Sie nickte. „Ja, das ist's eben!“ Dann erhob sie sich, schritt zum Glockenzug und befahl dem eintretenden Lakaien, die für den Herrn Lieutenant eingegangenen Postsachen aus seinem Zimmer herunter zu holen. „Da du es nun doch schon weißt, und ich begierig bin, Näheres zu erfahren“ setzte sie hinzu.

Nach ein paar Minuten hielt er den Brief in der Hand. „Von Mutter“ murmelte er, „ach nein, von Hede,“ verbesserte er sich. Er drehte das Schreiben hin und her und schob es dann ungelesen in den Aermelaufschlag seiner Uniform und saß noch ein Weilchen, mit fest zusammengekniffenen Lippen ins Leere starrend. Endlich stand er auf. „Das ist schon ein großes Unglück, wenn es reiche Leute trifft, Tante, aber hier hier – Ottilie hat Mutter immer unterstützt. Ich weiß nicht, wie es werden soll – – armes Mädel! Arme Mama!“

„Wir Kerkows haben alle kein Glück, mein Junge – wenn man so denkt, wie es manchem in den Schoß fällt! Ich muß immer Toni Ribbeneck ansehen und mich dabei fragen, wie der eigentlich jetzt zu Mute sein mag, nachdem sie vorgestern die Nachricht bekam, daß ihr Onkel gestorben und sie nun Herrin eines netten Vermögens geworden ist – so jung noch, höchstens siebenundzwanzig Jahre. Es giebt ein so sicheres Gefühl in der Welt, weißt du,“ fuhr sie fort, „natürlich! Findest du nicht, Heinz, daß sie jetzt eine sehr distinguierte Sicherheit zur Schau trägt, diese kleine Person? Woran denkst du, Heinz,“ fragte sie ungeduldig den vor ihr Stehenden, und als er wie aus schweren Gedanken auffuhr, sagte sie, „ich sprach von Toni Ribbeneck.“

„So – ja – was sagtest du doch – daß sie geerbt habe – Kann froh sein, ohne Geld geht's eben nicht. Gute Nacht, Tante, den Brief lese ich oben, ich kann ja augenblicklich doch nichts thun. Habe Dank für deine Teilnahme!“

In seinem Zimmer droben warf er sich auf's Sofa und stöhnte auf wie unter körperlichen Schmerzen. Vor seinen Augen stand so deutlich das Bild seiner Angehörigen weit von hier in der kleinen märkischen Stadt; die Wohnung in der öden Gasse, bestehend aus drei Stuben, Küche und Vordiele im einstöckigen Hause des Krämers Busch, dessen Laden die Zimmer ausgiebig mit den Gerüchen des Materialgeschäftes versorgte. Die Wände des Fachwerkbaues etwas schief, die Tapeten billigster Sorte, alt, rissig und geschmacklos, und darin die erblindeten Mahagonimöbel. Im Salon ein verschossener großblumiger Teppich, im Wohnzimmer der Maltisch seiner jüngsten Schwester, die Luft erfüllt von dem Duft des Terpentins, dessen sie zur Porzellanmalerei bedurfte, am andern Fenster der Lehnstuhl der Mutter vor dem Nähtisch, auf dem bunte Wolle liegt und eine angefangene Arbeit, denn wie Hede für Geld malt, so stickt die Mutter für Geld.

Lieber Gott, wie mochte es da aussehen seufzte er. Was mochte geschehen sein? Ottilie, die blasse, stille, vernünftige Schwester. die für jeden einen guten Rat gehabt, für jeden von ihnen Hilfe und Trost, Ottilie wahnsinnig!

Er nahm den Brief, öffnete ihn und rückte die Lampe näher. Es war Hede, die schrieb, ganz zitterig die Hand und Thränenspuren auf dem Papier.

     „Lieber Heinz!

Uns hat Schweres betroffen! Wenn Du diesen Brief erhältst, weißt Du es schon, denn ich bat Doktor Allers, es Tante mitzuteilen, damit sie Dich vorbereite auf das Traurige. Die Details sind so schrecklich, Heinz, ich kann Dir nicht beschreiben, wie Ottilie aussah, als sie unser Zimmer vor vier Tagen betrat, so unerwartet, so unkennbar. Ihre Briefe waren bisher ganz vernünftig gewesen, es fiel uns zwar auf, daß sie stets darin von einem großen Glück erzählte, das sie erwarte. Wir fragten aber nicht, was es sei, gaben uns vielmehr der Hoffnung hin, daß sie sich vielleicht verloben würde. Sie hatte vor zwei Jahren einmal die Andeutung gemacht, als interessiere sich der Bruder der Frau Hennigs, bei der sie bis jetzt Gesellschafterin war, für sie, derselbe ist Bankier in Berlin und soll sehr reich sein. Es wäre ja ein großes Glück für uns gewesen.

Nun, denke Dir unsern Schrecken, tritt sie am Dienstag plötzlich ins Zimmer, wo wir sie doch in Berlin glaubten, in einem ganz unmöglichen Rembrandthut, blaß wie der Tod, mit flackernden Augen und sagt, als ob wir sie erst gestern gesehen hätten ihr Bräutigam käme gleich nach, um sich das Jawort der Mutter zu holen, und in acht Tagen sei die Hochzeit, wir sollten ein Souper besorgen und den Champagner nicht vergessen. Dann wirft sie den Hut auf den Tisch, geht zu Mutters Servante und holt Tassen und Teller heraus, und wie Mutter, zitternd vor Entsetzen, ihr wehren will, wird sie wütend und zertrümmert die Scheiben des Schrankes, wirft alles vom Tisch und tobt, daß wir unsere Wirtsleute zu Hilfe rufen müssen – der Mann hielt sie fest, bis Doktor Allers kam; der eine Wärterin holen ließ und – – –

Ach, Heinz, wie grauenhaft! – Vor zwei Stunden ist sie nach Halle übergeführt. Man redete ihr vor, sie solle nach Berlin reisen, wo ihr Bräutigam sie erwarte. Sie ging willig mit, sie sagte uns zärtlich, glückstrahlend Adieu, und wir sollten sie bald besuchen.

Mama liegt im Fieber zu Bett vor Erschütterung, ich mußte Ottilie allein Fremden überlassen auf der entsetzlichen Reise, Mama ist so gebrochen, ich konnte nicht von ihr gehen.

Heinz, was muß ihr angethan sein, daß sie so wurde? Wird es sich je aufklären?

[27] Ein Brief von der Dame, bei der sie in Stellung war, teilt mit, daß sie heimlich davonging und in letzter Zeit bereits ein paarmal ganz ohne Grund in Wut geraten sei.

Und nun, Heinz, sei nicht böse! Die Oktoberzulage kann Dir Mama nicht schicken, wir haben schon unsere Gelder auf der Sparkasse angreifen müssen. Ob Mama sie Dir im November wieder wird geben können, ob überhaupt? – Wir wollen alles thun, daß es möglich werde, aber bitte, behilf Dich vorläufig! Wenn wir eine Freistelle für Ottilie in Halle erlangen können, geht es vielleicht. – Mir ist der Kopf so schwer. – Schreibe ein paar freundliche Worte an Mama, die sie trösten, sie beruhigen! Wegen des Zuschusses sage ihr, daß Du ihn nicht so notwendig brauchst – auch wenn’s nicht wahr ist, ich weiß ja, daß Du darauf wartest … aber – ach, es ist schrecklich! Ich grüße Dich herzlich.     In Trauer Deine Schwester Hede.“

Der junge Mann löschte plötzlich die Lampe aus; totenstill und dunkel ward es im Zimmer, nichts als ein unheimliches Sausen, ein schrilles Pfeifen draußen im Wald. Das war der Herbststurm, der sich aufgemacht hatte, und nun klatschten die Regenstrahlen gegen die Fenster, ein Wetter, wie es der wilde Jäger mit sich bringt, wenn er durch die Lüfte jagt. Und Heinz Kerkow lachte plötzlich auf, kurz, höhnisch.

Kannst dir gratulieren, Aenne, daß du den Kerl mit den leeren Taschen los bist! Heute mittag hing’s an einem Haare, und er hätte dir den Schwur der Liebe von den Lippen geküßt – –. Aenne, reizende kleine Aenne, du wirst ihn bald vergessen haben und er – heiratet eine andere, was bleibt ihm denn sonst übrig! Man will doch nicht verhungern, man kann doch seine Familie nicht verkommen lassen! Ja, wenn man arbeiten könnte mit den zwei starken Armen, wie ein Knecht wollte ich leben, um zu sparen für dich, Aenne, und die anderen; das wäre doch noch etwas, aber so! Die alte Frau stürbe, zöge ich den bunten Rock aus; und wenn auch nicht – bis ich sie ernähren kann als verabschiedeter Offizier, bis dahin wäre sie verhungert, und die Schwester mit, und du, kleine sonnige Aenne, wärst alt, grau und verbittert geworden. Also vorwärts! Leb’ wohl, Aenne, vielleicht dereinst erfährst du noch ’mal, daß ich dich sehr, sehr lieb gehabt habe!

Und jetzt lachte er nicht mehr. Er hatte den Kopf mit dem Kraushaar auf seinen Arm gelegt und – gottlob, daß es dunkel war und daß der Sturm so heulte. Heinz von Kerkow wollte doch selbst nicht hören und sehen, daß er weinte, bitterlich weinte um die Misere seines Lebens, um seine verlorene Liebe.

[37] Am andern Morgen, als die Frau Oberhofmeisterin von der Andacht aus den Zimmern der Herzogin zurückkehrte, fand sie ein Briefchen von ihrem Neffen auf dem Schreibtische liegen. Der kurze Inhalt war. „Wann kann ich Dich sprechen?“

Die Tante ließ antworten: „Sofort!“

Er kam auch wirklich bald. Frau von Gruber, die im Erker saß und sich damit beschäftigte, eine Liste durchzusehen, welche die Namen der um Weihnacht zu berücksichtigenden städtischen Anstalten enthielt, sah ganz entsetzt den blassen, ernsthaften Mann an, in den sich über Nacht der übermütige junge Offizier verwandelt hatte.

„Aber, Junge, wie siehst du aus?“ stammelte sie.

Er machte eine abwehrende Bewegung mit seiner Rechten und setzte sich ihr gegenüber. Der falbe Tagesschein ließ die Veränderungen in seinem Gesicht noch schärfer hervortreten. Unwillkürlich nahm die alte Dame seine Hand, die ungeduldig auf dem Tischchen trommelte, zärtlich in die ihre.

„Heinz, du weißt ja, ich habe selbst nicht viel, aber wenn ich augenblicklich dir aushelfen kann – bitte, sag’s mir. Du möchtest vielleicht etwas nach Hause schicken oder gar selbst hinreisen? – Wie?“

„Du triffst den Nagel immer aus den Kopf, Tante! Ich nehme dein Anerbieten an.“ erwiderte er. Es war, als ob jeder Klang aus seiner Stimme gewichen sei. „Nicht nur wegen zu Hause,“ fuhr er fort, „aber weißt du, es ist auch nicht angenehm, wenn man ohne einen Dreier in der Tasche auf Freiersfüßen [38] gehen soll. Sag’ mal – wieviel hat sie nun denn eigentlich geerbt? Aber – laß das nur, es kommt auf ein bißchen mehr oder weniger nicht an, meinen Kaufpreis mag ich auch gar nicht wissen, ich könnte am Ende, arrogant wie ich bin, herausfinden, daß ich mehr wert bin als ihre lumpigen paar Tausend!“

Frau von Gruber war jäh aufgestanden. „Heinz,“ stieß sie zürnend hervor, „ich habe dich immer als einen zartfühlenden, delikaten Menschen gekannt, aber – –“

„Lieber Himmel, Tante, ereifere dich doch nicht! Ich bin mit dem besten Willen nicht imstande, Hokuspokus dir gegenüber zu machen um diese Sache, die doch ganz und gar nach deinem Herzen ist, sogar ein Lieblingswunsch von dir – das weißt du wohl besser als ich. Nun könnte ich ja uns beiden allerhand vorlügen, um die Geschichte ansehnlicher zu machen, aber, siehst du, es geht nicht, noch nicht, ich muß mich erst daran gewöhnen, diese Komödie zu spielen – – sieh nur nicht so entsetzt aus! Du weißt ja, Tante, daß die Heirat nach Geld jetzt eine Existenzfrage geworden ist – und zwar nicht um meinetwillen. Weiß Gott, stünde ich allein, morgen wäre ich weit fort von hier, irgendwo in der Welt, wo einer arbeiten kann im Drellrock, wo man essen kann, was man will, ohne kontrolliert zu werden, wo es standesgemäß hergeht, oder wo man ein Stück trocken Brot hinunterwürgt. Aber da, die alte Frau, weißt du – na, wir verstehen uns, und bevor ich zu einem Agenten gehe, will ich dich fragen, wie ist’s mit der Toni?“

Die alte Dame hatte sich unter den schneidenden haarscharfen Worten wieder gesetzt. „Du willst sie nur des Geldes wegen nehmen, Heinz, und im übrigen ist sie dir ganz gleichgültig.“ Sie versuchte, ihm wenigstens etwas Beschönigendes abzulocken.

Aber er ging nicht darauf ein. „Ja!“ sagte er kurz. „Frage nicht so, Tante, ich nehme sie um ihr Geld, wie sie mich vermutlich nimmt, weil sie durchaus einen Mann haben will, etwas, das ganz bekannt ist in der Residenz und hier. Nach jedem Kameraden, der hierher kommandiert war, hat sie ihre Netze ausgeworfen, auch nach mir – –. Nun schön, ich will mich fangen lassen, es erspart mir die Mühe, eine andere zu suchen, und was dich betrifft, Tante, so bitte ich, sei meine Freiwerberin und wenn du kannst, bald. Ich gestehe, mir brennt der Boden unter den Füßen – ich möchte Mama sehen.“

„Aber, ums Himmels willen, so plötzlich! Was soll Toni denken?“

„Herrgott, die wird’s äußerst begreiflich finden, ich habe ihr ja gestern abend die Cour geschnitten wie toll.“

„Schon in der Absicht, sie zu – –?“

„O, liebe Zeit, nein! Nein! Indes, es geht ja nun ganz gut.“

„Aber, Heinz, wenn sie es merkt, welcher verzweifelten Stimmung dieser Antrag entspringt?“

„Ueberlasse doch mein Verhalten ihr gegenüber vertrauensvoll mir, Tante! Das Einzige, um was ich dich bitte, ist, daß du sie vorbereitest. Drehe es nun, wie du willst! Wenn du mir sogenannten günstigen Bescheid bringst, werde ich an sie schreiben.“

„Warum nicht persönlich werben, Heinz?“

„Ich kann es besser schriftlich thun.“

„Und wann willst du, daß ich –? Toni liest Ihrer Durchlaucht eben vor, vielleicht während Durchlaucht mit Seiner Excellenz konferiert und Toni im Musiksaal Klavier spielt?“

„Wie du denkst, Tante! Meinetwegen auch mit Musikbegleitung.“

„Aber Heinz, so bald?“

„Sofort, Tante, wenn möglich sofort! Lasse mir Bescheid zukommen! Sobald ich ihr Jawort habe, reise ich zu Mutter.“

Um ein Uhr schickte Frau von Gruber ihrem Neffen ein Zettelchen „Ich gratuliere dir, sie liebt dich.“

Er hatte es aufgegeben, an Toni von Ribbeneck zu schreiben es wäre eine Feigheit gewesen, und feig war er nicht. Er nahm den Helm, ließ sich bei dem Fräulein melden und wurde gleich darauf in das mit blau und weiß broschierter, etwas verblichener Seide ausgestattete Hofdamenzimmer geführt, das von der jetzigen Bewohnerin verschwenderisch ausgeschmückt war mit Statuetten, Makartbouquets, Eisbärfellen, Nippes und Photographien aller Art. Ein starkes mit Patchouli untermischtes Parfüm wehte ihn an und erschwerte ihm das schon mühsame Atmen.

Er ließ seine Augen in dem Zimmer umherschweifen. Toni von Ribbeneck war nicht darin. Er wollte sich sammeln, aber er war schlechterdings nicht imstande, sich vorzustellen, wie sich die nächste Viertelstunde seines Lebens abspielen werde. So stand er und starrte einen japanischen Schirm an, auf dem buntschillernde Vögel gestickt waren.

Gott im Himmel, wie anders hatte er sich sein Freien gedacht!

Und dann trat sie ein, klein, blond, ohne Frische, untersetzt. Keine Spur mädchenhafter Verlegenheit auf dem runden Gesicht, die Augen, die groß und farblos waren, erwartungsvoll auf ihn gerichtet, und doch so, als habe sie keine Ahnung von dem, was ihn hergeführt. Sie trug eine Hausrobe von mattblauem Seidenplüsch, so verblichen wie ihre Augen und so matt wie ihr straff zurückgenommenes Blondhaar.

Es war ihm plötzlich, als zöge eine unsichtbare Macht ihn wieder der Thüre zu. Nein, nein, das war nicht die, die er in seine Arme nehmen konnte, um sie Braut und Liebste zu nennen! Aber da sah er wieder das gramdurchfurchte Antlitz der alten Frau, die seine Mutter war.

„Gnädiges Fräulein,“ stammelte er endlich, „Sie wissen, weshalb ich hier vor Ihnen stehe – –“

Sie senkte stumm den Kopf und setzte sich auf den kleinen Fauteuil, der hinter dem japanischen Schirm stand, indem sie mit der Hand einen ihr gegenüber stehenden Schemel bezeichnete, auf den er sich niederlassen sollte. Das blendende Licht der Fenster traf ihn voll, während sie im Schatten blieb. Noch immer verharrte sie stumm mit keiner Bewegung, keinem Worte kam sie ihm zu Hilfe; sie wollte den erhebenden Augenblick, in dem ein Mann sie zur Frau begehrte, voll auskosten.

„Ahnen Sie es nicht, gnädiges Fräulein,“ begann er endlich, „erraten Sie nicht, daß ich eine große, sehr große Bitte an Sie zu richten im Begriff bin, daß ich – –?“

„Daß Sie mir sagen wollen ‚ich liebe Sie, Toni!‘“ unterbrach sie ihn mit ihrer spitzen klanglosen Stimme.

Er verbeugte sich zustimmend.

„Und daß Sie mich heiraten wollen, Kerkow!“

Wieder eine stumme Verbeugung.

„Aber – wenn ich nun nicht in der Lage wäre, wenn ich – – es kommt so plötzlich!“ Sie spielte, kokett lächelnd, mit den Schleifen ihres Kleides.

Er erhob sich sofort. „Pardon, gnädiges Fräulein!“

Ihr Lächeln verschwand augenblicklich. „Aber, Lieutenant Kerkow!“ sagte sie bestürzt und streckte die Hand aus, als wollte sie ihn halten.

„Mir ist nicht zum Scherzen,“ stieß er hervor.

„Nun denn, machen wir Ernst, Kerkow!“ rief sie und reichte ihm die Rechte hinüber, die er langsam an seine Lippen führte. „Und damit Sie es denn wissen, ich – ich habe es geahnt, daß Sie heute kommen würden.“

„Meine Tante –“ murmelte er.

„Nein, seit gestern abend, Kerkow, seit dem Souperwalzer.“

Das war der Walzer, mit dem er Aenne „kurieren“ wollte. Er wurde rot, so schämte er sich vor sich selbst, und küßte nochmals ihre Hand.

Sie schwieg und sah ihn an mit Augen die sich vom Glück belebten über den schönen, längst begehrten Mann „Kerkow,“ sagte sie leise, „warum kommen Sie heute erst?“

Er stotterte etwas von nicht gewagt haben –.“ Da fühlte er sich umfaßt, sie zog sich zu ihm empor und ihre Wange streifte die seine. „Heinz, ich weiß ja längst, daß du mich lieb hast, schon lange, lange!“

Er sah mit ganz verstörten Augen zu ihr hinunter, die nun den blonden Kopf an seine Brust gepreßt hielt.

„Schon längst? – Nein!“ sagte er laut, unfähig, sie in diesem Irrtum zu lassen, der einen überschwenglich beglückten Bräutigam voraussetzte. „Ich habe Sie immer nett und bewundernswert gefunden, aber der Entschluß, Sie als Frau zu begehren, der ist noch neu.“

Sie war empor gefahren und starrte ihn an, einen Zug grenzenloser Enttäuschung um den Mund. „So?“ antwortete sie.

„Ich bin ein Fanatiker der Wahrheit, und derjenigen, die meine Frau wird, kann ich nichts vorlügen,“ sprach er weiter.

Sie biß in die Unterlippe, sie wußte es ja ganz genau, daß [39] er in früheren Zeiten ihr eher ausgewichen war als sie zu suchen aber sie hatte doch gemeint, er werde sagen. „Ja, Toni, schon lange. Und dann hätte sie ihrer Familie schreiben können „Ich war seine einzige Liebe“ – „Dann liebten Sie eine andere?“ fragte sie durch die Zähne.

Er hatte Lust, mit dem Fuße aufzutreten. Was ging sie seine Vergangenheit an! „Baroneß,“ sagte er kurz, „bisher dachte ich nicht an die Ehe!“ – Das Wort „Liebe“ vermied er.

„Und das ist so plötzlich gekommen?“ Sie schlug schmachtend die Augen auf.

„Wie das kommt?“ fragte er zurück mit gefurchter Stirn.

„O, vergeben Sie, ich quäle Sie!“ rief sie geängstigt.

Er sah aus, als stände er im Begriffe, eine Abschiedsverbeugung zu machen und sporenklirrend hinaus zu gehen, und sie warf sich in den Sessel und begann zu weinen.

„Ich bitte Sie, mir zu verzeihen,“ begann er nun „ich bin vielleicht unzart gewesen, Toni, aber in dieser Stunde kann ich so wenig lügen, noch weniger als in jeder andern. Hat Sie mein Bekenntnis enttäuscht, so schicken Sie mich fort; behalten Sie mich trotzdem, so werde ich Ihnen dankbar sein mit jedem Atemzuge, denn ich bin ein bedrückter Mensch, der Schweres zu tragen hat und viel Geduld und viel Nachsicht braucht – von Ihrer Seite.“

Es lag etwas in seiner Stimme, das ihr imponierte, und sie dachte überhaupt nicht daran, ihn wegzuschicken, den schönen Heinz von Kerkow, um den sie beneidet werden würde auf und nieder im Lande. Sie hatte einen kleinen Versuch gemacht, sich von ihm belügen zu lassen, sie wollte ihn zwingen, ihr eine leidenschaftliche Scene vorzuspielen, es mißlang. Nun gut, er liebte sie nicht, aber er wollte sie heiraten, sie – oder ihr Geld – das genügte!

Sie reichte ihm die Hand. „Geduld, Nachsicht, soviel Sie wollen, Heinz, denn ich liebe Sie! Gehen Sie denn, lassen Sie sich bei Durchlaucht melden und bitten Sie um meine Hand!“ Und sie stand auf und bot ihm die Lippen. Er beugte sich langsam hinunter zu der kleinen Gestalt und küßte sie, kalt, formell. Sie zuckte zusammen, das war kein Brautkuß!

Und als er zur Thür schritt, folgte ihm ein Blick, der nicht viel versprach von Nachsicht, Geduld und Liebe. – „Freigeben“ dachte sie, „soll ich ihn freigeben?“ Dann schüttelte sie den Kopf.

„Nein! nun gerad’ nicht!“ – – – – – – – – –

Um zwei Uhr hatte das junge Paar bereits in seiner Eigenschaft als Verlobte vor der hohen Frau in dem kleinen dunkelrot dekorierten Eckzimmer gestanden und gnädige, von echtem Wohlwollen erfüllte Glückwünsche entgegengenommen, wenn auch Durchlaucht entschieden betrübt war, ihre liebe Ribbeneck zu verlieren und Frau von Gruber hatte ein paar Thränen dazu geweint. Die junge Braut besprach dann im Zimmer der Oberhofmeisterin mit ihrem Bräutigam die Form und die Anzahl der Verlobungskarten, und als die Tante diskret das Gemach verließ und nun eine lange peinliche Pause entstand, da wachte Heinz Kerkow aus seinem Stumpfsinn auf, nahm Mitleid und Ritterlichkeit zu Hilfe und zog das fremde Mädchen, dem nicht ein Schlag seines Herzens gehörte, an sich und dankte ihr noch einmal für ihr rasches rückhaltloses „Ja!“ und sagte, daß er bestrebt sein wolle, ihre Liebe immer mehr und mehr zu verdienen. Dann küßte er sie etwas scheu und zögernd auf die Stirn über ihren Kopf hinweg aber schweifte sein Blick wie gewaltsam angezogen, zum Fenster hinaus und blieb drunten am Hause des Medizinalrats May hängen. Zum letztenmal! sagte er sich, denn er wollte – er wollte ein guter treuer Gatte werden, und das war er schließlich doch auch sich selbst schuldig!

Dort unten saß die Familie May bei Tische, und im nämlichen Augenblick als der Blick des Mannes abschiednehmend das Häuschen des Leibarztes streifte, bemerkte dieser, der eben den letzten Löffel Suppe verzehrt hatte. „Und nun das Neueste, ich weiß es von Durchlaucht höchstselbst – der Heinz Kerkow und die Ribbeneck wollen sich heiraten.

„Das ist nicht wahr!“ schrie Tante Emilie auf und ihre erschreckten Augen flogen zu Aenne. Aber kein Zug veränderte sich in dem jungen Antlitz. Schweigend erhob sie sich und setzte die Suppenteller ineinander und goß ihrem Vater das Bier ein, wie alle Tage, nur essen konnte sie heute nicht. Aber sie blieb bei Tische bis zu Ende und sagte auch irgendwas zu der Neuigkeit, aber Tante Emilie verstand es nicht recht, nur die Worte „Freut mich für Toni“ klang es deutlich heraus.

Und langsam und ohne Hast erstieg sie die Treppe zu ihrem Sälchen, und was dort oben geschah – das hat niemand gesehen.



Aenne May ging folgenden Tages zur gewohnten Stunde mit Tante spazieren. Die kleine lebhafte, in heimlichem Mitleid fast vergehende Frau schlug den Weg nach der Stadt ein, in dem unbestimmten Gefühl, daß es dem Mädchen lieb sein würde, den Schloßpark heute zu vermeiden. Aber Aenne fragte. „Warum denn?“ Und so wanderten sie in dem prächtigen Garten umher, in welchem alles von der Poesie des Herbstes verklärt war: purpurn rote Weinranken, die sich um weiße Marmorleiber schlangen, gold und rot gefärbte Boskette, gelichtete Bäume, die zu trauern schienen um ihr Sommergewand, bunte Blätter, die unter ihnen auf feuchtem Rasen lagen oder auf dem stillen Wasser des Bassins schwammen. Aenne war sehr schweigsam, und einzig daran erkannte ihre Begleiterin den Gemütszustand des Mädchens, das, als ob es sich von selbst verstände, bis zur Schloßterrasse emporstieg.

„Dort oben wird’s zugig sein, Goldköpfchen“ meinte ängstlich die Tante.

„Aber die Aussicht desto schöner“ wandte Aenne ein, „der Sturm der vergangenen Nacht hat die Luft klar gemacht.“

Oben angelangt, stützte sich die stark asthmatische Frau, nach Atem ringend, auf das Geländer und zog ihr Tuch höher an den Hals hinauf, Aenne ging langsam um das Bassin herum zum Pavillon hinüber, in dem gestern noch Heinz Kerkow so lustig geschafft hatte, und lugte durch die Scheiben. Nach ein paar Minuten kam sie zurück, ein bitteres Lächeln um den Mund. „Nun können wir weitergehen, Tante,“ sagte sie.

„Was war denn in dem Pavillon“ fragte die Angeredete.

„Ein Tüncher, der die Wände überstreicht, so dicht daß man schon nicht mehr erkennt, wie sie ausgesehen haben,“ antwortete Aenne. „Nicht wahr,“ fuhr sie fort, „es wäre nett, wenn man es auch so machen könnte mit seinem Herzen, wenn man alles, was da drin gemalt und geschrieben steht, einfach frisch übertünchen könnte – wer das verstände – o! –“

„Welch ein Unsinn, Aenne!“ murmelte die alte Dame.

„Aber, verlaß dich darauf, Tante, ich lasse auch anstreichen hier innen, es wäre noch schöner, wenn man etwas mit sich herumschleppen müßte, das man nicht will, nicht brauchen kann, das weh thut wie ein Dorn den man sich eingerissen hat! –“

Sie sprach immer im Weiterschreiten, mit zurückgewandtem Kopf und wunderlich flackernden Augen. Dann waren sie unten im Park auf dem breiten Fahrwege angekommen, der in den Wald führt, und gingen wieder nebeneinander diesem entgegen. Hinter ihnen erscholl Pferdegetrappel und das leise Rollen einer Equipage auf Gummirädern. Aenne wandte ruhig den Kopf dem vorüberfahrenden Wagen zu. Es war eine Hofequipage, im Fond saßen Frau von Gruber und Toni von Ribbeneck, auf dem Rücksitz Heinz von Kerkow, in Civil und ganz reisemäßig angezogen mit Umhängetasche, Plaidrolle und einem Handköfferchen neben sich. Er sah nach der entgegengesetzten Seite hinüber, wo ein zahmes Reh stand.

Toni, in einem blauen Tuchkostüm, einen blauen Filzhut auf dem farblosen Haar, nickte gönnerhaft freundlich Aenne zu. Sie hatte heute Farbe und sah, wie Tante Emilie innerlich zugestand, ordentlich menschlich aus. Aenne grüßte zurück und schritt weiter mit undurchdringlichem Gesicht.

„Hör’, Kindchen,“ meinte die alte Dame, „wenn’s dir nichts ausmacht, so geh’ allein ein Stückchen weiter, ich besuch’ derweil Fräulein Stübken, kannst mich abholen nachher.“

Fräulein Stübken war das ältliche Fräulein, das dem Oberförster Günther seit dem Tode der Frau den Haushalt führte, eine Person, die als wandelndes Wochenblatt von Breitenfels galt, besonders für die Rubrik „Hofnachrichten“.

Aenne nickte, es freute sie, allein zu sein. Sie fühlte deutlich, daß in ihr etwas Totes war, von dem eine erschauernde Kälte ausging, daß sie aber alles aufbieten müßte, um dieses Gestorbene vor anderen geheim zu halten, diese armselige gewaltsam erstickte Liebe zu Heinz Kerkow. Das Blut schoß ihr sinnverwirrend in den Kopf, als sie daran dachte, daß er ihre heiße [40] Neigung erraten haben müßte, und sie hielt es für dringend notwendig, ihn in diesem Glauben wankend zu machen ihm einen schlagenden Beweis zu liefern, daß sie nichts weiter zu ihm gezogen habe als die harmloseste Jugendfreundschaft, und darum – –

Sie wußte, durch welches Mittel sie ihm beweisen könnte, daß sie ihn niemals geliebt habe, aber das war nicht leicht, und dennoch das einzige für diesen Fall – genau so brutal wie der Tüncherpinsel, der im Pavillon ihr Bild auslöschte! Wunderbar eigentlich, daß es geschah! Vielleicht hatte Toni Ribbeneck sich erkannt und geschmollt über ihre Nebenrolle. Nun, ihr Wunsch war ihm jetzt Befehl, je eher, je besser – weg damit! Aenne wollte es auch so machen, sie wollte das Bild in ihrem Herzen übermalen lassen, nicht mit einer glatten weißen Fläche wie droben, nein, mit dem Bilde eines andern!

Sie verfolgte in tiefen Gedanken einen schmalen Waldpfad, der neben der Chaussee durch dickes Buchen- und Haselgestrüpp hinlief, es war schon leichte Dämmerung, die Sonne ging heute nicht strahlend unter, sie hatte sich hinter eine finstere Wolkenwand verborgen und schien gewillt, die Erde früher als sonst im Dunkeln zu lassen. Aus der Ferne hallte ein Schuß durch den Wald, dann ein Schrei hoch in der Luft und der dumpfe Laut eines fallenden Körpers.

Aenne blieb stehen und schaute vorwärts, jemand kam ihr entgegen. Da war er, an den sie eben gedacht.

„Guten Abend, Herr Oberförster!“ erwiderte sie ein paar Sekunden später auf den Gruß eines großen breitschultrigen Mannes, der in graugrüner Joppe, die Büchse über der Schulter, vor ihr stehen geblieben war, an seinem Büchsensack hing ein erlegter großer Raubvogel, ein Bussard. Der Weidmann hatte ein ernstes, durch Wind und Wetter gebräuntes Gesicht, von dichtem Vollbart umrahmt, in welchem schon hier und da weiße Fäden schimmerten, eine gerade Nase und hellblaue Augen, die sichtlich erfreut Aenne betrachteten. Vornehm sah er gewiß nicht aus, aber recht stattlich und frisch, er verleugnete den Sohn des Holzhauers Günther durchaus nicht in seiner Erscheinung, aber er war ein einfacher zutraulicher Charakter wie alle solche. die mit und in der Natur gelebt haben und noch leben, und in seinem Berufe war er entschieden unschätzbar, wie der Umstand bezeugte, daß der Herzog ihn aus eigener Entschließung vom einfachen Förster in die Oberförsterstelle einrücken ließ, zum Aerger der jungen Herren, die auf der Akademie gebildet waren.

„Das ist ja eine unverhoffte Freude, Fräulein Aenne!“ begann er, „wollen Sie heim? Dann können wir zusammen gehen – das heißt,“ setzte er zögernd hinzu, „wenn’s Ihnen recht ist!“

Sie nickte und ging nun ziemlich dicht neben ihm, denn der Pfad war schmal und er hielt die Buchenzweige zurück, daß sie ihr nicht in das blasse Gesichtchen schlugen. Aenne wußte, wie dieser Mann seit langer Zeit an sie dachte mit treuesten und redlichsten Absichten, aber sie war ihm stets ausgewichen, sie hatte sich das Glück anders erträumt als an seiner Seite, als die Stiefmutter seiner Kinder – sie wollte ein ganzes, volles Glück.

Heute fragte sie plötzlich nach seinen Kindern. Ihre Stimme zitterte zwar ein wenig und sie sah zur Seite, aber wenn sie auch nicht den freudigen Schrecken gewahrte, der über des Mannes Züge glitt, an der bebenden weichen Stimme, mit der er antwortete, mußte sie erkennen, wie tief ihn diese Frage bewegte. Ein Diplomat war er nicht, er brachte nichts weiter heraus als. „O, ich danke Ihnen herzlich, Fräulein Aenne, es geht ihnen gut, so gut es Kindern gehen kann, die die Mutter entbehren.“

Das war sein altes Lied, aber es machte das Mädchen jetzt nicht erbeben, es war ihr auch nicht peinlich wie sonst – sie ging direkt auf ein bestimmtes Ziel los. Wie schwer ihr das werden müsse, was hinter diesem Ziele lag, daran wollte sie jetzt nicht denken.

„Ich habe sie lange nicht gesehen, die Kleinen,“ bemerkte sie, „sonst kamen sie mitunter herüber zu uns, aber –“

„O, Fräulein Aenne, ich dachte, es wäre Ihnen unangenehm,“ stotterte er, verwirrt von ihrem ganz veränderten Wesen.

„Aber warum denn, Herr Oberförster? Wirklich, ich habe Kinder gern, und die Ihrigen – ich habe mich doch schon mit ihnen geschleppt, als ich noch ein Backfisch war und damals, als wir in unserem Hause Christinchen verpflegten, damals, als – –“

„Als meine Frau starb,“ vollendete er. „Ja, ja, Fräulein Aenne, und sehen Sie, das kann ich Ihnen und Ihrer Mutter nie vergessen, solche Gutthat an einem Halbverzweifelten – das kettet mit starken Banden der Dankbarkeit an die, die sie uns erwiesen. Da, am Totenbette meiner Auguste, da hab’ ich’s erfahren, was es bedeutet – gute Freunde und getreue Nachbarn! Wie Ihre liebe Mutter da so still und selbstverständlich zu mir kam und sagte: ‚Die Kinder nehm ich mit, Günther‘ – und Sie, Aenne, Sie hatten so ein blasses Gesicht und so große Augen, der Tod war Ihnen so unfaßlich, so grauenhaft, Sie waren ja noch so jung, aber Sie nahmen doch die Aelteste, die auch kaum laufen konnte, auf den Arm – und – ja, Aenne – und – –“

Er blieb stehen, in seinem Gesicht zuckte es wie von großer innerer Bewegung. „Sehen Sie, Aenne – wenn Sie mir nur erlauben wollten, weiter zu reden,“ bat er, „aber ich habe Angst, es geht wie neulich, als ich – und Sie laufen fort – – Herrgott, ja, ich will schweigen, Aenne, ’s ist ja solche schreckliche Unbescheidenheit von mir, und – ich hab’s ja auch gemerkt, daß ein anderer da ist, den Sie – –“

Sie hatte wirklich einen Augenblick einen hastigen Schritt nach vorwärts gethan, so, als wollte sie sich, wie ein Reh vor dem Jäger, in den Wald flüchten. Aber als er von einem andern sprach, wandte sie sich jäh um. „Nein!“ stieß sie hervor, „ich – ich höre ja – –“

Es war jetzt fast dunkel auf dem schmalen Wege, kaum noch zu unterscheiden die Konturen der Gestalten, und so still, so furchtbar einsam! Der große Mann war stehen geblieben, sie vor ihm mit gesenktem Kopf, als erwartete sie den Todesstreich. Sie hörte eine Zeit lang nur sein rasches tiefes Atmen.

„Aenne“, stieß er endlich hervor, wie einen mühsam unterdrückten Schrei, „Aenne, ich dürfte? Sie wollten mich hören? Ich könnt’ Ihnen erzählen von der Hoffnung, die sich ganz unmerklich an Ihre Barmherzigkeit damals knüpfte? erzählen wie sie im Laufe der Zeit stärker und stärker wuchs, wie mein ganzes Leben bloß noch der einzige Wunsch ist, daß Sie, Aenne, daß Sie mir und meinen Kindern die Verlorene ersetzen möchten?“

Seine Sprache, anfangs hastig, war wie erstickt von emporquellenden Thränen. „Aenne,“ fragte er nochmals und faßte ihre Hände, „Aenne, sagen Sie doch nur – es ist ja gar nicht möglich – ich bin ein ungebildeter Mensch – – erst gestern abend, als Sie droben im Schloß am Flügel standen und so schön gesungen haben da sagte ich mir. ‚Nein, nein, das ist ja Thorheit, die ist viel zu schön, viel zu gut für dich alten plumpen Kerl!‘ Aenne, ich nehm’s nicht übel, aber sprechen Sie doch ein einziges Wort – könnten Sie denn – wäre es möglich?“

„Ja!“ klang es zu ihm herüber. Aber als er sie ungestüm an sich reißen wollte, schrie sie leicht auf und wich so entsetzt zurück, daß er ihre Hand frei ließ.

„Ja?“ wiederholte er, „aber – weshalb dann –?“ Und seine Rechte strich über die Stirne, von der er den Hut nahm.

Sie hatte sich gefaßt. „Ja!“ sagte sie noch einmal, „aber ich bitte Sie – ich bin so – – ach seien Sie nicht böse, lassen Sie uns ruhig nach Hause gehen, ich werde nachher mit Vater reden, und morgen –“

„Bis morgen?“ wiederholte er staunend, ungewiß.

„Morgen!“ sagte sie mit einer Stimme, die trostlos klang. „Jetzt nicht – man wird mich suchen, meine Tante wartet auch noch bei Fräulein Stübken in Ihrem Hause.“

Nun schritten sie hintereinander. Der Weg senkte sich jetzt steil hinab und der Oberförster öffnete vorangehend das Gatter, das den Wildpark vom Lustgarten scheidet. Sie blieb wartend stehen; als sie hindurch geschlüpft war, reichte sie ihm die Hand. „Morgen,“ sagte sie noch einmal.

Aber nun kam es über ihn wie ein Sturm, er hielt sie plötzlich in den Armen und küßte sie heiß und leidenschaftlich, und sie litt es wie betäubt ein paar Augenblicke, dann stieß sie ihn zurück, einen empörten Ausruf auf den Lippen. Und als er fragte, halb lachend und halb ernsthaft:

„Glaubst du denn, ich hätte dir ‚Gutenacht!‘ sagen können wie jeden andern Tag? Mädel, hast du denn keine Ahnung, wie einem zu Mute ist, der dich liebt, und den du so lange hast schmachten und zappeln lassen?“

Da brach sie in Thränen aus und lief wie gejagt durch die dunkle Allee, und hinter ihr scholl ein tiefes, glückliches Lachen.

„Morgen!“ rief er, „morgen!“

[53] Aenne wünschte nichts sehnlicher, als unbemerkt von der Mutter ihre Stube zu gewinnen, um sich zu fassen. Aber es gelang ihr nicht.

Die Frau Rätin, die eine kleine Meinungsverschiedenheit mit ihrem Manne gehabt hatte, saß mit hochrotem Kopf in der Küche beim Quittenschälen, und der Zorn über die verlorene Schlacht gegen den Eheherrn fand einen willkommenen Ableiter in Aennes langem Ausbleiben. „Sie soll nur kommen! Es ist zu toll, die eine Stunde des erlaubten Spazierengehens auf zwei auszudehnen. Alles muß man allein besorgen, keinerlei Hilfe hat man von dem großen Mädchen! Wozu ist sie denn da? Um der Mutter zu helfen doch selbstverständlich – statt dessen wird gebummelt mit Tante Emilie, die eigens für den Zweck erschaffen zu sein scheint, um die mütterliche Erziehung über den Haufen zu werfen!“

Frau Rätin erhob sich, legte das Messer in die Schüssel mit den zerschnittenen Quittenstückchen und riß die Thür nach dem Flur sperrangelweit auf, um die Ausbleiberin ja nicht zu übersehen. Sie zündete noch zum Ueberfluß die kleine Oellampe neben der Hausthür an, was sonst nur bei festlichen Gelegenheiten geschah. Kaum hatte sie wieder Platz genommen, als die Schelle ging und Aenne auf die Schwelle trat.

Wie eine Rakete schoß die gestrenge Mama aus der Küche. „Na, da sind wir ja!“ rief sie. „Es ist alles mögliche, daß du schon kommst! Nun bitte, mein Fräulein, bemühe dich hierher und hilf! Ich muß mich zu Tode plagen, und andere Leute bummeln!“ Aenne wäre an jedem anderen Tage der kleinen scheltenden und im innersten Herzen so guten Mutter um den Hals gefallen, hätte sie ausgelacht und allerlei Possen getrieben – heute, in ihrer furchtbaren Erregung, fühlte sie, wie ihr das heiße Blut zu Kopfe stieg, und zum erstenmal gab sie eine trotzige Antwort. „Du redest mit mir, als sei ich die Karoline, Mama! Ich werde doch wohl das Recht haben, ein Viertelstündchen länger zu bleiben, wenn das Wetter so schön ist.“ Damit holte sie ein Messer aus dem Kasten und begann mit zitternden Fingern bei der Arbeit zu helfen. Frau Rätin aber war es, als habe die Posaune des Jüngsten Gerichts geblasen – das war noch nicht dagewesen!

„Hör’ mal,“ keuchte sie, „weißt du auch, daß du – daß du den Respekt vergißt gegen deine Mutter? Nicht eine Minute länger hast du zu bleiben, als wir dir es erlauben! Weiß Gott, heute muß die Verrücktheit in der Luft liegen (sie dachte an den Herrn Rat dabei), aber ich will euch Raison beibringen, und vor allem dir, die – du – –“

[54] Der Aerger erstickte ihre Worte. Sie hatte ja keine Ahnung, die erzürnte Frau, wie schwer verwundet das junge Herz da vor ihr war, daß es vor allem der zartesten Pflege, der größten Schonung bedurfte, eine solche Seelenkennerin war diese Frau nicht, die nie einen Herzenskonflikt durchzumachen gehabt hatte und ganz behaglich zu erzählen pflegte, sie habe ihre erste Liebe geheiratet und auch sonst nichts Schweres erlebt als ein wenig kleine Alltagsnot.

Sie erstarrte daher fast, als das schöne Gesicht Aennes sich trotzig emporhob, und die zuckenden Lippen die bittern Worte sprachen. „Nun, du wirst ja nächstens keinen Aerger mehr über mich haben, Mama, ich gehe ja bald aus dem Hause.“

„Was sind das für Redensarten?“ rief die ergrimmte Frau, „was soll das bedeuten? Auf der Stelle komm’ mit zum Vater, daß er dir einmal klar macht, wie du dich gegen mich zu betragen hast, du undankbares Kind du!“

Aenne legte das Messer hin. „Das bedeutet, daß morgen“ sie machte eine Bewegung nach der Seite, wo des Oberförsters Haus lag – „der Günther kommen wird, er will mich heiraten.“ Mit diesen Worten ging die arme kleine Aenne stolz wie eine Königin aus der Küche und hinauf in ihre Stube.

Frau Rätin saß da mit offenem Munde. Freude darüber, daß ihr Lieblingswunsch sich erfüllen sollte, Reue über ihren Zorn, Verwunderung über des allzeit freundlichen Kindes schroffes Wesen wirbelten ihr im Kopfe. Sie wußte kaum, was sie that. Die Quittenschalen in ihrer Schürze rollten, als sie aufstand, zur Erde, sie achtete dessen nicht, sie lief über den Hausflur und fiel wie eine Bombe bei ihrem lesenden Mann ins Zimmer. „May, May, ich bitte dich, so hör’ doch nur, die Aenne – –“

Der Herr Rat, dem ebenfalls der eheliche Zwist noch in den Gliedern lag, schrie ein „Zum Donnerwetter, was giebt’s denn schon wieder?“ Er wurde aber nach der hervorgestammelten Erklärung ebenso still wie ein eben noch schreiendes Sechswochenkind, das die Flasche im Munde fühlt.

„Wirklich, Alte – wahrhaftig? Herrgott, das wäre ein Glück! Und sie will? Sie ist doch ein prächtiges, verständiges Mädel, die Aenne! Wo steckt sie denn? Sag’ doch, sie soll herkommen, sie soll erzählen, wie’s geschehen ist! Er lief durch die Stube und schrie in den Hausflur hinaus. „Aenne, Aennchen, komm’ herunter, Kind, in mein Zimmer!“

Aber niemand antwortete, und Frau Rätin sprach von erregten Nerven, von Erschütterung, und man wolle sie in Ruhe lassen. Nach einer halben Stunde werde sie hinaufgehen und die „kleine Braut“ – ihr ganzes Gesicht verklärte sich dabei – herunterholen.

In diesem Augenblick kam Tante Emilie nach Hause und wurde von dem freudestrahlenden Elternpaare in die Stube gezogen.

„Wer hat nun recht, Emilie?“ sagte triumphierend der Rat und schlug der Erstaunten auf die Schulter.

„Was ist denn geschehen?“

„Denk’ doch, die Aenne“, fiel die Rätin ein „du hast zwar immer den Kopf geschüttelt, wenn ich sagte, sie nimmt den Günther doch noch – und nun“

„Aenne – den Günther? Nein, das glaube ich nicht, ist nicht möglich!“ erklärte ganz blaß die alte Dame.

Der Rat lachte. „Eben hat sie es ihrer Mutter anvertraut.“

„Da steht mir der Verstand still,“ erklärte Tante Emilie.

„Na, weißt du, Schwester, mir ging’s auch beinahe so, und doch ist es Thatsache!“

Die Ungläubige aber verließ still das Zimmer und pochte oben an Aennes Stubenthür. „Aenne, mach’ auf, ich bin’s!“

„Komm’ nur herein!“ scholl es.

In dem winzigen Mädchenstübchen brannte die Stearinkerze im Messingleuchter auf der Kommode. Aenne stand davor und hielt ein geleertes Kästchen in der Hand im Ofen knisterte etwas, verwelkte Blumen und dergleichen.

„Aber, traut’stes Aennchen,“ fragte die alte ehrliche Seele, „was machst du für Sachen? Das ist doch ein schlechter Spaß!“

„Du meinst – meine Verlobung?“

„Mit – Günther?“

„Ja, freilich, so ist’s doch!“

„Erbarmen, Goldkindchen! Das ist ja, um auf die Akazien zu klettern!“ schrie sie außer sich, „du liebst ihn ja überhaupt gar nicht!“

„O!“ sagte Aenne, „das weißt du doch nicht, Tante.“

„Schrecklich ist’s! Eine ganz verschrobene Marjell bist du – du wirst kreuzunglücklich!“

„Aber, Tante, das weißt du doch ebenfalls nicht! Ich heirate, wie so manches Mädchen, weil einmal geheiratet werden muß. Ich bin doch auch nicht besser als die andern! Und was für Ansprüche soll ich denn machen?“

„Ja, wenn ich dich nicht so genau kennte, Kindchen –“

„Du kennst mich eben gar nicht so genau, Tante. Paß auf, wie gern du noch hinüber kommst in die Kinderstube, in der mein Leben von nun an verfließen wird, so drei, die brauchen Pflege! O, ich werde so viel zu thun haben, daß ich mich gar nicht mehr zu besinnen brauche auf etwas – sie machte eine Bewegung mit dem Arm „das weit hinter mir liegt. Na, und nun gratuliere mir, Tante, und sage den Eltern, heute möchten sie mich nur allein lassen und – ich wäre glücklich, wenn sie eine rechte Freude an der Geschichte hätten. – Gute Nacht, Tantchen! Und wenn’s Mama etwa gar das Herz abdrückt, so habe ich nichts dagegen, wenn sie herumschickt, den künftigen Schwiegersohn zum Punsch zu bitten; nur ich, ich möchte allein sein heute.“

„Ich werde mich hüten, das letztere zu bestellen,“ erklärte Tante Emilie, „ich will vielmehr den lieben Gott bitten, daß er dir bis morgen deine klare Vernunft wieder schenkt, denn ehe du den Günther nimmst, eher –“

„Tantchen, verschwör’ dich nicht – daran ist nichts mehr zu ändern!“ rief Aenne noch durch den Thürspalt. Dann schloß sie hinter der alten Frau, die langsam die Treppe hinunterging, die Thüre ab, drehte den Schlüssel zweimal herum und setzte sich mit finsteren Augen und untergeschlagenen Armen auf den Stuhl am Fußende des Bettes. Sie starrte zum Ofen hinüber, in dem die armseligen Reliquien ihres Liebestraumes verglimmten, und verfolgte jedes Fünkchen mit trotzigem Herzeleid und kam sich vor wie eine Heldin.


Einige Tage später stand Heinz Kerkow an dem Bette, auf dem seine tote Mutter lag. In der Hand zerknüllte er noch den Brief, den er soeben erhalten und nur flüchtig gelesen hatte, als die Schwester ihn mit besorgter Miene in das Krankenzimmer rief. „Heinz, komm’ doch, Mutter sieht plötzlich so verändert aus!“

Er war da gerade zurecht gekommen, um noch einmal die zwei treuesten Augen der Welt auf sich gerichtet zu sehen und die Hand zu erfassen, die bald so erstarrt in der seinen ruhen sollte. Nun lag die Schwester schluchzend auf den Knien vor dem Bette der Toten und er stand da und – fühlte nichts, gar nichts.

Ganz gedankenlos ballte er das Papier noch fester zusammen, eine Karte mit Goldschnitt, auf der zu lesen stand, daß Medizinalrat May und Frau sich die Ehre geben, die Verlobung ihrer Tochter Aenne mit dem herzoglichen Oberförster Herrn Hermann Günther ergebenst anzuzeigen – –

Was ging ihn das an? Er wandte sich plötzlich und verließ das Sterbezimmer, setzte sich in der Wohnstube auf das altmodische Kanapee und senkte die Stirn in die Hand. Die Schwester kam endlich zu ihm und erinnerte, daß er die Meldung des Todes der Mutter auf dem Standesamt persönlich zu erstatten habe, und es sei doch leider Gottes noch so mancherlei zu besorgen, das zu übernehmen sie ihn bitten müsse.

Er stand auf, zog die Uniform in die Taille und ging, das zerknüllte Papier blieb auf dem Fußboden liegen. Hedwig von Kerkow hob es auf und glättete es mechanisch – eine Verlobungsanzeige, und unten in der Ecke von Mädchenhand zierlich gekritzelt.

„Lieber Heinz! Sie sind mir zuvorgekommen, ich wollte Sie überraschen, nun waren Sie doch eiliger als ich. Ich gratuliere Ihnen hiermit herzlichst und wünsche, daß Sie ebenso glücklich sind im Besitz Ihrer lieben Braut wie ich in dem meines Bräutigams. Mit schönem Gruß Ihre alte Freundin Aenne.“

Hedwig Kerkow dachte ein Weilchen nach – sie hatte nie etwas von einem Wesen gehört, das Aenne hieß. – Sie ließ das Papier achtlos liegen und griff zum Taschentuch, um die wieder aufquellenden Thränen zu trocknen.

Dann kam Heinz zurück, und die Geschwister saßen beisammen in der dämmerigen Stube. Hin und wieder redeten sie [55] ein paar kurze Worte von der Verstorbenen und von der unglücklichen Schwester, und ob diese in ihrem Zustand wohl die Nachricht zu begreifen vermöge. Und wieder ward es still. Endlich sagte Hedwig. „Gottlob – Heinz, daß die Mutter deine Verlobung noch erfahren hat, es war der letzte Lichtstrahl für sie!“

Er nickte.

„Wird Toni zum Begräbnis kommen, Heinz?“

„Ich weiß nicht. – ich hoffe es nicht.“

„Du hoffst es nicht?“

„Ich meine, ich glaube es nicht, sie ist noch im Dienst und –“

„Aber zum Begräbnis wird Durchlaucht sie doch ohne weiteres beurlauben?“

„Ja, aber ob sie noch rechtzeitig hier sein kann –“

„Hast du ihr denn nicht telegraphiert?“

„Nein!“

„Aber warum denn nicht?“

Er blieb die Antwort schuldig, und dann kam die Totenfrau.

Er konnte seine Braut hier nicht sehen, er wollte nicht – nur wenigstens hier nicht Komödie spielen, im Angesicht des Todes! Toni hatte übrigens gar nicht daran gedacht, zu kommen. Sie schickte einen Kranz aus Palmen, weißen Rosen und Frauenhaar, vermeldete, daß die Herzogin warmen Anteil nehme und daß Tante Gruber ihr erzählt habe, wie liebenswürdig und gut die Verstorbene gewesen und wie schade es sei, daß sie dieselbe nicht noch kennengelernt habe. Dann ein Gruß an die Schwester.

Heinz hatte gedacht, der Brief würde etwas darüber enthalten, daß Hedwig dereinst eine Zufluchtsstätte in seinem Hause finden sollte, er hätte so gern dem armen Mädel diesen Hoffnungsstrahl für die Zukunft bei der Rückkehr vom Kirchhofe in das öde verlassene Zimmer gebracht – aber nichts davon! Und das als Antwort auf den Brief, in dem er Hedwigs Lage geschildert – – –“

„Was meinst du, Heinz, fragte am Abend die Schwester, „kann ich es wagen, die Wohnung zu behalten bei meinen unsicheren Einnahmen? Wenn ich gesund bleibe und alle meine Schülerinnen behalte, so dürfte es vielleicht langen, um die lieben Räume nicht verlassen zu müssen. – Es würde mir so schrecklich schwer werden, hier hinauszugehen, Heinz,“ fügte sie wie entschuldigend hinzu und sah ihn an mit den vom Weinen rotgeränderten bittenden Augen, als erwartete sie eine Aufmunterung von ihm.

„Freilich, Hede,“ antwortete er, „auf alle Fälle und selbst, wenn dir eine Schülerin absagt oder Krankheit dich hindert! Aengstige dich nur nicht, ich werde schon sorgen – auch für Ottilie – plage dich darum nicht –“

„Ach, Heinz, wenn ich dich nicht hätte!“ Sie ging hinüber zu ihm, legte den Kopf an seine Wange und begann wieder leise zu schluchzen.

„Kind, du nimmst es zu schwer. Tausend Mädel haben noch weniger als du, nicht einmal ein Talent, wie es dir so nett weiter hilft – denk’ mal, wenn du nun nicht maltest, wenn du, wie Ottilie, unter fremden – –“

„Wir sind aber auch gar nicht erzogen, um dergleichen schwierige Lage so mir nichts dir nichts zu überwinden!“ stieß sie hervor. „So herausgerissen aus dem glänzenden Leben, bei Papas Tode dann nichts haben, gar nichts! Ja freilich – ein Justizrat mit glänzender Praxis kann leben wie ein Fürst, und wenn er dann fort muß und hat nichts gespart – –“

„Hedwig, weine nicht! Wir haben kein Recht, dem Toten Vorwürfe zu machen, und, nebenbei, es hülfe ja auch nichts.“

„Ich will ja nichts mehr sagen, Heinz, nur leid thut es mir, daß Mama nicht noch dein Glück erleben konnte. – – Hattet ihr schon von der Hochzeit gesprochen?“

„Ja!“ antwortete er kurz.

„Und wann sollte – –?“

„Weihnachten.“

„Auch jetzt noch?“

„Ja – ja – ich glaube, Toni will es auf jeden Fall.“

„Ich finde es auch richtig, Heinz, und Mama würde es ebenfalls wünschen, daß die Trauer um sie nicht zwischen euch trete. Ihr lebt zudem recht still für euch in dem kleinen Breitenfels.“

„Wir werden zunächst reisen, nach Tonis Wunsch.“

„Ach!“ Sie sah ihn an mit stiller Bewunderung. „Wie herrlich!“ – Welch ein Glück hatte der Heinz! O, wer auch einmal an eine Reise hätte denken dürfen gar eine Reise mit dem einzigen, den man liebt!

„Wohl nach Italien?“ fragte sie leise.

„Ja, Kind, ich glaube nach Neapel.“

„O, Heinz, wie fallen Geschwisterlose doch verschieden! Ottilie – und du!“ flüsterte sie. Sie weinte von neuem.

Er hatte nicht verstanden. „Und dann – ja dann, dann will ich arbeiten, um zu vergessen, daß ich –“

Er hielt inne. Wozu sollte er der armen gequälten Schwester anvertrauen daß es ihn schrecklicher denn Bettelbrot zu essen dünkte, von dem Gelde seiner Frau zu leben, Hede würde ihn nicht einmal verstehen. „Ich meine arbeiten, um die Kriegsakademie zu erreichen, das ist alles, was ich wünsche!“


Heinz bezahlte am andern Morgen bar die Kosten des Begräbnisses, kleine Posten, die noch ausstanden, die erste Rate der Pension in der Irrenanstalt und übergab seiner vor Dankbarkeit ganz gerührten Schwester außerdem einen Hundertmarkschein für die nächste Vierteljahrsmiete. Angesichts der ganz leeren Kasse seiner alten Mama hatte er an einen Geldverleiher seiner Garnison geschrieben und umgehend die geforderte Summe erhalten, rückzahlbar nach seiner Verheiratung. Er konnte doch schließlich der alten Frau kein Armenbegräbnis zu teil werden, kannte seine Schwester nicht dem Nichts gegenüber lassen, er mußte borgen, es gab keinen Ausweg!

Dann traten sie noch einmal an das Grab der Verstorbenen und drückten sich feuchten Auges die Hand, und dann stand das arme Mädel allein auf dem Perron und sah dem Schnellzuge nach, der ihren Heinz entführte – dem Glück entgegen, wie sie meinte. Eine Unmasse Grüße und ein winziges von ihr gemaltes Täßchen mit dem Kerkowschen Wappen hatte sie der unbekannten Schwägerin durch ihn gesandt.

Es war dunkel, als Heinz auf der Station ankam, von der aus er zu Wagen nach Breitenfels fahren mußte. Ein paar Schneeflocken taumelten in der Luft und schneidend kalt wehte der Wind von den Bergen herüber. Eine wunderliche Stimmung überkam ihn heute abend, als er nach dem Platz ging, wo der Wagen ihn erwartete. Er dachte beständig an ein rosiges Antlitz unter dichtem blonden Haar, das ihm lieb und vertraut entgegen lächeln würde bei der Heimkehr von dieser traurigen Reise, zu ihm sagen würde: ‚Heinz, mein armer Heinz!‘ – Nun hatte sich dieser Mund schon gewöhnt, „Hermann“ zu sagen, hatte das Küssen gelernt von eines anderen Mannes Lippen und seine Besitzerin hatte ihm kurz und bündig mitgeteilt, daß sie besagten Hermann schon lange im Herzen trage, daß mithin ihr ganzes holdes Wesen, die Thränen, die sie geweint, ihr Lächeln – nur Lüge und Verstellung gewesen waren, von A bis Z. Er konnte sich also beruhigen ihretwegen! Nun ja, oder es that ihm weh, weil er das reizende frische Geschöpf schier närrisch lieb gehabt – gehabt, natürlich! Er sagte das letzte halblaut vor sich hin, indem er mechanisch nach dem Gefährt ausspähte. Dort stand zwar ein solches, aber es war ein Hofwagen und er hatte doch einen simplen Einspänner bestellt bei dem einzigen Wagenverleiher in Breitenfels – ein solcher war nicht da. Was in aller Welt mochte nur passiert sein?

Da kam der Diener, der am Schlag gewartet, ihm entgegen und nahm ihm respektvoll grüßend die Handtasche ab. Er ließ es verdutzt geschehen – sollte Toni ihm entgegengefahren sein?

„Ist der Wagen für mich?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“

„Ist – ist er leer – ich meine, ist jemand gekommen?“

„Frau Baronin von Gruber.“

Er war mit ein paar großen Sprüngen an dem Schlag, den er hastig öffnete. „Du, Tante?“ rief er hinein. „Ja – was hat das zu bedeuten?“

„Steig nur ein, Heinz – eine Unterredung unter vier Augen, nichts weiter. Guten Abend, mein lieber Junge! Ich habe deiner viel gedacht, armes Kerlchen – gottlob, daß du das schwerste hinter dir hast!“

Der Bediente schloß die Thür des Coupées, sprang auf den Bock und der Wagen setzte sich in Bewegung.

[58] „Na, Tante, dann schieß’ los,“ sagte er mit einem Anflug seines alten Humors, „was giebt’s?“

„Du wirst dich wundern, Heinz,“ klang die Stimme der Hofdame aus der Dunkelheit und ganz gepreßt zu ihm herüber. „Ich wollte dich vorbereiten, du hättest sonst eine allzu große Ueberraschung gehabt – es bereiten sich große Dinge vor –“

„Ist’s um Toni?“

„Ja und nein – also kurz gesagt. Ihre Durchlaucht ist untröstlich, Toni hergeben zu sollen; sie behauptet, Toni sei die einzige, die so deutlich und scharf accentuiere beim Vorlesen, daß sie jedes Wort, trotz der vorgeschrittenen Taubheit, verstehen könne, und da – –“ die Sprecherin machte eine Pause.

„Da wünscht Hochdieselbe, die Verlobung rückgängig gemacht zu sehen?“ fragte er und wunderte sich, daß es wie ein Aufatmen über ihn kam.

„I Gott bewahre! Wie kannst du nur bei der frommen gemütstiefen Fürstin einen solch sträflichen Egoismus voraussetzen? Nein, im Gegenteil, sie wünscht, daß ihr je eher je lieber heiratet, aber – daß ihr in ihrer Nähe, in Breitenfels bleibt.“

„Da wünscht eben Ihre Durchlaucht etwas Unmögliches,“ antwortete er trocken. „Oder – soll ich Kommandant von Breitenfels werden? Eine Charge, die ganz neu geschaffen werden müßte und – in Anbetracht des bedeutenden hier garnisonierenden Truppenteils – –“

„Laß doch den Spott, Heinz! Den Rock müßtest du natürlich ausziehen siehst du, aber, bitte – keine Ironie! Uns fehlt schon seit langer Zeit der Hofmarschall, der laut Bestimmung der Hofhaltung Ihrer Durchlaucht zukommt. Auf dem Papier ist er auch stets geführt, nur daß Excellenz die kleine unbedeutende Funktion neben seinem Kammerherrndienst noch übernommen hatte. Der gute Axleben ist nun aber so decrepit geworden, daß man ihm das wohl nicht länger zumuten kann, und so kam Ihre Durchlaucht auf die Idee –“

„Ihre Durchlaucht kam darauf?“

„Nun ja – das heißt, ich hatte vorher mit Toni darüber geredet.“

„Ach so!“

„Kurz und gut, Heinz, dein Glück wäre doch gemacht, wenn du zugreifen wolltest! Denke dir – den Titel Hofmarschall, eine Wohnung im Schloß, Equipage, alle Jahre so und so lange Urlaub. – Gott, das Gehalt ist ja so enorm nicht, aber immer noch besser als eine Lieutenantsgage!“

„Und meine Braut ist natürlich entzückt von der Idee!“ „Das kannst du doch denken! Durchlaucht hat ihr versprochen, jedes Jahr ein paar Wochen in der Residenz zu verleben, ihr begleitet sie natürlich, ihr könnt dort ein allerliebstes Haus machen. Ich habe Toni zugesagt, dir die Sache praktisch zu unterbreiten, und sie hofft, daß du ihr diesen ersten Wunsch erfüllen werdest. Heinz, ich will dir gestehen, wir sind so entzückt von diesem Plane, daß –“

„Ich bin gar nicht davon entzückt,“ unterbrach er sie schroff, „und denke nicht im entferntesten daran, meinen Dienst zu quittieren! Ich liebe meinen Beruf mit einem guten Teil ehrlicher Begeisterung, und nur der Notwendigkeit gehorchend, würde ich ihn verlassen haben, das heißt – du verstehst mich – wenn mir die Mittel, weiter zu dienen, eines Tages gefehlt hätten, es war ja nahe daran! Diese Notwendigkeit ist aber durch meine Verlobung mit Toni Ribbeneck geschwunden, so bleibe ich!“

„Du – du bleibst?“ Diese Worte voll maßlosesten Erstaunens trafen jetzt sein Ohr.

„Ich bleibe,“ wiederholte er, „und wenn meine Braut mich liebt, was ich ja eigentlich kaum zu hoffen wage, so geht sie mit mir dorthin, wohin mich mein Beruf führt.“

„Aber du rasest gegen dich selbst, mein lieber Heinz!“

„Mitnichten! Ich brauche frische frohe Arbeit so notwendig wie die Luft, die ich atme, ich passe den Teufel! zu solchem Beruf, ich bin ein Soldat und keine Hofschranze!“

„Herrgott – frische frohe Arbeit, sagst du! Die wirst du ausgiebig haben bei deinen Pirschgängen.“

„Die Befriedigung einer Passion ist keine Thätigkeit, wie man sie nötig hat für seine Gemütsruhe – ich möchte nicht leben ohne Pflichten.“

„Du hast doch deren in deiner Stellung!“ rief sie gereizt. „Welch pedantische Auffassung, Heinz!“

„Die Pflichten eines Hofmarschalls in Breitenfels,“ sagte er leise, „ausgezeichnet, Tante, und worin bestehen sie? Im Whistspielen, im Aufstellen der Gästelisten für eure illustren Theeabende und im Honneurmachen bei denselben. Nimm’s nicht übel, Tante, die Gräfin Arnstein sowohl wie die Frau Hofprediger gelangen auch, ohne daß ich ihnen meinen Arm am Eingang der fürstlichen Gemächer anbiete, zu dem Sessel der Durchlauchtigsten – eure Idee ist eine Kateridee!“

„Aber – wenn sich Toni darauf kapriziert, wenn sie –“

„Dann muß sie sich eben einen andern suchen, der mit ihr zugleich den Hofmarschall übernimmt,“ unterbrach er brüsk und hatte ein riesig erleichterndes Gefühl in sich. Er mußte es darauf ankommen lassen, duckte er sich in dieser Angelegenheit, so war seine Autorität ihr gegenüber für alle Zeiten untergraben! Sie durfte doch nicht denken, weil sie ein paar Kröten besaß, daß der Mann, den sie sich damit gekauft hatte, ihr Spielzeug sei? Lieber – das Schlimmste!

„Und wenn Toni,“ scholl es wieder aus der dunklen Ecke des Wagens, „wenn sie ihre Freiheit thatsächlich deiner Tyrannei und Engherzigkeit vorzieht, wie dann?“

„Liebe Tante, du scheinst überhört zu haben, was ich eben sagte.“

„Hast du das große Los gewonnen oder hinterließ deine Mutter unerwartet ein Vermögen?“ stieß die Baronin zitternd hervor.

„Keins von beiden, ich bin mir der jammervollen Lage meiner pekuniären Schwierigkeiten vollständig bewußt.“

„Nun, dann verstehe ich dich nicht.“ Und sie setzte sich so ostentativ zurück, als wollte sie sagen. Mache was du willst, mit dir ist nicht zu reden!

„Es thut mir bitter leid, Tante Christiane.“

„Ich ersuche dich, wenigstens heute abend nicht mehr die Sache zum Austrag zu bringen. gehe in dein Zimmer, ohne Toni zu begrüßen, und ich werde versuchen, dich glaubhaft bei ihr zu entschuldigen. Sie erwartet dich in meinem Salon zum Thee, und du hast wahrscheinlich Kopfweh oder dergleichen – sie muß es gelten lassen.“

„Ich habe keine Kopfschmerze und fürchte mich nicht vor Auseinandersetzungen – je eher, je besser!“

„Nun denn, meinetwegen!“ Die Baronin wickelte sich nach diesen Worten in ihren Pelz und würdigte ihren Neffen keines Wortes weiter. Der Wagen kroch langsam bergan, dann huschte der Schein der ersten Petroleumlaterne der Residenz durch die Fenster des Coupes und Heinz schaute hinaus. Oben angelangt, setzten sich die Pferde wieder in Trab. Der junge Offizier sah Licht schimmern durch die Läden des Mayschen Hauses, beim Oberförster war alles dunkel – natürlich saß er bei der Braut!

Heinz biß sich auf die Lippen, daß es schmerzte. Der hätte ebensogut eine Kindermagd heiraten können, weiter suchte er doch nichts, und diese reizende kluge süße Aenne vergräbt sich in solche Prosa! Und er, er sollte hier bleiben und das mit ansehen, wie der plumpe Gesell ihr den Staub von den Schmetterlingsflügeln streift und sie in eine häßliche Puppe zurückverwandelt, die dumpf hinleben muß in dem ewigen Einerlei seines mit Kindergeschrei erfüllten Hauses? Nie – nie!

Nun hielt der Wagen vor dem Eingang des Schlosses und die Baronin verließ, von Heinz unterstützt, das Gefährt. Mit einem sehr kühlen Kopfnicken verabschiedete sie denselben im Treppenhause des zweiten Stockes, und er stieg die dritte Treppe empor, um sein Zimmer aufzusuchen an dessen Schwelle ihn der Bursche empfing. Es war behaglich warm in dem riesenhaften, ziemlich schmucklose Raum, und auf dem Tische brodelte der kleine Alfenidkessel neben der Arrakflasche und dem Punschglas.

„Briefe gekommen?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“

Er trat an den Tisch und betrachtete ein großes graues Couvert, das in ungelenken Schriftzügen seine Adresse trug. Es hatte ihn, dem Vermerk nach, zuerst in seiner Garnison gesucht und war dann hierher nachgesendet worden. Aus Berlin? Was mochte das sein? – „Ich danke, Scholze,“ sagte er dann, „ich gehe nachher noch zur Frau Baronin hinunter, mache den Waffenrock zurecht! Dann warf er sich in einen der mit grün und weiß gestreiftem Kattun bezogenen Fauteuils nahe der Lampe und erbrach das Schreiben.

[59] „Gnädigster Herr Leutnant!“ begann er mühsam zu entziffern. „Besinnen sich gnädigster Herr Leutnant noch auf die dicke Marien? Ich habe Ihnen doch so oft als kleinen Jung’ die Butterstullen gemacht zum Schulfrühstück und auch Bratäpfels in Winterabends in die Kochmaschine und haben Sie doch immer viel auf mir gehalten dazumal. Auch was die liebe gnädige verstorbene Frau Mama ist, hat mir immer so gern gehabt bis zu ihrem Ende, was nun doch so rasch gekommen ist.

Gnädiger Herr Leutnant, wir sind, mein Mann und ich, tief betrübt und es ist gewiß keine Unbescheidenheit, wenn ich in die Trauertage mit eine kleine Frage hervortrete, es ist man weil davon sehr viel abhängen thut für meinen Mann und mir, und weil wir doch fünf Kinder haben und August, was der Aelteste ist, Oktober in die Lehre kommen soll bei Schuster Finken in die Nollendorferstraße, wo seine Kundschaft ist. – Nun geht unser Grünkeller mit Bier und Butter jawoll ganz gut, aber die Zinsen von die gnädige Frau Rätin können wir doch nicht gut entbehren, indem daß dieselbigen nun schon anderthalb Jahre nicht bezahlt sind. Ich habe nicht gewagt, gnädige Frau von Kerkow dran zu erinnern, weil ich weiß, daß sie ihre alte unterthänigste Dienerin nicht vergißt, nu aberst jetzt, wo ihr der Tod so rasch genaht ist, möchte ich doch fragen, ob gnädige Frau vielleicht etwas hinterlassen hat über Rückzahlung der 1500 Mark, was unser Gespartes ist und die ausständigen Zinsen. Ich bitte Herrn Leutnant vielemal zu verzeihen und die Briefe, worin gnädige Frau uns bat, sie das Geld zu borgen lege ich mit bei im unterthänigsten Vertrauen und der Bitte, wenn’s möglich wäre und es Herrn Leutnant und dem gnädigen Fräulein keine Ungelegenheit macht, uns doch gütigst zurückzugeben indem wir es doch sehr nötig haben.

Mit unterthänigstem Gruß Ihre Dienerin     
Marie Schulze geb. Artner.“ 

Ganz mechanisch nahm er den Brief seiner Mutter und entfaltete ihn:

„Liebe Marie!

In größter augenblicklicher Verlegenheit wende ich mich an Dich, treue Seele, und bitte Dich und Deinen Mann, mir fünfhundert Mark zu leihen zu fünf Prozent. Ich kann Dir nicht sagen – weshalb oder wozu, und verspreche, daß ich es pünktlich am nächsten ersten Januar wieder zurückzahle.

Immer Deine, Dir sehr zugethane     
Bertha von Kerkow. 

Dann noch ein Brief. Jetzt sind es tausend Mark, die die Mutter haben will und die ihr die treue Seele giebt, das ehemalige Dienstmädchen, das sich bei harter Arbeit groschen- und sechserweise das Sümmchen zusammengespart hat – –. Mein Gott, das hatte er doch nicht gedacht! Stand es denn so furchtbar mit der alten Frau Und wozu hatte sie denn –?

Er sah auf das Datum des letzten Briefes und eine jähe Blutwelle stieg ihm zu Kopfe. Ja, das war vor drei Jahren gewesen, als er Schulden halber – recht thörichte leichtsinnige Schulden, die einzigen, die er auf solche Weise gemacht! – sich an die Mutter wandte und sie bat, ihm jene mythenhaften fünfhundert Thaler zu schicken, die ihm zur Konfirmation ein Pate geschenkt hatte, und die ihm immer als starker Trost im Hintergrunde erschienen, wenn er einmal ein bißchen über die Stränge schlug. Na, schlimmsten Falles nehme ich die fünfhundert Thaler vom Onkel Heinrich, hatte er sich stets vorgeredet.

Ja, damals hatte er das Geld verlangt und auch bekommen, aber – es war längst nicht mehr dagewesen, in irgend einer Not hatte es die Mutter wohl verbraucht für sich und die Schwestern. Arme Mutter – was mochte sie gelitten haben! Sie hatte geborgt, geborgt von der ehemaligen Köchin!

Ja, die muß alles wieder erhalten – freilich – sofort! Er würde an Wolf schreiben und noch ’mal borgen; eine nette Summe, die da schon zusammengekommen ist – zahlbar nach der Heirat!! Er riß die Uniform auf und stürmte im Zimmer hin und her ein Zug von Ekel glitt über sein Gesicht. Was war aus ihm geworden! Einer, der Schulden macht auf das Geld seiner künftigen Frau, viel Schulden!

Ja freilich, er ist nicht der einzige, Hunderte giebt es, die thun’s kaltblütig, aber er, ach, er hatte doch noch Ideale gehabt!

Und dann will er noch heiraten und sich als den Gebieter aufspielen? Es darauf ankommen lassen, ob sie sich seinem Willen beugt oder nicht, er, der so mit Haut und Haar der Gnade ihres Geldbeutels verfallen ist. Lächerlich! Was soll er denn für ein Gesicht machen, wenn ihm nach der Hochzeit etwa, wenn man von der Reise zurückkommt – die Schuldscheine präsentiert werden! Als sogenannter Hofmarschall – jeder alte abgelebte Hofschranze könnte den Posten ausfüllen – war er doch vielleicht imstande, aus eigener Kraft abzuzahlen, als Offizier nie! Er lachte bitter auf. Na, denn zu! Es ist ja ganz gleich, als was man seine Sklavenketten schleppt, als Soldat oder als Beamter, verpfuscht war das Leben doch einmal!

Er trat nach wenigen Minuten bei seiner Tante ein, mit hartem Gesichtsausdruck. Toni Ribbeneck saß in einem der tiefen Fauteuils am Kaminofen und sah ihm fragend und neugierig entgegen. Frau von Gruber erhob sich und verließ das Zimmer. Sie mochte nicht anhören, wie er die Rolle des Gebieters spielte, „der dumme Junge“, wie sie ihn innerlich wütend nannte. Sie erhaschte nur noch den Anblick einer wenig zuvorkommenden Begrüßung seitens der Braut, die, von Frau von Gruber auf eine mögliche Enttäuschung hinsichtlich des Hofmarschalls vorbereitet, die Miene einer tyrannisierten Frau aufgesetzt hatte.

Um so erstaunter war sie, als nach zehn Minuten die junge Dame in das Zimmer kam, in das sie sich zurückgezogen hatte, und ihr mit triumphierender Miene sagte: „Aber, liebste Frau von Gruber, was redeten Sie denn. Er ist ja ganz einverstanden, wie ein Lamm ist mein guter Heinz! Er hat sich wahrscheinlich nur gesträubt, weil Sie als Tante ihm die Sache plausibel machen wollten. Sobald ich die Rede darauf brachte, erklärte er, sich meinen Wünschen fügen zu wollen.“

„Wahrscheinlich!“ stotterte die alte Dame ganz verblüfft. Und als sie gleich darauf vor ihm stand, der am Tische saß und gedankenlos in einem Album blätterte, sagte sie nicht ohne Aerger. „Es freut mich, Heinz, daß du Tonis Wunsch erfüllst.“

„Es ist ja doch schließlich ganz egal“, antwortete er, den Deckel zuklappend, und in dem Blick, mit dem er zu ihr aufsah, lag etwas so Trostloses, Müdes, daß sie erschrak.

„Du bist krank, Heinz, das Unglück zu Hause hat dich angegriffen, nicht wahr, Toni, wir entlassen ihn – du mußt dich ausruhen Heinz!“

„Aber nein,“ rief die junge Dame, „ich habe mich so gefreut auf heute abend! Wovon soll er denn müde sein. Nicht wahr, Heinz, du gehst noch nicht, wir plaudern noch. Bist du gar nicht neugierig, wo wir wohnen sollen. Hier im Schloß –“

„Ist das auch bereits bestimmt?“ unterbrach er sie scharf.

„Ja, natürlich! Durchlaucht ist zu reizend, zu rührend, als ob sie eine Tochter verheiratete, so lieb. Hier über uns, deine Zimmer gehören mit dazu, die Aussicht nach dem Platz und der Stadt!“

„Ach!“ machte er, und dann kam ihm zu Sinn, wie es nun doch so komme, daß er die Oberförsterei täglich vor Augen haben müsse, aber vielleicht gewöhnte er sich auch daran wie an alles andere Schwere, Trostlose. Und plötzlich fragte er wie aufatmend, daß doch noch ein Lichtstrahl bei der Sache für ihn sei: „Die Wohnung ist groß.“

„Denke dir – zehn Zimmer! Durchlaucht ist rührend,“ wiederholte Toni.

„Dann wird ja wohl eines dabei sein, in dem meine Schwester wohnen kann. Sie muß eine Heimat bei uns haben.“

Toni antwortete nicht, aber Frau von Gruber, in welcher der Familiensinn stark entwickelt war, nickte ihm zu „Das ist recht von dir, Heinz!“

„Aber wird Durchlaucht gestatten?“

„Durchlaucht wird gestatten“, sagte er laut und bestimmt. „Wenn sie sich den Luxus eines verheirateten Hofmarschalls gönnt, so muß sie auch dessen verwaiste Schwester dulden. Uebrigens, das lasse meine Sache sein, liebe Toni, ich selbst werde mit Durchlaucht darüber sprechen. Von dir setze ich voraus, daß du so menschlich und edel denkst, um einem armen Mädchen, das lange die Sonne nicht gesehen hat, ein paar warme Strahlen zu gönnen.“

„Gewiß!“ antwortete sie, aber ihre rosige Laune war verschwunden und man trennte sich ziemlich kühl.

[69] Im Mayschen Hause herrschte gehobene Stimmung; Frau Rätin war einfach selig in ihrer Stellung als künftige Schwiegermutter und Großmama.

Das neue Paar hatte bei den Hofbeamten Brautvisite gemacht, auch bei den Bekannten im Städtchen, die Besuche waren erwidert worden, und mittags von zwölf bis ein Uhr hatte ununterbrochen die Hausthürklingel geschellt. Briefe von allen Erden und Enden waren angelangt, und im Auftrage Ihrer Durchlaucht war eines Nachmittags Frau von Gruber erschienen, um die Glückwünsche der hohen Frau zu übermitteln nebst einem Strauß Orchideen aus den herzoglichen Gewächshäusern. Frau von Gruber war eine volle Viertelstunde lang geblieben und hatte sich sehr herzlich gezeigt, wie Frau Rätin allen versicherte, die es hören wollen.

Nach des Oberförsters Wunsch sollte die Hochzeit schon um Weihnacht stattfinden, spätestens anfangs Januar, und deshalb hatte Frau Rätin die Aussteuer für Aenne ganz energisch in Angriff genommen. In der Eßstube rasselte heute bereits die Nähmaschine; eine ältliche dicke Person mit großer runder Brille auf dem Stumpfnäschen saß zwischen Bergen weißer Leinwand, [70] und Tante Emilie war zum Heften kommandiert. In der Küche stand Aenne neben der Mutter, angethan mit einer großen, weißen Küchenschürze, und horchte mit ernsthaftem Gesicht auf die praktischen Lehren für ihren künftigen Hausfrauenberuf.

„Immer erst einen Probekloß kochen – verstehst du, Aenne? Falls er auseinander fällt, kann man die Masse noch fester machen. – Unsinn, Kind, ein richtiger Kloß muß mit der Hand gedreht werden, thu doch nur nicht so zimperlich, was soll denn dein künftiges Dienstmädchen von dir denken?“

Aenne erwiderte kein Wort, sondern folgte den Weisungen der Mutter mit dem nämlichen undurchdringlichen Gesicht, wie sie es schon seit dem Tage ihrer Verlobung zeigte.

„Und heute nachmittag müssen wir hinüber gehen, Aenne, ich bekomme sonst keinen Schimmer von dem, was du an Tischwäsche und Handtüchern brauchst. Er sagt zwar, es ist noch genug da von der ersten Frau, das mag ja auch sein, aber man muß doch selbst sehen. So um Drei herum, habe ich sagen lassen an die Stübken, würden wir kommen. – Ein Glück ist’s doch, Aenne, daß du dich nur gleich so hineinsetzen kannst in die fertige Wirtschaft, denn, wo die Jungens so viel kosten – Vater hätte gradezu Geld borgen müssen für deine Ausstattung!“

Aenne blieb stumm.

„Morgen mittag könnt ihr ja dann noch die letzten paar Brautvisiten machen, hast du übrigens eine Ahnung, wann Günther heute heimkommt?“

„Ich habe ihn nicht gefragt, Mutter.“

„Ach, so was! Ich weiß gar nicht, wie du bist, Aenne! – Aber Kind, wie du ungeschickt den Kochtopf anfaßt! Hast du dich verbrannt? Na, das ging noch ’mal so. Ja, was ich sagen wollte, Aenne, ich habe die Kleinen zu Mittag herüber bitten lassen, sie essen so gern Klöße, und du mußt dich jetzt doch etwas mehr um sie kümmern, finde ich. Die Aelteste ist doch eigentlich recht scheu dir gegenüber. Was mag das nur sein? Manchmal denke ich, das Kind hat so dumme Stiefmuttermärchen gelesen oder erzählen hören, meinst du nicht auch? Aber so – –“

Das Klingeln der Hausthür unterbrach den Redestrom der geschäftigen Frau. „Herrgott, schon wieder Besuch? Aber ich wüßte gar nicht, wer da noch kommen sollte, sie waren ja schon alle hier!“

Sie nickte Aenne Stillschweigen zu und schlich zur angelehnten Küchenthür hinüber, um zu horchen, wer da sei. Eine Männerstimme fragte nach Frau Rätin und dem Fräulein; das junge Dienstmädchen antwortete, daß die Damen zu Hause seien, die Herrschaften möchten nur eintreten in die „gute Stube“, sie wolle es gleich melden.

Aenne stand plötzlich mit sonderbar kühlem, blassem Gesicht da, Frau Rätin kam eilig zurück zu ihrem brodelnden Kessel.

„Der Heinz Kerkow, Aenne! An den habe ich gar nicht mehr gedacht! Geh’ nur immer hinein! Sobald es die Klöße erlauben, komme ich nach.“

Langsam band Aenne die Küchenschürze ab, wusch sich die Hände und streifte die Aermel ihres rotbraunen Wollkleides herunter. Als sie die Küche verließ, wo das Dienstmädchen ganz aufgeregt der Frau Rätin erzählte, daß sich die Braut vom Herrn Lieutenant aber fein gemacht habe, trug sie ihre alte freundliche Miene zur Schau, nur daß sie den Kopf ein bißchen stolz in den Nacken gebogen hatte.

„Er muß glauben, daß ich glücklich bin, daß ich nie an ihn gedacht habe – es gilt, Aenne, es gilt, beiße die Zähne auf einander!“ sagte sie sich. Als sie die Hand auf den Drücker legte, kam sie einen Augenblick ein Grauen an vor dem Wiedersehen und ein Zweifel an ihrer Standhaftigkeit, aber das ging vorüber, sie öffnete rasch und trat ein.

Heinz Kerkow hatte ebenfalls seine ganze Energie aufgeboten, um diesen Besuch endlich auszuführen. Erst hatte er ihm von Tag zu Tag aufgeschoben unter allerhand Vorwänden – es wurde ihm so unsagbar schwer, das Mädchen wiederzusehen, von dem er genau zu wissen meinte, daß es ihn liebte, trotz ihres Schreibens von Glück und Brautjubel; dann hatte er sich gesagt, daß ein Verzögern die Qual nicht mindere, und hatte sich, seinem raschen Temperament entsprechend, entschlossen, sofort hinunter zu gehen. Eigentlich wollte er allein ihr gratulieren, einen Besuch machen wie in alten Tagen, aber da war es Toni plötzlich eingefallen, daß sie der kleinen May auch gratulieren müsse und daß sie außer dem etwas mit dem Medizinalrat zu besprechen habe, und so waren sie beide gekommen.

Aenne erblickte beim Eintreten die Hofdame vor einem der Photographiealbums, die auf der Plüschdecke des Sofatischs lagen; Heinz stand am Fenster, nach dem Schlosse hinaufstarrend.

„Wie liebenswürdig, gnädiges Fräulein, Herr von Kerkow“, sagte sie unbefangen und lächelte, wobei ein rosiger Hauch über ihr Gesicht flog. Und indem sie neben Toni auf dem Sofa Platz nahm und Heinz Kerkow den Sessel neben sich anwies, wandte sie das Gespräch auf den Verlust, den der junge Offizier durch den Tod seiner Mutter erlitten. „Wie leid thut es mir, Herr von Kerkow – solch ein schwerer Schlag gerad’ in die glücklichste Zeit des Lebens! Sie müssen nämlich wissen, Fräulein von Ribbeneck, daß Ihr Herr Bräutigam und ich uns schon seit den Kinderjahren kennen, daß ich ein bißchen eingeweiht bin in seine Familiengeschichte und daher ermessen kann, was dieser Verlust für ihn bedeutet. Und Ihre Schwestern, Herr von Kerkow? Was wird denn nun aus Fräulein Hedwig? Sie kann doch nicht allein bleiben, sie ist noch viel zu jung dazu.“

„Sie sind sehr freundlich,“ antwortete er mit einer Stimme, die fast heiser klang. „Meine älteste Schwester ist seit kurzem schwer erkrankt, unheilbar, und Hedwig ist allein geblieben, bis auf weiteres.“

„Ganz allein?“ rief Aenne, „aber das ist ja traurig!“

„Ehrlich gestanden“, mischte sich Toni ein, „das kann ich nicht finden. Tausende von Mädchen leben in noch schwereren Verhältnissen allein.“

„Gewiß!“ gab er zu, „sie stirbt nicht daran!“ Aber es geschah mit einem so müden Ton, daß Aenne erschrak. Sie hatte bis jetzt nicht gewagt, ihn anzusehen, nun that sie es. Er hielt den Helm auf dem Knie und zwischen seinen Brauen stand eine Falte, die Aenne nicht kannte in diesem frischen, sonst so lachenden Antlitz. Er sah den Blick und raffte sich auf, weshalb sollte denn dieses ruhige freundliche Mädchen, das wie das verkörpertes Glück aussah, erfahren, wie es um ihn stand? Ihrem Schreiben hatte er nicht geglaubt, ihrem Wesen mußte er glauben, sie war wie getaucht in lächelndes Glück und rosige Glut.

„Haben Sie schon gehört, Fräulein May, daß ich mich bei Ihrer Durchlaucht als Stütze der Hausfrau verdingt habe?“ fragte er nun, sein Unbehagen über die künftige Stellung mit leichtem Spott verbergend.

Sie sah ihn verständnislos an, Toni zog ein Gesicht, sie fand den Witz absolut nicht nach ihrem Geschmack.

„Sie sehen in mir,“ fuhr er sich verbeugend fort, „den künftigen Hofmarschall Ihrer Durchlaucht der Frau Herzogin von Breitenfels. Wissen Sie, was das heißt? Das heißt Hand-, Küchen-, Kellerverwalter sein, Gesellschaften arrangieren, auf die unsterblichen Schimmel ein Auge haben sowie auf sämtliches Personal des Haushaltes, die Fleischer-, Bäcker- und sonstigen Rechnungen kontrollieren, Konzerte veranstalten, hohen Gästen entsprechend einen längeren Küchenzettel entwerfen, kurz – ein Mädchen für alles!“

Aenne hatte ihm einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. Einen Augenblick, einen einzigen, hatte sich ihr Gesicht verfärbt – hier wollte er bleiben? Das hieße ja für sie ein immerwährender Schmerz, ewige Unruhe, unausgesetzte Qual! – „Wirklich?“ fragte sie.

„Gewiß!“ bestätigte Toni, „finden Sie es nicht reizend von Durchlaucht? Die Herzogin will mich nicht von sich lassen, rührend ist sie! Dort droben, wo Heinz jetzt logiert, wird unsere Wohnung hergerichtet. – Nehmen Sie sich in acht, Fräulein May, wir können der künftigen Frau Oberförsterin mit dem Feldstecher die ganze Wohnung ausspähen, fügte sie scherzend hinzu.

„O, das freut mich, daß Sie hier bleiben,“ log Aenne; weiter kam sie nicht – es war so namenlos schmachvoll, dieses Komödienspiel! Zum Glück trudelte jetzt die freudestrahlende Frau Rätin ins Zimmer. Sie gehörte zu den kleinbürgerlichen Frauen, die überschwengliche Höflichkeitsphrasen für solche Gelegenheiten aufgespeichert haben, und so hörte man in den nächsten fünf Minuten nichts weiter als die Schlagwörter. Ehre – Glück – Freundlichkeit – zu gütig – reizend etc.

[71] „Wie schnell das gekommen ist,“ fuhr sie fort, Aennes Platz neben der Hofdame einnehmend, „vor vierzehn Tagen hatte noch niemand eine Ahnung von einer Verlobung. Wissen Sie, gnädiges Fräulein, an dem Konzertabend, wo Aenne das Lied sang von der Abendsonne – ja, damals dachte niemand an ein solches Ereignis, und am andern Tage gleich zwei! Ueberrascht waren wir, gnädiges Fräulein, ich sage Ihnen – überrascht über alle Begriffe!“

Aenne stand wie auf Kohlen. „Mütter sind immer überrascht, selbst wenn sie ganz genau wissen, wie es um das Herz der Tochter steht,“ sagte sie gezwungen lachend.

„Glauben Sie es nicht,“ verteidigte Frau Rätin ihre Mutterwürde, „ganz allein hat sie die Geschichte mit sich ausgemacht, und steht dann da plötzlich vor einem: „Mama, ich habe mich verlobt, Basta! – Jawohl, du Trotzkopf'!“

„Frau Rätin“, unterbrach die Hofdame gelangweilt, „ist der Herr Doktor zu sprechen?“

„Gewiß, er hat ja eben noch Sprechstunde“, erwiderte die lebhafte Frau und erhob sich sofort, um Fräulein von Ribbeneck den Vortritt vor einigen andern Patienten zu verschaffen, und nach kaum einer Minute streckte sie den Kopf zur Thür hinein. „Mein Mann läßt bitten, gnädiges Fräulein.“ Toni flüsterte ein „Auf Wiedersehen“ und verschwand.

Aenne und Heinz standen sich allein gegenüber. die Frau Rätin war vermutlich wieder in die Küche geflogen zu ihren Klößen. Eine lange Pause herrschte, keiner von ihnen fand ein Wort. Endlich sagte er mühsam scherzend – er hatte sich erhoben und war vor sie hingetreten.

„Also, das ist Aenne, die liebe lustige Aenne als Braut?“

Sie ging darauf ein. „Und das ist Heinz von Kerkow als Bräutigam?“

„Ja!“ sagte er kurz und nickte ihr ernsthaft zu. „Wie freue ich mich, Aenne, daß Sie so glücklich sind,“ sprach er dann herzlich.

„Sehr bin ich es, sehr!“ versicherte sie eifrig.

„Und so ernsten Pflichten gegenüber – drei Stiefkinder? Arme kleine Aenne!“

„Darauf freue ich mich gerade ganz unbändig,“ rief sie fröhlich.

Er sah sie lange und forschend an, blieb aber stumm. Sie ward ein wenig rot unter der Lüge, sprach dann aber hastig weiter:

„Heinz – ach pardon! – Herr von Kerkow, ich muß Ihnen noch etwas sagen. Vorhin, als von Ihrer Schwester die Rede war, wurden Sie so traurig – bitte, bitte, schreiben Sie ihr, daß wir sie mit offenen Armen aufnehmen wollen, ich kann für meine Eltern einstehen. Lassen Sie sie zu uns kommen, lassen Sie sie nicht so allein jetzt! Sehen Sie,“ fuhr sie erregt fort, in den Fehler aller Leute fallend, die einen andern um jeden Preis etwas glauben machen wollen, den Fehler der Uebertreibung, „sehen Sie, Heinz, wenn Ihre Braut sich ein wenig sperrt in dieser Angelegenheit, so kann man ihr das nicht verdenken – sie fürchtet eben den dritten im Bunde, den Jemand, mit dem sie Ihr Herz ein wenig teilen müßte. Ich aber, Heinz, bin nicht Ihre Braut und infolgedessen auch nicht eifersüchtig, ich würde mich so unbeschreiblich freuen, die Schwester meines Jugendfreundes bei mir zu haben!“

Er sah ganz starr zu ihr hinüber. Was war denn das? Was sollte das heißen? Glaubte sie nötig zu haben, ihm mit klaren Worten zu sagen, daß sie ihn nie geliebt? Mein Gott, davon mußte er wohl auch so überzeugt sein! „Ich danke Ihnen, Fräulein Aenne, ich glaube auch alles, was Sie mir da sagen, glaube es gern,“ antwortete er, „seien Sie versichert, es thut mir jedes Wort wohl, befreit mich von Sorgen, die ich mir arroganterweise gemacht hatte! Was nun aber Hedwig anbetrifft, so muß ich leider für jetzt Ihre Freundlichkeit ablehnen, ein solcher Trauergast würde in Ihr frohes Haus nicht passen – Später, wenn Sie als junge Frau Oberförsterin drüben wohnen und Hedwig in unserem Hause ein Heim gefunden hat, dann nehmen Sie sich ihrer, bitte, ein wenig an ich werde Ihnen sehr dankbar dafür sein!“

Sie hatte ihn recht verstanden, denn sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, also – er war doch in Sorgen um sie gewesen! Ob er jetzt sich überzeugt hat, daß sie ihn niemals geliebt hat? Weiterlügen, mehr lügen! stürmte es in ihr, sie suchte nach einer Antwort und fand keine. Wie erlöst eilte sie gleich darauf der Thüre zu, an der sich der Drücker bewegte, ohne daß jene aufging. Sie öffnete, und ihr fröhliches „Ei! ei! Was kommt denn da?“ ließ den jungen Offizier in seiner Wanderung durch das Zimmer einhalten.

Drei Kinder kamen über die Schwelle, das jüngste, ein Mädel mit krauser blonder Lockenfülle, dick und pummelig wie der Apfel, den es in der Hand hielt, nahm Aenne gleich auf den Arm und küßte es. Der Bub im Sammetkittelchen mit Lederschurzfell, Papierhelm und hölzernem Säbel war die Miniaturausgabe des Oberförsters, derb, untersetzt, mit trotzigen blauen Kinderaugen, die verwundert von Aenne zu Heinz schauten. Die Aelteste, ein mageres Kind von sieben Jahren mit spitzem altklugen Gesicht und straff zurückgekämmtem weißblondem Haar, hielt in jedem Arm eine Puppe, sie machte einen Knix vor dem fremden Herrn und sah ihn ebenfalls mit unverhohlener Neugier aus hellen wimperlosen Augen an.

Aenne hatte sich mit ihrer Last auf den Fenstertritt gesetzt und barg ihr Gesicht in das krause Blondhaar des Kindesköpfchens. Der Junge stand ihr zugewandt und beobachtete sie stumm.

Heinz, den in diesem Augenblick der ganze große Schmerz seiner verlorenen Liebe überfiel, betrachtete irgend eins der Bilder an der Wand. Er konnte sie nicht tändeln sehen mit dem Kinde dieses andern, er konnte sie überhaupt nicht mehr sehen, es ging über seine Kräfte. Mehr als ein bestimmtes Maß von Elend kann der Mensch nicht ertragen! Sie hatte ihn nie geliebt, nun gut, aber er liebte sie desto mehr, wie sehr, das fühlte er in diesem Augenblick erst.

Und Aenne spielte ihre Komödie weiter und hatte ein Gefühl dabei, als müßte irgend etwas in ihrem Herzen zerreißen, als müßte sie schreien. „Glaube mir, glaube mir! Du mußt mir glauben! Siehst du denn nicht, daß ich beinahe sterbe an den Lügen?“

Da klang auf einmal eine Kinderstimme durch das stille Zimmer, eine grollende freche Jungenstimme: „Warum küßt du denn heute Mariechen immerzu?“

Aennes Gesicht tauchte erschreckt empor. „Was meinst du damit, Hermänne,“ fragte sie streng, „ich küsse das Mariechen doch alle Tage?“

„Das ist ja gar nicht wahr!“ rief der Junge, „und wenn sie auf deinen Schoß will, setzt du sie immer wieder auf den Boden.“

„Du bist ein ganz ungezogenes Kind, Hermann! Agnes, bitte, nimm deinen Bruder und geh mit ihm hinaus!“ rief sie.

Aber die ältere Schwester ließ ihren Bruder nicht ohne weiteres tadeln. „Ja,“ sagte sie mit ihrer ganzen altklugen Wichtigkeit, „und einen Schnitz hast du ihm auch nicht an die Peitsche machen wollen, und Puppenkleider willst du auch nicht nähen für meine Lucie, und Fräulein Stübken sagt auch, du verstellst dich bloß, du hättest uns gar nicht lieb, weil du nie mit uns spielst!“

Aennes Lachen machte den unartigen kleinen Mund verstummen. „Na, nun aber rasch hinaus!“ rief sie, „geht zu Großmama in die Küche, ihr armen dummen Gören – faßt das Mariechen ordentlich an, damit es nicht hinfällt!“

„So!“ Sie hatte die Kinder aus der Thüre geschoben und lachte noch immer, sie wußte es selbst kaum. Ganz mechanisch setzte sie sich wieder auf den Fenstertritt und sah scheu zu Heinz hinüber, der dies kurze Zwischenspiel gar nicht bemerkt zu haben schien. Er stand noch immer vor dem Bilde, die Zähne aufeinander gebissen. „Kinder und Narren – –“ sagte er still für sich.

Sie atmete auf. Nein, er hatte ihr armes blutendes Herz nicht gesehen, von dem die Kinder soeben erbarmungslos den Schleier gerissen den sie so sorglich darüber gebreitet hielt. „Ihre Braut bleibt recht lange beim Vater“, bemerkte sie möglichst ruhig.

Er wandte sich langsam zu ihr. Sie saß da, die Arme verschränkt, den Kopf, wie erschöpft, an die Spiegelkonsole gelehnt, die Schultern emporgezogen, als fröstelte es sie, das Gesicht blaß und wie verfallen.

[74] „Es ist kalt in diesem Zimmer“, beantwortete sie seinen verdunkelten Blick, in dem der ganze grenzenlose Jammer um sie beide lag.

„Benachrichtigen Sie, bitte, meine Braut, ich sei vorausgegangen in den Marstall, Fräulein May,“ sagte er plötzlich. „Ich habe nämlich augenblicklich die Aufgabe, mich in meinen Beruf möglichst rasch einzuleben.“

Ehe sie sich noch erheben konnte, hatte er sich verbeugt und das Zimmer verlassen. Sie sah ihm nach, wie er über den Platz schritt, und dann blickte sie in der Stube umher, als habe sie dieselbe nie vorher gesehen. Da ertönte von draußen ein gellendes Geschrei des kleinen Mariechen und die Stimme der Mutter. „Aenne, bekümmere dich doch um die Kinder!“

Sie ging hinaus und hob das schluchzende Kind auf den Arm.




Die Oberförsterei, die nur durch einen Baumgarten von dem Hause des Medizinalrats getrennt lag, war eins der stattlichsten Gebäude des Platzes. Die Herzöge von Breitenfels hatten stets der Jagdpassion in hohem Maße gehuldigt. Ehemals, als Breitenfels noch ein selbständiges Land bildete, hatte in diesem Gebäude der Oberforstmeister gewohnt; nun, nachdem schon seit hundert Jahren die beiden Herzogtümer verschmolzen waren, bestand diese hohe Charge nicht mehr in Breitenfels und der Oberförster bewohnte das Gebäude. Die alten Mauern des zweistöckigen Giebelhauses bargen herrschaftliche Räume mit stuckverzierten hohen Plafonds, parkettierten Fußböden und breiten Flügelthüren. Im Flur hingen alte lebensgroße Oelbilder fürstlicher Jäger und unzählige Geweihe, und die schöne breite Treppe schmückte ein kunstvolles schmiedeeisernes Geländer.

An diesem Nachmittag war zu Ehren des erwarteten Besuches über die roten, frisch gescheuerten Fliesen des Hausflurs verschwenderisch Sand gestreut, und ein durchdringender Geruch von Räucherpulver quoll den Eintretenden entgegen. Aenne, die mit der Mutter das Haus ihres Verlobten betrat, fuhr fast zurück vor dieser süßlichen schweren Luft, die sich betäubend um ihren schmerzenden Kopf legte.

Aus der Wohnstube rechts kam der Oberförster ihnen entgegen, hinter ihm drängten die Kinder nach. Der große Mann war sichtlich bewegt und streichelte leise die Hand des jungen Mädchens, die er behutsam in seinen Arm genommen hatte, sie zu küssen wagte er nicht in Gegenwart so vieler. „Kommen Sie herein, Mamachen, legen Sie im Zimmer ab – tritt ein, Aenne,“ bat er einfach.

Fräulein Stübken, die jetzt im schwarzen Kleid und zierlichen Schürzchen auf der Schwelle erschien, zeigte sich sehr dienstbeflissen bei Abnahme der Sachen. Es war schon ein wenig dämmerig in dem großen Gemach, in das der einfache Hausrat gar nicht zu passen schien, aber der Feuerschein des Ofens spielte traulich auf dem altersbraunen Fußboden, der Kaffeetisch war mit blendend weißem Tuch bedeckt und aus der großen weißen Porzellankanne quoll ein würziger Duft entgegen.

„So, Frau Schwiegermama, nun wollen wir zuerst gemütlich Kaffee trinken. - Fräulein Stübken, wo haben Sie Ihre Waffeln? – Kommt, Kinder – wer von euch will auf der andern Seite der neuen Mama sitzen?“

Es meldete sich keines, und so zog er die Aelteste heran. „Hier, Aenne, ich hoffe, sie wird dir bald eine kleine Stütze werden. Sei artig, Agnes, und präsentiere Großmama den Kuchen!“

Man saß dann und genoß den Kaffee. Fräulein Stübken machte die Wirtin und nötigte überflüssig viel. Ganz besonders aufmerksam war sie Aenne gegenüber, was diese absolut nicht zu bemerken schien. Aenne hatte durch die Kinder erfahren, wie die Hausdame ihres Bräutigams über sie dachte, zürnen that sie ihr nicht, denn es war ja die Wahrheit, aber sie ignorierte sie. Wozu auch ihr gegenüber lügen? Es war ja genug, daß sie Heinz belog!

Die Stübken, eine Dame von ungefähr dreißig Jahren, etwas mehr geputzt als sonst nötig und mit höchst moderner Haarfrisur, hatte einen verkniffenen Zug um den Mund, wie er den unglücklichen Geschöpfen, die vom Schicksal von einem Hause in das andere gejagt werden, von denen jede Brotherrschaft fordert, daß sie sich mit „aller Liebe“ ihrer Aufgabe widmen, so oft eigen ist. Aenne, welche seit ihrer Verlobung für die Arme, die sich nun wieder eine andere Stellung suchen mußte, inniges Mitleid gefühlt und erst seit heute mittag über die Charaktereigenschaften dieser Dame sich Gedanken gemacht hatte, faßte sie genauer ins Auge und meinte, daß sie älter und verfallener als je aussähe, und daß sie vielleicht gehofft habe, Günthers Frau zu werden.

Hätte er sie doch genommen! fuhr es ihr plötzlich durch den Sinn, und dann erschrak sie über diesen Gedanken. Was hätte sie dann gethan, wenn Günthers Arme nicht mehr für sie offen gewesen wären? Wie hätte sie dann beweisen können, daß Heinz ihr gleichgültig, ach, so gleichgültig war?

„Ich denke, Fräulein Stübken, Sie zeigen, solange es noch hell ist, den Damen die Wohnung und die Schränke,“ sagte Günther endlich, der seine Braut zuweilen angesprochen hatte, ohne mehr als eine kurze Antwort zu erhalten.

Man erhob sich, Fräulein Stübken hing den Schlüsselkorb an den Arm und schritt voran; den Kindern wurde bedeutet, artig zu sein. Man wanderte durch mehrere Räume, alle, höchst dürftig möbliert, machten einen mehr als unwohnlichen Eindruck. Die „gute Stube“ war geradezu schauerlich, die Möbel aus Birkenholz mit grellgeblumtem Wollstoff überzogen, der Teppich mit kohlkopfgroßen Rosen im Muster; der Kaiser, die Kaiserin, der Herzog und die Herzogin, Bismarck und Moltke blickten als empörend schlechte Oeldruckporträts von den Wänden. In einer Ecke befand sich ein aus Holz geschnitztes schiefes Rauchtischchen, in dessen Rillen und Kerben dicker Staub lag, Die Vorhänge, steif gestärkt und viel zu sehr mit Waschblau gefärbt, und vor dem Spiegel die herkömmliche Sturzuhr mit Glasglocke darüber, vollendeten die Ausstattung.

„Schrecklich!“ dachte Aenne, und die Eltern und Günther hatten allen Ernstes ausgemacht, daß sie keine Aussteuer an Möbeln gebrauche! Erst gestern hatte auch der Vater das gütige Geschick gepriesen, daß Aenne sich so nett und warm in das behagliche Nestlein setzen könne. Zum erstenmal überfiel sie eine herzbeklemmende Angst vor dem Lose, das sie sich erwählt, und drohte sie fast zu ersticken. Wie öde, wie kalt war es hier!

„Ein bißchen ungemütlich hier, Kind,“ flüsterte die Mutter, „macht, weil nicht geheizt ist! Eine Frauenhand kann da mit ein paar Kleinigkeiten viel thun, mit ein paar Blumentöpfchen lassen sich Wunder erzielen.“

Ja freilich, Mama hatte recht, das war es. Wärme fehlte, ein bißchen Sonne und Blumen!

Fräulein Stübken forderte jetzt die Frau Medizinalrätin auf, in die Schrankkammer zu treten, sie habe ein Verzeichnis der Wäschestücke in jedes Fach gelegt.

„Und ich will dir indessen meine Stube zeigen,“ sagte der Oberförster zu Aenne, „Mama holt uns dann ab, wenn sie hier fertig ist.“

Einen Augenblick stockte ihr Fuß, dann ging sie mit. Sie war seit dem Abend im Walde noch nicht wieder mit ihm allein gewesen, sie hatte es vermieden. In diesem Augenblicke fand sie indes keinen passenden Vorwand und es war ja schließlich auch thöricht, danach zu suchen. So ging sie denn neben ihm durch den großen Flur und betrat die Schwelle des Zimmers, das der Wohnstube gerade gegenüber lag. Der letzte falbe Tagesschein erhellte es nur noch notdürftig, und auch hier spielten die Flammen im Ofen. In ihrem Schein lagen mehrere Hunde auf der Diele, die, durch den Eintritt einer fremden Person beunruhigt, sich knurrend aufrichteten. Auch hier eine spartanische Einfachheit, soweit Aenne sehen konnte, ein riesenhafter Schreibsekretär an der Wand, drüben, nahe beim Fenster, davor ein Ohrenstuhl, ein mächtiges Sofa, über dessen Lehnen Fuchsfelle gebreitet waren. Unmassen von Tierbildern in Kupferstich an den Wänden, zwischen ihnen noch Geweihe, ein Gewehrschrank, ein Kleiderschrank und unter der Decke blauer Tabaksrauch.

„Kuscht euch!“ befahl er den Hunden, und dann zog er seine Braut zum Sofa hinüber. „Komm', Aenne, setze dich!“ Er hatte etwas Unbeholfenes in seinem Benehmen, und Aenne fühlte, wie seine Hand zitterte. Mechanisch folgte sie seiner Aufforderung und drückte sich in die äußerste Ecke des mit schwarzem Leder überzogenen Kanapees. Er setzte sich neben sie und nahm wieder [75] ihre Hand, und als er fühlte, daß auch sie leise zitterte, sagte er weich:

„Hast du Angst vor mir, mein kleines Mädchen?“

Sie antwortete nicht.

„Mußt auch nicht,“ fuhr er treuherzig fort, „ich bin dir so gut, so sehr gut; es thut mir weh, wenn du dich fern von mir hältst. Fasse ein wenig Vertrauen zu mir, Aenneken, willst doch mein guter Engel werden – hast mich doch lieb?“ Er hatte ihren Kopf an seine Brust gepreßt, seine große Hand drückte ihren Scheitel wie ein Riesengewicht.

Sie konnte nicht antworten, sie wußte weiter nichts zu thun, als es still zu dulden.

„Siehst du, Kind,“ fuhr er leise fort, „es ist mir ja selbst ein Wunder, daß du Ja! gesagt hast. Ich bin nicht verblendet über mich, ich bin aus kleinen Verhältnissen herausgekommen, habe hart gearbeitet in meiner Jugend, scherwenzeln und glatte Worte machen habe ich nicht gelernt. – Schön bin ich auch nicht, und drei Kinder hängen an mir – das einzige, womit ich dich gewinnen könnte, ist ein Herz voll Liebe und Treue für dich, Kind, und daß du dies herausgefunden hast, das ist mir eben so wunderbar, wo ich es doch immer versteckt habe vor dir, denn ich meinte, du seiest zu gut für mich! – – Oder ist es Mitleid gewesen, Aenne, mit mir und meinen Kindern? Sag' 'mal ehrlich, Aenne, habe den Mut – Ja? War’s Mitleid? Ich nehme es dir nicht übel – ich wollte dich schon längst fragen.

Sie schüttelte leise den Kopf.

„Nein?“ forschte er und es klang wie Jubel und er bog sich hinunter und küßte sie. „Wenn du jetzt ‚Ja!‘ gesagt hättest, Aenne, wenn du – er war aufgesprungen und ging im Zimmer umher, dann setzte er sich wieder neben sie und hob sie auf seine Kniee, als sei sie ein Kind – „Weißt du, was ich geworden wär', wenn du Ja! gesagt hättest? – Nein, Aenne, ich lasse dich nicht fort, bleib' ruhig – weißt du es? – Ein einsamer Mann wäre ich wieder geworden, denn ich hätte dich freigegeben in der nämlichen Minute! Komm, Mädel, du sollst es wissen, warum! Nicht um meinetwillen – dein Mitleid wäre für mich immer noch ein großes Glück – um deinetwillen, Aenne, denn – – und nun sage ich dir etwas, das außer dir kein Mensch weiß, vielleicht auch verstehst du es gar nicht, denn um das ganze Elend zu begreifen, muß man die Erfahrung hinter sich haben.“

Sie war aufgesprungen, sie wollte ausrufen „Ich will dein Geheimnis nicht, denn ich liebe dich ja nicht!“ aber er zog sie wieder auf sein Knie, und dann sagte er langsam wie mit gebrochener Stimme. „Ich habe meine erste Frau nicht geliebt! – Aenne, weißt du, was das heißt? Nein, das weißt du nicht – Gott mag's jedem ersparen, denn wenn's eine Hölle giebt auf Erden, ist es dies!“

„Eine Hölle auf Erden“ hatte er gesagt. Sie machte sich heftig los und stand auf; er ließ sie, es war, als sei er in alten schweren Gram versunken, so still saß er da und starrte vor sich hin. Und sie war zum Fenster geflüchtet und ihre Blicke hingen an einem Licht, das schimmerte im Erkerbau des Schlosses, drei Treppen hoch. – – Ihr war zu Mut, als müßte sie ersticken vor Angst und hinter ihr redete jetzt der Mann aus dem Dunkel, als spräche er mit sich selber:

„Und wenn man die so ansieht, mit der man zusammen geschmiedet ist, mit Ketten, die tausendmal drückender sind als eiserne, wenn man bei allem, was sie thut, denken muß, wie ist das nun wieder dumm und ungeschickt! Wenn man an dem ganzen unseligen Geschöpf nur Tadelnswertes findet, wenn es gar nichts recht machen kann wenn einem schon die Fingerspitzen kribbeln, tritt sie nur ins Zimmer, wenn man das Antlitz, von dem man wünscht, es nie gesehen zu haben, jeden Mittag bei Tische sich gegenüber erblickt, wenn man der Elenden fluchen möchte für jeden Dienst, den sie einem leisten muß, wenn man aufwacht des Morgens und ihr Gesicht ist das erste, das einen ansieht, vorwurfsvoll und bittend, und man fühlt statt Mitleid – Zorn in sich! Wenn man froh ist, sobald die Hausthür hinter uns zuschlägt – wenn – –“

Er stand auf, kam herüber zu ihr und zog sie zärtlich an sich. „Ach, du hast viel zu thun, Aenne, du mußt alles wieder gut machen, was schwere lange Jahre mir angethan haben!“

„Aber weshalb – –?“ stieß sie hervor.

„Weshalb ich sie nahm, Kind? Ach, Aenne, wie soll ich dir das sagen, wie kommt das zuweilen? Der eine thut es aus Gedankenlosigkeit, der andere in der Laune einer unseligen Stunde, der dritte aus Trotz. Verstehe mich um Gotteswillen nicht falsch, es liegt mir nichts ferner, als die Mutter meiner Kinder noch im Grabe zu tadeln. Sie war des Oberförsters Nichte, droben in Brotterode, war älter als ich – ich jung, ehrgeizig und arm. Ich kannte keine andere und sie wollte mich, sie liebte mich, sie stellte sich mir in den Weg, wo immer ich ging, und die Leute, die redeten von einer guten Partie, von einer braven häuslichen Frau, von Einleben auch ohne Liebe und sagten, daß die leidenschaftslosen Ehen die glücklichsten wären! – – Dummes Zeug! Es geht nicht ohne Liebe, ohne Leidenschaft – sag’ ich!“ rief er heftig. „Nein! Oder – es sind Menschen ohne Herz, Puppen, die am Draht tanzen, Tiere sind’s! Und darum, Aenne, wenn ich vergehen sollt’ um dich – ohne deine Liebe ertrüg’ ich’s nicht – um deinetwillen! Und nun schweigen wir von meiner Johanna sie ruht aus von vielen Enttäuschungen, ist auch wohl nicht glücklich gewesen mit mir, obwohl ich glaube, sie wußte nicht, was sie entbehrte. Ich habe es ihr wenig gezeigt, wie es um mich stand. Aber, siehst du, Aenne, gerad' in dem stillen gleichgültigen Nebeneinander, in dem unterdrückten Schmerz – da liegt das Elend!“

Und wieder zog er sie an sich. „Aenne“, sagte er leise und innig. Und ihr war es, als drehte sich alles um sie in rasendem Wirbel, sie fühlte nichts als ihre eigene ungeheure Schuld diesem Manne gegenüber, wenn sie jetzt schwieg – und sie konnte nicht reden! Sie hatte Liebe verleugnen können, Liebe heucheln diesem gegenüber – nie!

„Ich muß dir etwas sagen“, rief sie, angstvoll sich an ihn schmiegend, „ich muß –“ Und dann brach sie in ein leidenschaftliches thränenloses Schluchzen aus und blieb dennoch stumm.

In diesem Augenblicke wurde die Thür geöffnet und Lampenschimmer fiel herein. Frau Rat und Fräulein Stübken sahen nur noch, daß der Oberförster seine Braut im Arme hielt, ihr Weinen war jäh vorüber.

„Wir müssen wohl heim,“ sagte die Mutter freundlich, während Fräulein Stübken, die die Lampe auf den Tisch gestellt hatte, das Zimmer verließ. „Einen Augenblick setze ich mich noch; natürlich, lieber Hermann, ist’s Zeit, ich will Ihnen die Ruhe nicht nehmen. Dies ist auch ein nettes Zimmer,“ fuhr sie fort, Aenne Zeit lassend, sich zu sammeln, ohne im mindesten Neugier zu verraten „und das da ist wohl Ihre liebe selige Frau?“ erkundigte sie sich leise und deutete auf ein Bild über dem Schreibtisch, eine Photographie in schwarzem runden Holzrahmen.

Er schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, das ist ein früh verstorbener Bruder von mir, der Theologie studierte.“

„In Ihrem Zimmer kein Bild der Verstorbenen?“ stotterte Frau Rat. „I Spaß, da ist’s ja!“ Und nun erhob sie sich und schritt zu dem Tischchen hinüber, auf welchem eine Wasserflasche stand, ein Leuchter und Zündhölzchen. Aber als sie die Lorgnette nahm, um es zu betrachten, war es nur ein schon gedruckter Spruch:

Selig das Haus, das in Liebe gebaut!

und darunter:

1. Korinther 13. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

„Ein schöner Spruch, nicht wahr?“ rief er heiter. „Ich denke, er soll so recht extra für uns erdacht sein, und behaglich wollen wir es uns machen in dem alten Bau! Sie haben freie Hand, liebe Mutter, können schalten und walten wie Sie wollen, denn ich werde selten daheim sein in der nächsten Zeit. Wenn der Herzog kommt, so ist – –“

„Kommt Hoheit?“ unterbrach die Rätin neugierig, „ich meinte, er wolle in diesem Jahr Breitenfels nicht beehren?“

„Uebermorgen ist er da.“

„Mit großem Gefolge?“

„Nur Jagdgäste, die Herzogin ist nach dem Süden gereist.“

„Ohne Theater?“

„Ei bewahre! Das hielte Hoheit nicht aus. Diesmal ist’s das Opernpersonal, das er mitbringt. Da soll mein kleiner Schatz ordentlich Musik hören, mein Sitz steht dir immer zur Verfügung. Woher ich das weiß? Ich erfuhr das alles aus [76] einem Briefe vom Jagdjunker Zerbau. - Mit dem ‚Freischütz‘ fangen sie an.“

Man war unter diesen Gesprächen aus der Oberförsterei hinaus und bis an die Maysche Thür gelangt. „Ich sage dir noch gute Nacht, Aenne,“ flüsterte er, „aber ich muß erst mit den Kindern essen.“ Dann trennten sie sich.

Am späten Abend noch, als der Medizinalrat und Tante Emilie schon die Ruhe gesucht hatten und Aenne sich auch von der Mutter zu trennen im Begriff war, die im Zimmer noch allerlei zu ordnen und zu kramen hatte, fragte das Mädchen beim Gutenachtkuß, stockend und die Farbe wechselnd. „Mama, weißt du nicht, ob Günther mit seiner ersten Frau zufrieden lebte?“

Die Rätin schob die Brille auf die Stirn und sah ihre Tochter groß an. „Du willst wohl gar auf eine Gestorbene eifersüchtig werden?“ rief sie. „Fange doch solchen Unsinn gar nicht erst an, Kind!“

„Eifersüchtig, Mama, nein! Mir ist nur, als ob ich ’mal gehört hätte, es sei da nicht so ein strahlendes Glück gewesen.“

„Strahlendes Glück! Kleines Schaf, wie stellst du dir denn eigentlich die Ehe vor? So viel ich weiß, sind die Leute rechtschaffen miteinander ausgekommen. Glück? Was heißt denn Glück? – Zu dummes Zeug!“

„Ich habe mich noch immer nicht richtig ausgedrückt, Mama – Ob sie sich lieb hatten, meinte ich.“

„Na, Gott – natürlich! Oder meinst du, ein Mann weint so bitterlich wie er über die Frau im Sarge, wenn sie ihm gleichgültig war?“

„Das könnte am Ende Reue gewesen sein,“ bemerkte Aenne nachdenklich.

„Worüber Reue? Etwa darüber, daß er Geduld mit ihr hatte, als sie an der Schwindsucht zu kränkeln begann, lange Geduld? Daß er sie drei Monate hindurch Tag und Nacht auf dem Siechbette gepflegt hat wie eine Diakonissin, und daß er das Mariechen, bei dem ihr Leben schließlich erlosch, aufzog wie eine Kinderfrau? Ich meine, der hat wahrlich nichts zu bereuen! Wie kommst du auf solchen Schnack, Aenne?“

„Geduld hat er mit ihr gehabt, Mama?“ wiederholte das Mädchen langsam. „Glaubst du, er würde auch mit mir Geduld haben?“

„Wollen’s hoffen!“ gähnte Frau Rätin, die ihr Kind nicht verstand, „stelle sie nur nicht zu sehr auf die Probe! Weißt du was? Wenn deine Hochzeit vorüber ist, thue ich ein Dankopfer – mir graut vor der nächsten Zeit!“

„Mir auch,“ sagte Aenne leise und ging aus dem Zimmer. Droben saß sie dann auf ihrem Bette und grübelte. „Sagen muß ich es ihm und bitten will ich ihn, daß er mich dennoch nimmt. Ich will mir Mühe geben,“ flüsterte sie und preßte die Hände zusammen, „er darf mich nicht verlassen, er soll auch mit mir Geduld haben!“

Und dann erinnerte sie sich seiner Beschreibung des öden trostlosen Lebens neben der ungeliebten Frau. „Eine Hölle“, hatte er gesagt! Und sie wollte trotzdem diese Schwelle überschreiten? Sie versuchte, es sich vorzustellen ob sie ihn immer würde ertragen können, ihn und die Kinder. Und sie streckte die Hände aus wie abwehrend und schlug sie gleich darauf vor ihr glühendes Antlitz.

„Ich will nicht, ich kann nicht!“ stöhnte sie. Und nun dachte sie an Heinz, und die Röte der Erregung wich der Blässe des starren harten Trotzes.

„Es muß sein!“ sagte sie, „es muß sein!“ [85] Wochen vergingen und es blieb alles beim alten. Aenne hatte ihren Verlobten nur selten gesehen, er war völlig in Anspruch genommen von seinem Beruf infolge der Anwesenheit des Herzogs, der ohne Günthers Begleitung keinen Pirschgang unternahm. Zu einer Aussprache hatte sie keine Gelegenheit gefunden, aber auch den Mut nicht. Wenn sie in seine Augen blickte, die stets einen Schimmer von Rührung und Zärtlichkeit bekamen, sobald sie auf ihr ruhten, preßte ihr die Angst den Mund zu. Was sollte dann werden, wenn er ihr antwortete: „Nein, Aenne, nein – laß uns auseinander gehen, ich weiß, was es heißt – ohne Liebe heiraten!“

Ja, was sollte dann werden? Weiter leben im Hause der Eltern? Unter den Augen von Heinz, in der Erfüllung der geringen Pflichten, die nicht den tausendsten Teil ihrer jungen Kräfte erforderten? Nein! Andere Arbeit brauchte sie, schwere Pflichten, die sie so in Anspruch nahmen, daß sie nicht Zeit fand, nach rechts und links zu sehen! Erst nach der Hochzeit wollte sie ihm alles sagen, dann mußte er sie behalten, mußte Geduld mit ihr haben!

– – – – – – – – – – – – – – –

Droben im rechten Flügel des Schlosses, den der Regierende zu Jagdzeiten bewohnte, schimmerte allabendlich die Reihe der hellen Fenster in die Nacht hinaus, und auf dem sonst so stillen Schloßplatz war reges Leben. An den Straßenecken klebten Programme: „Herzogliches Hoftheater zu Breitenfels“, vor dem Gasthofe droben hielten abends lange Reihen von mehr oder minder feinen Equipagen, denn die Bewohner der umliegenden Städtchen, Dörfer und Rittergüter kamen, um den Vorstellungen beizuwohnen, die für sie einen seltenen Genuß boten. Es war ja anerkannte Thatsache, daß das herzogliche Hoftheater über vorzügliche Kräfte verfügte.

Aenne saß beinahe jeden Abend in der Loge der herzoglichen Beamten auf einem der beiden Plätze, die dem Oberförster gehörten; den andern Platz nahmen abwechselnd Fräulein Stübken, die Mutter oder Tante Emilie ein; Aenne war es gleichgültig – wer. Sie sah und hörte nicht, was sonst um sie her geschah, sie ging völlig auf in den Tönen, und hier allein vergaß sie ihre ewig quälenden Gedanken.

Diese Plätze befanden sich in den Seitenlogen des zweiten Ranges des winzigen Theaterchens. Es war heiß dort innen und dunkel, Aenne merkte es nicht. Gegenüber, auf seiten der Herzogin-Mütter, sah sie in der Prosceniumsloge Abend für Abend die hohe Frau mit ihren Hofdamen, Frau von Gruber, Fräulein von Ribbeneck, [86] und dem Kammerherrn. Heinz hatte sie nicht wieder erblickt, sie wußte nur, daß er sofort beurlaubt worden, daß er den Abschied eingereicht habe und sich mit unerhörtem Fleiß in seine neuen Pflichten einzuleben bemüht sei. Ihre Durchlaucht hatte das gnädig dem Medizinalrat anvertraut und auch, daß sie glaube, eine ganz vorzügliche Acquisition gemacht zu haben.

Es war, als ob sich alle die tobenden Wässer anschickten, ruhig und ehrbar in den Bahnen dahin zu fließen, die sie sich selbst gewählt hatten, als vernünftige Bächlein, die bestimmt waren, zu nützen und zu arbeiten, bis sie dereinst in dem großen Meere untertauchten.

Aenne erfuhr auch eines Tages, daß der dritte Weihnachtsfeiertag für die Hochzeit des Herrn Hofmarschalls ausersehen sei. Sie ertrug’s kaum, wenn von ihm die Rede war, aber sie nahm sich zusammen, nur erschien sie still, gedrückt und merkwürdig gleichmäßig. Die Mutter hielt das für die natürliche Folge des Brautstandes, dem Vater aber gefiel ihr Aussehen gar nicht. „Nervös“, sagte er, „sie wechselt zu oft die Farbe, und in ihren Augen flackert es, als hätte sie Fieber.“

Er verschrieb ihr Chinin und verordnete Spaziergänge.

„Nimm die Kinder mit, wenigstens die großen,“ schlug die Mutter vor, „es wird dich zerstreuen!“

In Aennes Herzen bäumte sich jäh etwas auf. Sie ertrug seit jenem Tage, wo der Junge und das Mädel nach Kinderart ihr ins Gesicht gerufen. „Du liebst uns ja gar nicht“, die kleinen Geschöpfe kaum noch, sie konnte sich zu keiner Liebkosung mehr aufraffen, sie fühlte sich erkannt von ihnen – Kinder sind größere Herzenskundige als man denkt – und so fiel die Antwort auf den Vorschlag der Mutter heftig ablehnend aus. Ob man ihr denn nicht noch die paar Wochen Freiheit gönnen wolle, fragte sie mit flackernden Augen, sie wünsche allein zu gehen, ganz allein, sogar ohne Tante Emilie!

Frau Rätin war sehr erschreckt ob dieses Ausbruches. „Herrgott, ja!“ sagte sie, „sei doch nur ruhig; an Kinder muß man sich erst gewöhnen ich weiß ja, aber was du gegen Tante Emilie jetzt hast, das ist mir unverständlich.“

„Na, laß sie doch nur, Schwägerin“ beruhigte diese, „wir beide wissen, wie wir dran sind miteinander – es wird auch wieder besser, gelt, mein Engelchen?“

Das „Engelchen“ antwortete aber nicht und ging allein spazieren im Schloßgarten, immer dieselben Wege, so ganz einsame und unbetretene, von denen sie wußte, daß sie niemand auf ihnen begegnen würde als höchstens einem der zahmen Rehe oder einem Arbeiter. Die todestraurige, spätherbstliche Natur, die so sehr ihrer Stimmung entsprach, schien sie zu beruhigen.

Auch heute war sie draußen. Von Unruhe gequält, hatte sie die Näherei auf den Tisch geworfen, müde, ihren Namen dutzendweise in die Taschentücher zu sticken die sie zur Aussteuer bekommen hatte. Hut und Mantel angethan und war ihrer Wege gegangen. Es war so um drei Uhr nachmittags eines trüben Novembertages, die Wolken drohten mit Schnee bei völlig windstiller köstlicher Luft. Der Parkweg, auf dem Aenne dahin schritt, führte bergan zu einem nicht mehr benutzten schloßartigen Lustbau, in dessen Räumen nur noch Gartengerätschaften und das Futter für das zahme Wild aufbewahrt wurden. Man hatte von dort eine reizende Aussicht über den großen Teich und die Baumpartien des Gartens bis zum Schloß hinüber, das sich von dieser Seite besonders stattlich darstellte. Hier oben, auf dem kleinen Platz vor dem „Luisenschlößchen“, stand sie still und betrachtete das liebliche Bild. Auf dem Turme wehte die Flagge des regierenden Herzogs, er gedachte in diesem Herbst lange zu bleiben, man sprach sogar davon, daß er das Weihnachtsfest hier verleben wolle. Wenn er abreiste – dann – das hatte ihr gestern abend Günther gesagt – dann war ihre Hochzeit.

„Es wird ja doch nichts daraus“, pflegte Tante Emilie zuweilen zu behaupten, und deshalb mied Aenne sie. Aus ähnlichem Grunde ging sie dem Fräulein Stübken aus dem Wege, die ihr immer mit einem so eigentümlich malitiös mitleidigen Lächeln entgegen trat, das sich zu mühsam beherrschtem Grinsen steigerte, wenn sie Aenne mit den Kindern zusammen sah, den Kindern, die der künftigen Mutter mit einer förmlich ostentativen Gleichgültigkeit begegneten und ebenso ostentativ jubelnd in Fräulein Stübkens Arme flüchteten.

Wieder stand sie da und grübelte. „Einen Ausweg, nur einen Ausweg!“ ohne die Lösung zu finden. Hinter ihr klangen jetzt Schritte, und als sich Aenne langsam umwandte, mit gerunzelter Stirn ob dieser Störung, erkannte sie in der eleganten Erscheinung, die auf sie zuschritt, die Diva des Breitenfelser Hoftheaters, Fräulein Jeannette Hochleitner eine schöne Blondine, sehr chic kostümiert und von jedermann im Städtchen gekannt, belobt und beklatscht.

„Gott sei Dank“, sagte diese mit klingender Stimme in unverkennbar österreichischem Dialekt, „endlich a menschlich’s Wesen! In dem Park kann ma ’s Gruseln lernen, an so a’m Tag! I bitt’, gnädig’s Fräul’n, erlauben ’s, in Ihrer Gesellschaft aus der Einsamkeit fortz’geh’n, denn i hab’ wirkli a sehr große Angst.“

„Sie fürchten sich?“ fragte Aenne, halb ungläubig, halb verlegen. „Aber hier ist’s völlig sicher und ich – ich habe meinen Spaziergang erst begonnen.“

„Ui jegerl! dös soll heiß’n – verschwind – i dank’ für di!“ lachte die Sängerin, „aber na, dös will i net! I bitt’ Euer Gnad’n, lass’n S’ mi hintendrein trotteln, i möcht’ a gern no a bisserl geh’n, und in der Windstille kann ma’s ohne Gefahr für die Kehl, und unsereins plauscht halt a gern a mal mit jungen Madeln. In dem Spuknest von Breitenfels, wo d’ Leut stumm z’ sein scheinen, verlernt man ja schließli ’s Reden!“ Und ohne Aennes Zusage abzuwarten, nahm sie ihre mit Seide gefütterten Röcke zusammen, um sie vor der Feuchtigkeit des Bodens zu schützen und schritt neben ihr, während sie weiter sprach.

„Gelten`s, Sie leben hier, gnä’ Fräul’n, ja? I’ seh’ S’ halt immer in der Loge von dem Herren Hofbeamten, da, wo der junge Dackel, der Sternitzki, seinen Platz hat. Sie kennen ihn doch, den Sternitzki, den Vorleser von Hoheit? I muß da immer naufschaun, denn, wissen S’, der Sternitzki sieht meinem Brüderl so ähnli, daß ’s rein zum Staunen is – mein gut’s Brüderl!“

„Sie sprechen österreichischen Dialekt, Fräulein Hochleitner, sind Sie aus Wien?“ fragte Aenne, um nicht ganz zu schweigen.

Das schöne Mädchen lachte. „Dös haben’S wirka raus g’fund’n? Na, dös ist schon a Kunst – ja, i bin aus Oesterreich. O, mein liebs Innsbruck, dös is a Stadt, da müssen S’ mal hinreisen! Wissen S’, dös ist so a Städterl für a Hochzeitsreisn – sagen S’ nur a mal Ihr’m Liebsten: Hör’, du muast mit mir nach Innsbruck, Schatzerl, oder i nehm’ di net, und dann –“

„Mein Bräutigam bekommt schwerlich Urlaub, und ich glaube auch nicht, daß eine Hochzeitsreise überhaupt in seinem Plane liegt“, sagte Aenne ruhig.

„Jesses Maria – Se san schon verlobt?“ rief die andere. „Du mein! I hab’ da nur so an Schlag ins Blaue nein ’than.So jung und wollen schon ’s Kreuzerl auf sich nehm’n?“ Sie schüttelte sich ordentlich. „Da hat Ihnen g’wiß das Mutterl zug’redt, fuhr sie fort „ja, so sind d’ Mütter. D’ meine hat’s a so mach’n woll’n mit mir, is a Aner daher komm’n wia i grad siebzehn war, und hat ihr vorg’redt von die schönen soliden Verhältnisse, in die i komm’n thät, und dös hat ihr ka Ruh’ net g’lass’n. Tag und Nacht hat s’ mir in die Ohr’n g’leg’n, und hat g’sagt ’Net wahr, Schani, du bist g’scheit, du thust ’n nehm’n! Denk’, du bist a arm’s Mad’l, ’s Vatterl kann d’r ka Geld hinter lass’n und der Fedor – das is mein Brüderl – der braucht a a ganz g’hörigs Stück in sei’m Wien bei die Student’n, und wer weiß, ob sich a Versorgung zum zweitenmal bietet. Net wahr, du nimmst ’n, Schani?“ „Aber i hab’ natürli net g’wollt und hab’ die Zung’n hinter ihm außerg’streckt, wie er gangen is, und hab’ g’sagt, er soll no a bissel wartn, i sei no z’ jung. Dann ist ’s Schreckliche kommen, mein arm’s Vatterl hat sich bei der Sektion einer Leich’ – er war Dokt’r – a Blutvergiftung –“

„Ihr Herr Vater war Arzt?“ fragte Aenne teilnehmend.

„Ja! Wundert’s Ihne gar, daß sein’ Tochter Opernsängerin worden is?“

„O nein,“ antwortete Aenne zögernd, „nur – mein Vater ist auch Arzt.“

„Da sind S’ wohl das Töchterl vom alten Medizinalrat May? Ja, na freili, jetzt erkenn’ i Sie auch ja, wissen S’, da müssen S’ mir das Patscherl geb’n, i hab’ ihn so gern, Ihr’n lieben Papa, er hat mir ja im vorigen Jahr so prachtvoll [87] kuriert – na, wie mi dös freut! Er is so gemütli am Krankenbett und macht gar Spaß, wann er a’m quält mit seine Instrumenter. Sehen S’, so war mein Vatterl auch, und dann hat er so arg schnell dran glaub’n müss’n, in drei Tag lebendig und tot! Und wie’s ein Vierteljahr her war, daß mir ihn begraben hatten, da is der G’wisse wieder komm’n, er hat’s ja guat g’wußt daß ka Vermög’n da war und die Witwe in Not is mit der Tochter, und da ging’s aufs neu über mein arm’s G’müt her. Ui, was hab’n mir d’ Leut’ zug’setzt! Ganz mürb’ haben’s mi g’macht, und endli hab i noch vierundzwanzig Stund’ Bedenkzeit verlangt, und da haben’s a Ruh’ geb’n und g’meint, nun hätten’s mi. Aber wie die vierundzwanzig Stund’ um g’wes’n sein, da haben’s nur a Brieferl g’fund’n, das i für mein Mutterl zum Abschied auf’n Tisch gelegt hatt’, und i bin derzeit schon in Wien g’wes’n bei aner Dam’, die mein Vatterl von schwerer Krankheit g’rettet hatt’. Da hab i dann das Brüderl hinkommen lass’n und hab’ ihm g’sagt. – so und so, und jetzt thust mi auf d’ Musikschul’ begleit’n, i will a Sängerin wer’n, will mi prüf’n lass’n. ’S wird ja doch wohl um Gott’s willen noch an andern Weg geb’n zum Fortkommen für a rechtschaffen’s Mad’l als das Heiraten.’ Er hat z’erst gar große Aug’n g’macht und g’fragt: „Von was willst studieren, Schani?“ ,A Freistellen muß i hab’n!’ is mein Antwort g’wes’n, sie wer’n do a Freistell’n hab’n für die Tochter von an braven Mann, der bei Königgrätz ist verwundet word’n? I bitt’ bei unserm Kaiser drum. – Na, kurz und gut, und da, schau’n S’ mi an, so bin i word’n! – Net wahr, ’s läßt sich ertrag’n?“

„Und Ihre Mutter?“

„War doch am End’ a vernünftige Frau und hat mein Brieferl mit Nutzen geles’n damals.“

„Was hatten Sie ihr denn geschrieben?“

„Gar net viel, nur das, daß i ’s für a Schand halten thät, wann’s Mad’l an Mann nähm’ ohne Lieb’, nur um a Versorgung z’ finden, oder aus Aerger oder sonst einer Ursach’, und daß i ka Lust hätt’, unglückli z’ wer’n und unglückli z’ mach’n, und daß ’s a noch and’re Möglichkeiten gab’, zu existieren, als unter der Haub’n. Sie hat’s mit der Zeit begriff’n, denn der Mann, der mi g’wollt hat, behandelt sein Weib schlecht; mei’ Tant’ in Innsbruck kann’s beobachten, sie wohnt net weit von ihm, so schräg gegenüber. Jetzt ist die Mutter ganz einverstand’n mit mir, führt a die Wirtschaft in der Residenz für mi, und ’s Brüderl besucht uns, wenn seine Kranken ihn fortlass’n von Innsbruck.“

Aenne blieb stumm eine ganze Weile; sie betrachtete nur mit großen forschenden Augen ihre Begleiterin, deren Geplauder gleich einer förmlichen Offenbarung für sie war. Als thue sich ein Vorhang vor ihren Blicken auf und zeige ihr, was dahinter lag – eine schöne leuchtende freie Welt! Herrgott, jene hatte ihr doch weiter gar nichts Besonderes erzählt als eine ganz einfache Geschichte, und doch umklang es sie wie eine frische schmetternde Fanfare, wie ein Frühlingslied! O, wer das auch könnte – ja, wer ihr das früher erzählt hätte! Wer so groß, so mutig wäre! – Aber das war nichts für sie! –

Sie senkte den Kopf und der graue Vorhang schnurrte wieder zusammen, und aus seinen Falten tauchten die vorwurfsvollen mißtrauischen Gesichter der Kinder auf, denen sie eine Mutter werden sollte, und Günthers Stimme meinte sie dabei herauszuhören „Weißt du, was es heißt – eine Ehe ohne Liebe? Eine Hölle auf Erden – das tiefste Elend!“

„Wie schau’n S’ denn aus?“ sagte jetzt das schöne Mädchen gutmütig, „die Augen sollt’ a Braut net machen!“

„Das ist auch sonst nicht meine Sache, ich bin eigentlich immer fröhlich,“ antwortete Aenne, gewaltsam ihre Gedanken zwingend, „ich habe nur heute ein wenig Kopfweh; aber sehr freut es mich, Sie, Fräulein Hochleitner, persönlich kennen. gelernt zu haben. Ich möchte – sie wurde plötzlich flammeud rot – „ich möchte Sie wohl erzählen hören von Wien in der Zeit Ihrer Studien und – sie stockte – „ich interessiere mich ja für Musik, ich singe selbst ein wenig.“

„Aber mit der größten Freud’, antwortete die Andere, „i bin so glückli, wann i plauschen kann – da will i Ihn’n an Vorschlag mach’n morgen geh’n mir wieder mitanander spazier’n, vielleicht a a mal a Stückerl in’n Wald, i hab’ den Wald gar so gern! Zeit hab’ i überviel, denk’n S’ doch, wir wärmen ja nur die alt’n Opern auf, für die ’s Theater die Dekorationen hat, sind so a bissel leichtes Zeug, wie’s Hoheit gern hat, wann die Gemahlin net da is, denn schau’n S’, Fräul’n May, sie is arg klassisch, die Frau Herzogin und Offenbach und Suppe sind ihr a Greuel – mir ja eigentlich auch, aber was soll man mach’n? Die Leonore in Fidelio’ ist mir a lieber, natürli, als die Eurydice in ‚Orpheus in der Unterwelt’! Na, i wollt’ nur sag’n, i hab’ freie Zeit und jetzt bestimm’n S’, wo mir uns morg’n treff’n woll’n, i freu’ mi schon darauf wie a Kind!“

„An der nämlichen Stelle wie heute,“ schlug Aenne vor.

„Schön, Sie halt’n a Wort, Fräul’n May? Um drei Uhr morg’n? Und heut abend, da schau’n S’ auf, die Rose Friguet wird Ihn’n an Blick in Ihr’n Schmollwinkel hinaufwerf’n – Sie kennen doch das ’Glöckchen des Eremiten’?“

„Ja, natürlich!“ sagte Aenne, „und heute kommt sogar mein Vater mit.

Die Damen trennten sich, die Oesterreicherin mit einem warmen „Tschau!“, Aenne mit einem freundlichen „Auf Wiedersehen!“

„Du hast ja ordentlich rote Backen, sagte die Rätin, von ihrer Arbeit aufsehend – sie nähte Knopflöcher in die Bezüge, als Aenne gerade zur Kaffeestunde wieder eintrat und sich mit den andern an den Tisch setzte. „Hast wohl Günther getroffen?“

„Nein“, sagte sie und ein leichter Schatten überflog ihr Gesicht, „aber es war ein schöner Spaziergang und ich freue mich auf das Theater heute abend.

„Ich möchte nicht alle Abend das Gesinge hören, meinte Frau Rätin verdrießlich, „und Gemütlichkeit hat man überdies kaum noch zweimal in der Wochen, das heißt, wo nicht gespielt wird. An Günthers Stelle hätte ich dir den Platz nicht ein für allemal gegeben ’s ist keine Vorbereitung für eine künftige Hausfrau, ewig im Theater zu sitzen und das dumme Zeug anzuhören – da giebt’s ja weiter nichts in den Opern als Liebeswahnsinn. Ich mein’ –

„Aber, Alte, sagte der Medizinälrat lachend, ereifere dich doch nicht! Bist selbst gern ins Theater gegangen, als du jung warst, und heute abend geht sie ja unter dem Schutze des Herrn Oberförsters.

Aenne wandte erstaunt den Kopf ihrem Vater zu. „Aber, Papa, ich dachte, du gingst mit?“

„Ja – nun sieh ’mal – Günther war vorhin hier – – der Herzog hat sich eine kleine Verletzung auf dem Pirschgang zugezogen, darum kehrten sie so früh zurück. So hat Günther grade Zeit heut’ abend, und da wollte Mutter eigentlich – –“

„Ich wollte, daß du zu Hause bleibst, natürlich, ergänzte Frau Rätin, „denn du wirst wohl annehmen können, daß Günther sich ’mal wieder nach einem gemütlichen Abend mit dir sehnt. Aber davon wollte er nichts wissen, wollte dir die Freude nicht verderben, sagte er. Er ist eben in den Fehler von so vielen Bräutigams gefallen – alles zu thun, was das liebe Herzchen will und ziehen sie dann als Ehemänner das entgegengesetzte Register auf, dann giebt’s ein Unglück. – Indessen, wer nicht hören will, muß fühlen!“

Aenne verteidigte weder sich, noch ihren Bräutigam, sie fragte nur nach einer ganzen Weile. „Papa, hast du nicht ’mal Fräulein Hochleitner behandelt?“

„Ja, im vorigen Jahr, als der Kollege – er nannte den Namen des Leibarztes Seiner Hoheit – „mit dem Herzog auf ein paar Tage nach Berlin verreist war. Ist eine ganze Wetterhexe, das Mädchen!“

„Und anständig?“ erkundigte sich Tante Emilie.

„Warum denn nicht?“ fragte Aenne.

„Mein Gott!“ machte Frau Rätin achselzuckend, als wollte sie sagen: Im allgemeinen haben die Damen des Hoftheaters kein Patent auf absolute Tugend genommen.

„I gar!“ meinte der Rat, „ich bekümmere mich nicht um solche Dinge.“

Aenne schwieg, aber langsam stieg ihr eine dunkle Röte ins Gesicht und sie sah eine ganze Weile ins Leere hinaus. Das Häkchen saß in ihrem armen zergrübelten Kopf und der graue Vorhang schien sich wieder ein wenig zu verschieben so daß ein goldiges Blitzen dahinter aufleuchtete.

[101] „Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll,“ erklärte Frau Medizinalrat acht Tage vor Weihnacht ihrer Schwägerin. Sie saßen nach dem Mittagsmahl in der Eßstube, Frau Rat mit der intensiven Röte im Gesicht, die bei ihr bekanntlich auf Sturm deutete, und verlasen Rosinen in ungeheuren Mengen, denn am folgenden Tage sollte die große Festbäckerei losgehen.

„Inwiefern weißt du nicht mehr, was du denken sollst?“ erkundigte sich Tante Emilie und schob ihre Brille zurück.

„Sie ist schon wieder spazieren gegangen,“ antwortete die Hausfrau stirnrunzelnd, „obgleich ich es ihr geradezu verbot wegen der enormen Arbeit. Dazu hat sie nun Zeit, aber als ich von ihr verlangte, sie solle doch nun endlich Anstalt machen und mit den Kindern zum Photographen gehen, da paßte es ihr nicht, wie schon seit acht Tagen, und es wär’ ein so hübsches Geschenk gewesen für Günther – Aenne und die Kinder auf einem Bild!“

„Ich kann solche voreilige Bilder nicht leiden,“ gab die kleine dicke Tante zur Antwort und beförderte ein ausgelesenes Häufchen Korinthen behutsam in die Schüssel, die sie auf dem Schoße hielt.

„Voreilige Bilder?“ fragte gedehnt die Rätin.

„Ja! Ich mag’s auch nicht, wenn sich Brautleute auf einem Bild abnehmen lassen; das ist nachher eine unangenehme Erinnerung, so lange sie leben, wenn nämlich nichts daraus wurde – verstehst du, Marie?“

„Na, Gott soll mich bewahren,“ antwortete diese, „du bringst einen auf recht nette Gedanken! Wenn ein Paar sich drei Wochen vor der Hochzeit nicht miteinander photographieren lassen soll, dann weiß ich nicht, wann es eigentlich geschehen könnte! Ich begreife außerdem nicht, Emilie, was du immer zu unken hast! Es ist eben nur, daß du für alles, was das eigensinnige Mädchen thut, eine Entschuldigung finden willst.“

„Erbarmen, Schwägerin, ich entschuldige sicher nicht alles bei der trotzigen Marjell, im Gegenteil –“ verteidigte sich die Tante.

„Dann solltest du ihr auch einmal die Wahrheit sagen,“ erklärte die geärgerte Mutter, „auf dich hat sie immer gehört! Aber du sitzst ganz gelassen dabei, wenn sie sich so höchst sonderbar zu benehmen geruht.“

Tante Emilie begnügte sich mit einem Kopfschütteln.

„Ja,“ gab seufzend die Rätin zu, „es hilft auch nichts, hast recht. Ich meine, der Oberförster sollt’ ’mal ein bißchen aufmucken, sollt’ sich die Launen nicht gefallen lassen Aber der sitzt da und sieht sie an mit verklärtem Gesicht und scheint sich nichts Besseres zu wünschen als so’n unartig Ding. – Ich begreife seine Geduld nicht! Ich hätte May ’mal so mißachtend behandeln sollen, na, ich glaube, es wär’ in selbiger Stunde aus gewesen mit ihm.“

„Nun, er liebt sie eben,“ entschuldigte Tante Emilie das Benehmen des Bräutigams.

„Es ist immer so,“ wehklagte die Rätin, „die zweiten Frauen haben es besser als ihre Vorgängerinnen. Wenn ich denke, wie die erste um ihn herum war! Alles las sie ihm an den Augen ab, aber Aenne thut nicht dergleichen. Wenn sie sich wenigstens um die Kinder bekümmern möchte! Ach, [102] lieber Gott, ich wollte, die Hochzeit wäre vorbei, und das erste Ehejahr auch, bis sie sich ein bißchen eingelebt hätten miteinander! Manchmal, Emilie, manchmal es ist ja freilich Sünde – manchmal denke ich, sie wird nicht glücklich, so sonderbar ist sie jetzt.

Tante Emilie hatte auf den Lippen, zu sagen: Diese Gedanken kommen etwas spät, meine Beste! Wär’s mein Kind gewesen, ich hätte gesagt: Besinne dich einmal, du hast ja den Mann gar nicht lieb! Aber – heiraten, nur heiraten, weiter denkt ihr Mütter nichts! „Weißt du was?“ sagte sie dann laut, „ich hab’ Sehnsucht nach frischer Luft und die Korinthen da sind fertig, ich geh’ die Aenne im Park suchen. Im ganzen Schloßgarten ist kein Weg vom Schnee frei als eben der Mittelgang zur Terrasse empor, und dort läuft sie ja wohl auf und ab und wird leicht zu finden sein. Ich will sie ’mal so ein bißchen ausfragen, die närrische Marjell.“

„Du kannst lange suchen,“ grollte die Rätin, „seit der Herzog hier ist, geht der Schneepflug durch alle Wege.“

„I nä, laß mich nur machen, bin schon lange neugierig auf den Park im Schnee. Und damit erhob sich Tante Emilie und kam nach zehn Minuten, mit einem altmodischen, innen mit Hamster gefütterten Pelz und einer ebenso altmodischen Kapuze angethan, wieder herunter, nickte noch einmal in die Stube hinein und verließ dann das Haus.

Der alten Frau war nachgerade angst und bange um ihren Liebling. Das Mädchen benahm sich in ihren Augen wie eine – na – die nicht auf rechten Wegen geht. „Gott verzeih’ meine Dummheit“, murmelte sie vor sich hin „manchmal denk’ ich, sie trifft den Heinz Kerkow heimlich! Sie geht mit einer Ausdauer spazieren, die vollständig unbegreiflich ist, ebenso unbegreiflich wie das schroffe Ablehnen jeder Begleitung.“

Sie trippelte nun schon innerhalb des Schloßgartens auf dem weißen festen Schnee dahin, ganz leise schneite es weiter, und die winzigen Flocken legten sich wie ein zarter Hauch auf die schwarzseidene Kapuze und den Mantelkragen. Wie schön das war, wie weihnachtlich, und wieviel trauter konnte es noch sein, wenn auch im Hause alles so klar und rein wäre! Die Jungen würden zum Feste kommen, und unter dem Lichterbaume sollte ein Brautpaar stehen – aber das letztere hatte sich Tante Emilie anders gedacht! Die Aenne wurde alle Tage blasser und stiller, und dann wieder war es, als ob sie Reue über ihr Wesen empfände, und sie schwatzte und lachte wie eine, die nicht recht gescheit ist. Und dies ins Theater Gehen, jeden Abend, den Gott werden läßt, das heißt, so oft gespielt wird – – –

Sie war ein paarmal mitgegangen, die Tante Emilie, um zu sehen, ob Aenne des neugebackenen Hofmarschalls wegen hingehe, aber der war nur an einem der Abende erschienen, und da sah Aenne mit ein paar grenzenlos gleichmütigen Augen über ihn weg, und ebenso gleichgültig betrachtete sie seine Braut, das blasse hochmütige Ding, ihr ganzes Interesse gehörte der Vorstellung. Aber das könnte ja auch täuschen, dachte sie, und es kam Tante Emilie vor, als sei dieses Interesse an der Bühne fast zu groß, um natürlich zu sein, einmal war es ihr sogar, als ob Aenne jemand auf der Bühne leicht zunickte.

„Goldköpfchen, wen grüßt du denn da?“ hatte sie gefragt, aber die Antwort blieb Aenne schuldig.

Ach, liebe Zeit, das Kind war ja nur so unstet, so unglücklich, weil es den Kerkow immer in der Nähe wußte, weil’s nicht vergessen konnte, weil’s in seiner Verzweiflung dem Günther in die Arme gerannt war und nun sich graute vor dieser Ehe! Wäre nur erst die Hochzeit droben vorüber und das Paar nach Italien gereist! Aber Gott mochte wissen, was man bis dahin noch erleben würde! –

Die alte Dame blieb am Fuße des Schloßberges stehen, hinter einem kleinen, nun ganz verschneiten Pavillon, um sich an dieser zugfreien Stelle ein wenig zu verschnaufen. Sie hatte bis jetzt in dem weiten Garten nicht einen Menschen erblickt und war schon ganz entmutigt, da hörte sie Kinderstimmen hinter sich, und sich wendend, gewahrte sie Oberförsters Dreie, die Fräulein Stübken an die Luft führte. Der Kleinste saß im Kinderschlitten, der Junge auf der Pritsche und Mariechen zog das Gefährt, Fräulein Stübken endlich stapfte gravitätisch hinterher.

Tante Emilie trat hinter dem Pavillon hervor und begrüßte die Näherkommenden. „Ja, das ist aber ein Vergnügen für euch kleines Volk! Schönen guten Tag, liebes Fräuleinchen – sagen Sie, haben Sie nicht unsere Aenne gesehen? Sie geht hier irgendwo spazieren.“

Fräulein Stübken schlug den Schleier zurück von dem schäbigen Pelzbarettchen, unter dem ihr Gesicht gelblich mit blau-roten Wangen hervorlugte, tupfte sich mit dem Taschentuch die Thränen, die ihr die Kälte herausgepreßt, aus den Augen und sagte, Tante Emilie mit einem eigentümlichen Lächeln ansehend: „Da werden Sie wohl wo anders suchen müssen, Frau Schönberg; im Park ist Fräulein May nicht.“

„Aber – natürlich! Sie geht ja alle Tage her!“

„Ach ja, früher, aber nun schon lange nicht mehr. Sie geht jetzt jeden Tag in die Stadt hinunter, nach der Prinzeß Luisenstraße zu; wissen Sie die?“

„I nä, Fräuleinchen! – Was soll sie denn da?“

Fräulein Stübken trat, vor Kälte zitternd, von einem Fuß auf den anderen, und das Lächeln auf ihrem Gesicht, so ein recht boshaftes Lächeln, schien auch festgefroren. „Was sie da thut? Sie besucht eben das Fräulein Jeannette Hochleitner – ich denke mir, sie singen da miteinander, vielleicht üben sie etwas zur Weihnachtsüberraschung ein für den Herrn Oberförster.“

„Das könnte sein“, gab Tante Emilie schnell gefaßt zu, ob sich gleich innerlich in ihr alles vor Entsetzen empörte, „da werde ich mich hüten, sie zu stören.“

Fräulein Stübken lächelte noch mehr. „Geniert es Sie, Frau Schönberg, wenn wir Sie begleiten?“

Tante Emiliens Wohlwollen für die Hausdame des Oberförsters hatte sich plötzlich in einer Weise abgeschwächt, daß sie es kaum zu einem höflichen „Bitte schön“ brachte; das Lächeln und der Ton der Berichterstatterin hatten ihr in Aennes Seele weh gethan. Das erbitterte Mädchen an ihrer Seite merkte es und begann aus einer anderen Tonart zu sprechen.

„Ich habe schon immer kommen wollen, um Ihnen das zu erzählen, Frau Schönberg“, hub sie an, „die ganze Stadt klatscht davon, die Hochleitner ist doch kein Umgang für Fräulein May! So eine, die – na, ich darf nicht darüber reden! Die Silberschließerin von Ihrer Durchlaucht, die hat sie selbst gesehen droben im Schloß, wo das Theater längst geschlossen war. Ich habe nur immer geschwiegen, weil’s so gehässig aussieht, so als ob – na, mir kann’s ja egal sein, am ersten Januar gehe ich nach Berlin in eine andere Stellung! Aber, sehen Sie, ich bin drei Jahre beim Herrn Oberförster gewesen, und das Hauswesen und die Kinder sind mir ans Herz gewachsen, und da thut’s einem weh, wenn die Leute so reden. Wie ich von meiner Freundin, der Frau Sekretär Busse, höre – die wohnt nämlich auch in dem Hause, wo die Hochleitner gemietet hat, und sieht da alles ein- und ausgehen, die Lakaien des Herzogs mit Blumensträußen und die Kollegen und Kolleginnen vom Theater und so weiter –- wie ich höre, was die sagt. ,Du, Stübken, um Gottes willen, was hat denn nur Mays Aenne alle Tage zu der Hochleitner zu laufen?’ da habe ich Mund und Nase aufgesperrt, hab’s nicht glauben wollen und – dann hab’ ich’s selbst gesehen! War bei der Sekretärin eingekehrt nach dem Spazierengehen mit den Kindern, nur einen Augenblick, denn sie hat unsere Kinder so lieb; also ich sitze da am Fenster mit meiner Tasse Kaffee, die mir die Bussen eben gebracht hat, da sehe ich eine Gestalt herkommen. Hat sich einen dichten Schleier vor das Gesicht gebunden, als ob man Aenne May nicht auch so erkennen müßte – an ihrer Taille. Wer hat denn solche Figur in Breitenfels? Und obendrein der Marderbesatz, den ihr der Herr Oberförster auf das Tuchjäckchen hat nähen lassen! – Und es dauerte denn auch gar nicht lange, da kommt oben durch die Decke das Klavierspiel und das Singen, ganz reguläre Uebungen, und zuletzt ordentliche Lieder, und vergnügt sind sie dabei, alle Augenblick hat’s ein Lachen gegeben, und – sagen Sie selber, Frau Schönberg, es ist doch unpassend im höchsten Grade!“

Sie waren gerade auf dem Schloßplatz angelangt bei diesen Worten, da richtete sich die kleine Tante so hoch auf, daß Fräulein Stübken vor Schreck das Wort in der Kehle stecken blieb.

„Aenne thut nie etwas Unpassendes, verstehen Sie, liebes Fräulein? Und was Ihre Andeutungen über das Fräulein Hochleitner anbetrifft, so rate ich Ihnen, vorsichtiger damit zu sein und – machen Sie doch lieber den Mund zu, es ist Ostwind, der könnte Ihnen leicht eine Halsentzündung bringen. Guten Abend, [103] Fräulein Stübken!“ Und den Mantel, den ihr der Wind auseinander geweht, fest um sich ziehend, ließ Tante Emilie die Erstarrte stehen und schritt dem May’schen Hause zu, äußerlich eine Heldin, innerlich verzagter als je.

Sie trat übrigens nicht in das Haus ein, sie wandte sich vielmehr vor der Thür um und ging langsam unter seinen Fenstern zurück der Stadt zu, sie mußte wissen, ob es Wahrheit sei, was sie da eben erfahren.


Aenne war an diesem Tage wie an jedem andern gleich nach dem Essen ausgegangen, dem Wunsch der Mutter, daheim zu bleiben, war sie nicht nachgekommen, hatte ihn kaum gehört. Aber wenn auch, sie wäre doch gegangen, sie brauchte diese ungestörten Stunden, um mit sich selbst ins Reine zu kommen, um fest zu werden in dem, was sich allmählich in ihrer Seele gestaltet hatte. Sie war sich bewußt, daß sie ihrer Familie vollständig unbegreiflich sein müsse während dieser schrecklichen Zeit, in der sie der Spielball dieses inneren Kampfes war, und sie wunderte sich, daß die Eltern so viel Geduld mit ihr hatten, sie und Günther. Dieser sah sie zwar fragend und besorgt an, hatte aber niemals ein mißmutiges oder zweifelndes Wort für sie gehabt. Er begriff sie einfach nicht, aber er forschte auch nicht. Freilich, sie sahen sich selten genug; der Dienst beim Herzog nahm ihn völlig in Anspruch.

Den Plan, ihn zu fragen: Willst du mich auch ohne Liebe? hatte sie aufgegeben; sie wollte einfach nur ihre Freiheit von ihm fordern, bedingungslose Freiheit. Seitdem sie die Geschichte der Hochleitner kannte, seitdem sie in das freie und schaffensfreudige Leben der Künstlerin einen Einblick gethan, hatte auch sie nach Freiheit, nach Selbstbestimmung verlangt. Und von dem Tage an, da sie der Sängerin zum erstenmal in die kleine Wohnung gefolgt war, um ihr etwas vorzusingen, womit sie ein ehrliches glänzendes Lob erntete, beherrschte sie der Gedanke, Musik zu studieren. Ueber das, was in ihr vorging, sprach sie zu niemand, auch zu Fräulein Hochleitner nicht, aber aus der lachenden, offenherzigen Aenne war ein verschlossenes, trotziges Mädchen geworden. Sie wußte Fräulein Hochleitner immer wieder im Gespräch auf die Kunst, auf ihren Beruf, auf ihre dadurch erlangte Selbständigkeit zu bringen, und in ihren Augen glänzte es auf, wie wenn ein Durstiger den frischen ersehnten Wasserstrahl erblickt, so oft diese ein Lob auf Aennes Stimme mit denn Worten schloß. „Und so was will sich vergraben in Breitenfels, in der Ehe mit an Witwer, der drei Kinder hat – so a Stimm’, so a Persönlichkeit! Aber war denn niemand da, der Ihn’n gesagt hätte als Sie sich binden wollten gar so früh: bedenken Sie sich doch, Sie arm’s Hascherl, ’s is für immer! Man kann nimmer los von so einer Kett’n – und wann’s gelingt, bleibt ein großes Stück Jugendkraft und Frische, bleiben so viel goldene Illusionen d’ran hängen!“

Aenne pflegte auf die wiederholten Bemerkungen nichts weiter zu antworten als: „Ich habe es so gewollt.“

„Na, des Menschen Will ist sein Himmelreich! Aber schaun’s, die Reu’ wird net ausbleib’n!“

Aenne blieb diesmal eine Entgegnung schuldig, aber sie bettelte um ein wenig Unterricht. „Darf ich singen, liebstes Fräulein Hochleitner?“ Und sie sang an dem Klavier der Künstlerin und vergaß alles darüber, und allmählich war aus Aenne May eine begeisterte Schülerin geworden, die nun von der über sie immer mehr in Entzücken geratenden Lehrerin regelmäßigen Unterricht erhielt.

Und jeden Abend ging das Mädchen mit dem Gedanken zur Ruhe: morgen, morgen schreibe ich ihm! Sie lag schlaflos und grübelte über die möglichst milde Form ihrer Absage, und jede Nacht kämpfte sie im voraus den schweren unausbleiblichen Kampf durch, der ihr mit den Eltern und deren Vorurteilen bevorstand. Und jedesmal, wenn sie sich zur Ruhe philosophiert hatte, machten ihre Vorstellungen Halt vor der Frage; Was wird Heinz Kerkow sagen, wenn er erfährt, daß ich entlobt bin? – „Sie kann dich doch nicht vergessen,“ wird er sagen, „sie bringt es nicht fertig, den andern zu nehmen!“

Dann fuhr sie empor und fühlte ihr klopfendes Herz und die Schweißperlen auf der Stirn. Ach ja, er mußte es herausfühlen, daß ihre Verlobung eine Verzweiflungstat gewesen war, die zu Ende zu führen ihr die Kraft gebrach. Aber mochte er sagen, was er wollte, nur nicht sehen sollte er sie nach der Entlobung! Sie wollte weiter ertragen das Leben, das sie jetzt führte, zur Lüge und Komödie verdammt, bis er den Urlaub, den er zu seiner Hochzeitsreise erbeten, angetreten hatte! War er erst fern, dann würde sie mehr Mut und Ruhe finden zu dem, was sie thun mußte! In ihrem trotzigen Weh dachte sie nur an das, was sie litt, kein einziger Gedanke flog zu dem Manne, der die Tage zählte bis dahin, wo sie ihm folgen würde in sein Haus. Und so saß sie tagsüber und nähte an ihrer Ausstattung mit zusammengezogenen Brauen und hörte mit finsterem Schweigen an, wenn die Mutter erzählte, daß Günther ungeduldig die Abreise Seiner Hoheit herbeisehne. Neckereien brachten sie zu Thränen und Ermahnungen zu offenem Widerspruch, sie fühlte sich selbst hassenswert, und die befremdeten Gesichter der Ihrigen stachelten sie zu nervöser Gereiztheit. Aufatmen that sie erst, wenn sie am Instrument saß bei Fräulein Hochleitner.

Auch heute war sie förmlich geflohen aus dem elterlichen Hause und vor den Tischgesprächen, die sich um weiter nichts drehten als um die binnen acht Tagen bevorstehende Hochzeit des Fräuleins von Ribbeneck mit dem Hofmarschall. Die ganze Stadt sprach von nichts anderem, in jedem Laden wußten die Verkäuferinnen davon zu erzählen, die Näherinnen, die in die Häuser gingen, die Damen, die auf Besuch zu Mays kamen. Aenne mußte erfahren, wie lang die Schleppe am Brautkleid sein werde und welche Farbe die Brautjungfern zu ihrer Toilette gewählt hätten, es war, als habe sich alles verschworen, sie zu quälen.

Ganz rot vom eiligen Lauf und vor innerer Bewegung trat sie in das Stübchen der Künstlerin, die am Fenster saß und an einem altdeutschen Kostüm nähte, sie sollte darin das Gretchen singen im Gounodschen „Faust“.

„Schau,“ sagte diese fröhlich, „dös ist lieb, daß Sie kommen, Fräul’n May, der Mokka wird auf der Stell’ ferti sein, und mein G’wand’l da könn’n m’r glei anfang’n. Hier san d’ Noten, der Buchhändler hat s’ heut’ früh g’schickt, und da is a der Psalm, den i auf Befehl Ihrer Durchlaucht bei der Trauung vom klanen Kerkow in der Schloßkirch’n singen soll. Woll’n S’ so freundli sein und ’mal anseh’n, bis i da ferti bin? Es wär’ mir lieb, i höret glei a mal den Psalm, und versprech’ Ihn’n, wenn S’ so recht schön vom Blatt wegsingen, Ihre Trauung a mit meiner Stimm’ zu verherrlichn, daß Sie glei mei’n, a Engerl is extra vom Himmel ’runter kommen zu der Stund’!“

Aenne lächelte trüb. „Ach, dann sind Sie ja gar nicht mehr hier, Fräulein Hochleitner,“ sagte sie, ihr Jackett ablegend und die Pelzmütze hastig vom Kopf nehmend. „Bis jetzt ist der Tag übrigens noch nicht bestimmt.“

„Sie hab’n an merkwürdig geduld’gen Bräutigam, Klane! I glaube, i würd’s ihm übelnehmen an Ihrer Stell’. No, Sie scheinen halt selbst kein’ Eil’ zu hab’n, i aber desto mehr, mit dem Mokka, man’ i. Därf i bitt’n, Fräul’n May, schenken S’ ein, derweil sitzt das Streiferl hier wieder fest.“

Es war unendlich gemütlich in dem von einem herrlichen Maiglöckchenstrauß durchdufteten kleinen Raum. Die spießbürgerliche Einrichtung des Zimmers verschwand ganz unter allerhand anmutigem Tand, auf jedem Sitzmöbel lag irgend etwas, das Klavier stand offen, einige Notenblätter waren zur Erde gefallen, ohne daß sich jemand nach ihnen gebückt hätte, und auf dem verblichenen Teppich zerknabberte Azorl, der reizende weiße, sehr verzogene Seidenspitz, einen Pantoffel seiner Herrin.

Aenne schenkte den Kaffee ein aus der kleinen silberglänzenden Wiener Maschine, und dann saß sie ein paar Minuten schwelgend ihrer bewunderten Lehrerin gegenüber und sah den flinken Händen zu.

„No?“ fragte diese, erstaunt ob der Stille, und sah das Mädchen an. „Wia schau’n S’ denn aus? Alle Tag’ blässer und alle Tag’ trübseliger? Ja, was heißt denn dös? Wissen’ S, manchmal hab’ i schon ’dacht“ – sie stockte und vollendete dann, „daß S’ Angst hab’n vor der Zukunft, Sie arm’s Hascherl!“

Aenne sah sie traurig an.

„Ja, lieber Gott, ’s is eben a sehr schwerer Schritt,“ fügte die Sängerin hinzu.

Aenne biß die Lippen aufeinander und schluckte an ungestüm [106] hervorquellende Thränen, dabei schüttelte sie energisch den Kopf, als wollte sie sagen: „Sie irren sich, ganz gewiß, Sie irren sich!“

„Dös ist’s net? I hab’ beinah’ g’laubt, so sei’s. Aber dös is ja a net mögli, und wann’s a so wär’, hätten S wohl längst a End’ g’schaff’n, man zieht an braven Mann doch net an der Nas’n ’rum? Feig sans doch a net, Fräul’n Aennerl, und an Irrtum eing’steh’n, is am End’ a ka Schand’ – ja, ja, i seh’ ’s, i irr’ mi, ’s is an andrer Kummer, bin aber die Letzt’, die dran rührt. – Kommen S’, wir woll’n sing’n, ’m Kerkow sein’ Hochzeitskantate!“

„Ich kann nicht!“ stieß das junge Mädchen hervor.

Die Sängerin, die schon am Klavier saß, wandte sich jäh, einen Ausdruck von Ueberraschung im Gesicht. „Gerad’ den Psalm net? Oder überhaupt net?“ fragte sie, das blasse Gesicht der sonst so lernbegierige Schülerin betrachtend.

Aenne raffte sich zusammen. „Heut’ überhaupt nicht,“ sagte sie, „ich habe Kopfweh.“

„Na, da plausch’n wir halt a bisserl,“ tröstete Fräulein Hochleitner. „Was kann ma denn thun, um Sie auf andre Gedanken zu bring’n? Soll i Ihn’n a Lied sing’n, oder soll i Ihn’n a bisserl erzähl’n, davon, daß alle Leit’ hier verruckt san über d’ Hochzeit drob’n, und daß dem Kerkow sein Schwesterl ankommen is, so a arm’s bleichsüchtig’s Ding im schwarzen Krepp, das ausschaut, als hab’s ka Hoffnung mehr auf Erden? I muß sag’n, an der Ribbeneck ihrer Stell’ hätt’ i net auf so a prächtige Hochzeit b’stand’n, aber sie kann sich net helf’n, sie muß aller Welt zeig’n, daß sie jetzt doch an Mann erwischt hat, nach so viel vergeblichen Versuchen, und der arme Jung’, der muß für ein paar Tag’ das Kreppbändel vom Arm und in die Tasch’n thun. – Ja, wie die z’ samm’ komm’n, dös kännt a’m a Rätsel sein, wann ma net wüßt, daß – –“

Sie verstummte und goß Aenne eine zweite Tasse ein. „So, Fräul’n May, da ist der Zucker, bedienen S’ Ihn’n!“

Aenne kam mechanisch der Aufforderung nach und starrte dann irgend ein Bild an. Die Dämmerung war herabgesunken, undeutlich verschwammen alle Gegenstände. Die Sängerin hatte ihren Spitz auf den Schoß genommen, streichelte, wie in Gedanken verloren, das weiße Fellchen ihres Lieblings und dachte an irgend etwas, das sie der Gegenwart entrückte. Sie hörten beide nicht, wie ein fester Schritt die Treppe empor und über den Flur kam. Der Azorl fuhr erst auf, als ein kräftiges Klopfen an der Stubenthür erscholl, nun sprang er wie ein Gummiball zur Erde und bellte aus Leibeskräften. Fräulein Hochleitner eilte zur Thür und fragte ins Dunkle hinaus. „Wer ist da?“

„Verzeihen Sie, mein Fräulein – Günther, Oberförster Günther. Ich wollte meine Braut abholen, sie ist doch noch hier?“

„Ah! Schaun’s, wie galant! Herr Oberförster, bitt’, kommen’S nur einer. – Fräul’n May, da ist er, der Herr Bräutigam!“ rief sie Aenne zu, die ganz erstaunt in ihrem Sessel verblieben war, aber trotz der tiefen Dämmerung deutlich die hohe breite Gestalt ihres Verlobten erkannte.

„Guten Abend, Aenne,“ klang seine Stimme, „ich traf eben Tante Emilie auf der Straße, sie wollte hierher, um dich abzuholen, und ich bat, mir dies zu überlassen – es ist dir hoffentlich recht?“

Sie erhob sich langsam. „Ja!“ antwortete sie halb erstickt. In diesem Augenblick glühte die Flamme der Lampe unter der Hand der Sängerin auf, die Blicke des Brautpaares begegneten einander. „Wie blaß sie aussieht,“ dachte er, „es ist ihr unlieb, daß ich hinter ihr kleines Geheimnis gekommen bin.“

Sie dachte nichts, fühlte nichts als die ungeheure Schuld, die sie ihm gegenüber trug.

„Aber da setzen S’ Ihn’n do no a bisserl,“ bat Fräulein Jeannette, „hat’s denn gar so große Eil’, Herr von Günther? Kann i Ihn’n an Liqueur anbiet’n – gelt, ja? Setze S’ Ihn’n doch!“ Sie kam schon mit einem eleganten Liqueurkästchen an, das sie öffnete, und wies auf die Flasche, „Benediktiner? Chartreuse? Creme de Cacao? oder Anisette? Was möcht’n S’?“ rief sie fröhlich. „Aennerl, wollen S’ net a –?“

Der Oberförster wandte langsam seinen Blick von dem schönen Mädchen im roten Plüschhauskleid, mit dessen langer Schleppe Azorl spielte, zu Aenne hinüber. Sie hatte nicht wieder Platz genommen und stand hinter ihrem Stuhl in ihrem schwarzen Wollkleid, das nur durch einen einfachen weißen Leinwandkragen geschmückt war, einen peinlichen Zug um den Mund; die Röte kam und ging auf ihrem Gesicht. Er trank das Gläschen aus, das ihm gereicht worden. „Auf Ihr Wohl, Fräulein! Aber nehmen Sie es nicht übel, wenn wir aufbrechen, ich habe noch Wichtiges mit meiner Braut zu besprechen – wegen der Hochzeit, wissen Sie; der Herzog reist am dreißigsten Dezember heim, eben erfuhr ich’s auf der Jagd von ihm selbst.“

„Also endli a Aussicht, daß man wieder ins Städterl kummt!“ rief die Sängerin und schlug jubelnd die Hände zusammen. „Gott sei Dank, daß wir aus dem Räubernest erlöst wer’n! Wie wird sich’s Mutterl freu’n! Mir is nur um ans lad, um die da“ – sie wies auf Aenne, die mit großen angstvollen Augen auf den Oberförster starrte – „von der trenn’i mi schwer, Herr Oberförster, sie is a Gold, a reins Gold und ’a Stimm’ hat’s – – i hab’ schon immer dacht, der Herr Oberförster, der versteht’s, er schießt net allein die Hirscherln, er fangt a sogar die Nachtigall’n!“

Aenne wandte sich hastig um und legte ihre Sachen an. Als sie der Hochleitner die Hand reichte, sah sie aus wie eine, die entschlossen ist zu irgend etwas Verzweifeltem. „Gute Nacht!“ sagte sie heiser und ging nach der Thür, an Günther vorüber, diesen noch ein paar Minuten unter dem Wortschwall der Sängerin lassend. An der Pforte des Vorgärtchens wartete sie auf ihn.

Es war jetzt völlig Abend geworden, aber der Schnee verbreitete eine bläuliche Helle auf der Straße, in welche die erleuchteten Fenster der Wohnungen rötlichgelb hineinflammten. Eine große Ruhe lag über der verschneiten Welt.

Jetzt trat er aus der Thür und kam die Stufen hinunter, sie erkannte, daß er noch den Jagdanzug trug, die hohen Stulpenstiefeln und die Joppe. Er mochte auf die Nachricht von der bevorstehenden Abreise des Herzogs hin nur die Büchse ins Haus gestellt haben, um ihr die Kunde zu bringen, da hatte er Tante Emilie getroffen. Aber, wie um alles in der Welt, wußte die von ihrem Besuch bei der Hochleitner? –

„Komm, Aenne, wir nehmen den Umweg an der Waldstraße entlang,“ bat er.

Sie fügte sich, stumm gingen sie nebeneinander, er auf der Fahrstraße, sie auf dem schmalen Trottoir. Als die letzten Häuser hinter ihnen lagen und der Waldpfad begann, der auf dieser Seite längs des Städtchens bis zum Schloß hinauflief, machte er eine unbeholfene Bewegung, als wollte er ihren Arm in den seinen ziehen, aber sie wich mit gesenkten Augen zur Seite.

„Aenne“, sagte er endlich, und trotz der großen Stille, die sie umgab, klang es undeutlich, wie von tiefer Erregung gedämpft, „Aenne, freust du dich nicht auch ein wenig? – – Hast noch immer Angst vor mir? Bin ich dir noch immer so fremd? – Ja sieh, unser Brautstand, der – der war nicht, wie er sein sollte; ich hatt’ so wenig Zeit und hab’ auch immer gedacht, ich wollt’ dich nicht quälen, nicht erschrecken oder – hab’ ich’s gethan, Aenne?“

„Nein!“ murmelte sie, „aber – –“

„Aber?“ Es klang wie ein Schrecken aus dieser Wiederholung der Frage.

„Ich hab’ dir etwas zu sagen“ – stieß sie hervor und blieb stehen. Es war just unter einer riesigen Eiche, die ihre knorrigen beschneiten Aeste in die Luft streckte wie drohend erhobene Hände, wie verzweifelte Menschenarme.

„Noch etwas zu sagen? Jetzt noch?“ fragte er langsam.

Durch ihre junge schlanke Gestalt ging ein Wanken. Er streckte den Arm aus und zog sie an sich, daß sie fest an seiner Brust lehnte. „Nun sprich,“ sagte er.

„Nicht so! Nicht so!“ stammelte sie und ein heftiges Schluchzen machte die Worte fast unverständlich. – „Lasse mich,lass’ mich! Ich kann nicht mehr lügen, ich kann nicht!“ „Lügen – du – Aenne?“

Sie hatte sich frei gemacht und stand vor ihm, das Haupt gesenkt, die Hände fest ineinander gefaltet. „Verzeih’ mir,“ sagte sie hart, „ich dachte, es würde gehen, aber es geht nicht, ich fühle es, ich fühlte es schon lange, aber – ich – –“

„Was geht nicht? Daß du mich heiratest, daß du –“

[107] Sie nickte hastig ein paarmal mit dem blassen verzerrten Gesicht. „Ja!“

„Aenne, und du fühltest das schon lange?“ Er war zurückgetreten, unwillkürlich hatte er den Hut vom Kopfe gerissen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

„Schon immer, ja,“ sprach sie weiter, „ja, gleich von vornherein. – Aber ich wollte doch – weil – das ist ja gleich. Nun will ich nicht mehr, und wenn du darauf bestehst, dann – ja – aber was danach kommt, das trage du auch! Du kannst’s durchsetzen, ja, aber thu’s nicht – thu’s nicht – ich bitte dich, es wird schrecklich, es – –“

Sie sank plötzlich in die Knie; mit ihrer Kraft war es vorbei. Er bückte sich und hob sie empor. „Warum drohst du mir?“ fragte er leise, „was denkst du von mir? Hast du vergessen, was ich dir einst sagte?“

Nicht weit von der Eiche, auf einem schmalen Weg, der in den Wald führte, stand eine Bank, er trug sie dorthin, sie war ihrer zitternden Glieder kaum Herr. Und wie schon einmal hob er sie auf seinen Schoß und hielt ihren Kopf an seiner Brust.

„Nun sage mir alles“, bat er, „du kannst mir vertrauen. Ich habe dich ja groß werden sehen und bin dir ja sonst nicht fremd.“

„Sei nicht so gut zu mir!“ schrie sie auf, „ich kann es doch nicht, was du willst – gieb mich frei – lass’ mich –!“

„Du bist frei, Aenne,“ sagte er und ließ den Arm sinken, „und wenn du mir dein Vertrauen nicht schenken kannst, dann will ich ohne Fragen mein Geschick hinnehmen. Komm, steh auf!“

Aber sie vermochte nicht, sich zu erheben, unter den schmerzdurchzitterten Worten des Mannes war sie in ein wildes Schluchzen ausgebrochen. „Verzeih! Verzeih! Verzeih!“ wiederholte sie in diesem Paroxysmus von Verzweiflung und Reue – „frage mich nicht, ich bin so schlecht, so schlecht!“

„Nein, Aenne, du bist nicht schlecht, du liebst mich nur nicht! Hast es vielleicht geglaubt, mich zu lieben – damals, als du ,Ja!’ sagtest auf meine Bitte, und hast dich geirrt. Du bist noch so jung, und ich muß mir Vorwürfe machen, daß ich die Hand nach dir ausstreckte. Weine nicht, armes Kind, du bist nicht schlecht!“

Sie hörte auf zu schluchzen. Ihr Kopf lag an seiner Schulter und er streichelte ihr Haar und etwas wie süße wohlige Erschlaffung überkam sie nach all dem Jammer. Ein grenzenloses Vertrauen zu diesem guten selbstlosen Menschen mit dem edlen schlichten Wesen, den sie so unerhört gekränkt hatte, schmolz ihren Trotz, schmolz ihre Kälte, ihre Verschlossenheit, sie fühlte den Drang, ihm alles zu gestehen, ihr ganzes Herz zu entlasten. „Ich will es dir sagen,“ flüsterte sie kindlich in sein Ohr. „Sieh, ich war trotzig, war krank im Herzen – ich hatte ihn so lieb, und wie er die andere nahm, da wollt’ ich ihm zeigen, daß“ – sie stockte, sie fühlte sich plötzlich auf den Füßen stehen, an den Schultern gepackt und geschüttelt von der Hand eines Rasenden.

Gespielt mit mir – mit mir? – du! du!“ stieß er hervor. Dann ließ er sie jählings los, daß sie taumelnd zu Boden sank, und dort blieb sie auf den Knien liegen und starrte von Entsetzen gelähmt zu dem Manne hinüber.

Er war auf die Bank zurückgesunken. Die Hände ineinander verschlungen, in vorgebeugter Haltung saß er da und sah zu Boden. Aenne wußte nicht, wie viele Minuten. Endlich stand er auf, nahm den Hut aus dem Schnee. „Komm!“ sagte er mühsam, „hier kannst du nicht bleiben.“

„Hermann!“ schrie sie und rutschte auf den Knien zu ihm hinüber. „So hatte ich es ja nicht gemeint! Daran hatte ich nicht gedacht!“

„Steh auf,“ unterbrach er sie, „ich bin dir ja dank schuldig, daß du den Mut noch gefunden hast mich aufzuklären, den Mut der Verzweiflung in der letzten Stunde!“ Er half ihr, sich emporzurichten. „Du machst’s mir leicht, das Scheiden! Komm, die Eltern werden dich vermissen.“

„Die Eltern!“ stammelte sie. „Die Mutter!“

„Hast Angst, vor sie zu treten mit deinem Geständnis?“ fragte er bitter, ohne sie anzusehen. „Nun – – dann werde ich dir das abnehmen. Fürchte nichts, ich verrate nichts von dem – dem andern, werde ihnen nur sagen, daß es uns beiden nach reiflicher Ueberlegung ratsam scheine, zu scheiden – daran müssen sie sich genügen lassen!“

Sie waren nach raschem Wandern jetzt auf den Schloßplatz getreten und angesichts der erleuchteten Fenster ihres Elternhauses überkam es Aenne wie ein Fieberschauer, da ihr das Unerhörte ihres Benehmens diesem Manne gegenüber klar wurde. Sie blieb vor ihm stehen und hob die gefalteten Hände empor – er ging vorüber, als sähe er ihr Gebaren nicht.

„Willst du mir nie verzeihen?“ rief sie und erfaßte den Aermel seines Jagdrockes mit zitternden, krampfhaften Fingern, „du weißt ja nicht, was ich gelitten!“

Sein Fuß stockte noch einen Augenblick, der Aermel entglitt ihrer Hand. Er schritt die Stufen hinauf, öffnete die Hausthür und trat zur Seite, um sie einzulassen „Leb’ wohl, Aenne,“ sagte er ernst, indes sie an ihm vorübereilte in stürmischer Hast, kaum wissend, wie sie durch den Flur kam und die Treppe empor.

Als die Rätin aus der Stube ihres Mannes schaute, um zu sehen, wer eingetreten sei, erblickte sie im schwachen Schein des Flurlämpchens nur den Oberförster, der regungslos dastand, den Hut auf dem Kopfe, die Hände im Jagdmuff, und zu der Treppe hinüber starrte.

„Herrgott – du bist es, Günther? Hast du Aenne nicht gesehen?“ rief sie. „Ums Himmels willen, es ist ihr doch kein Unglück geschehen?“

Da wandte er sich schwerfällig um, nahm den Hut vom Kopfe mit einer müden Bewegung und sagte: „Ich habe sie gesehen und gesprochen, sie ist eben nach oben gegangen. – Und jetzt möchte ich mit Ihnen reden, Frau Rat, und mit Ihrem Manne.“

Sie schwieg betroffen von seinem Aussehen, seiner Stimme, und bedeutete ihn durch eine Handbewegung, einzutreten.

„May“, sagte sie gepreßt ins Zimmer hinein, „Günther hat uns etwas mitzuteilen.“

[117] Im Mayschen Hause war es am Tage nach der aufgehobenen Verlobung Aennes, als läge ein Toter darin. Die Rätin ging umher mit dick verweinten, aber zornsprühenden Augen, sie erklärte ihrem Manne und jedem, der es hören wollte, diese Geschichte bringe sie noch untern Boden! Eine zurückgegangene Verlobung war nach ihrer Ansicht etwas Schmachvolles, Ehrenrühriges, in Breitenfels sei das, soweit sie sich erinnern könne, in einer honetten Familie niemals vorgekommen; Aenne sei blamiert auf Lebenszeit.

Als der Oberförster gestern mit gefurchter Stirn und kurzen Worten den Eltern die Thatsache mitteilte, daß er und Aenne übereingekommen seien, sich zu trennen, hatte die Rätin sich gesträubt, es zu glauben, und behauptet, Aenne sei nur verschüchtert, er solle doch um Gottes willen keinen Unsinn reden, ihre Tochter werde ihn sofort um Verzeihung bitten! Er dürfe es doch nicht für Ernst nehmen, wenn ein kindisches Mädchen trotze! Mit flehender Beredsamkeit begann sie zu erzählen, daß auch sie kurz vor der Hochzeit den Einfall bekommen, May den Laufpaß zu geben, so ein ungeheures Bangen habe sie erfaßt vor dem ernsten Schritt. Er solle doch Geduld üben, Aenne müsse sich falsch ausgedrückt haben! Und nach jedem Satz hielt sie ein und schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender und fragte: „Nicht wahr, May?“

Der Oberförster aber hatte ihre Hand ergriffen, ihr gedankt für die treue mütterliche Gesinnung, dem Rat die Rechte geschüttelt und sich dann zum Gehen gewandt, ohne weitere Worte. Und nun war es still geworden in dem Zimmer, das er verlassen.

„Fasse dich, Alte,“ sagte der Rat, indem er der kreidebleichen Frau auf die Schulter klopfte, „wer weiß, was es gegeben hat! So recht gefiel mir die Brautschaft nie. Das Mädchen that’s wohl in der Uebereilung, in dieser Frage haben nur sie und er zu entscheiden. Wir wollen’s tragen mit ihr.“

„Und der Skandal, und das Gerede?“ Die erbitterte Frau lief aus dem Zimmer und geradeswegs nach Aennes Stube.

Das Mädchen saß da in der Kälte – das Feuer im kleinen Ofen war längst erloschen; ganz wirr noch, körperlich und seelisch erschüttert. Die Mutter stürmte ins Zimmer und stieß in der Dunkelheit so heftig an eine kleine Etagere, die Aennes sorgsam behütete Nippes trug, daß das zierliche Gerät klirrend auf den Fußboden flog, wo es noch einige ärgerliche Fußtritte erhielt.

„Ich will dich nur fragen,“ begann sie, mit zitternden Händen nach den Streichhölzern tastend und Licht anzündend, „ob du eigentlich bei klarem Verstand bist. Augenblicklich setzt du dich hin und bittest Günther um [118] Verzeihung – schriftlich! Das wäre noch schöner, drei Wochen vor der Hochzeit jemand den Stuhl vor die Thür zu setzen! Das kann sich kein Dienstmädchen erlauben – du – meine Tochter erst recht nicht! In fünf Minuten bist du unten, liebes Kind, und schreibst – verstanden?

Aber ihr Einschüchterungsversuch mißlang kläglich, denn Aennes ganzer verzweifelter Trotz stemmte sich gegen diese Vergewaltigung.

„Nein“, sagte sie kurz, „du hast kein Recht, mich zu zwingen.“

„Kein Recht?“ stammelte die Mutter atemlos. „Ich will dir etwas sagen, du liebloses, unkindliches Geschöpf, du: Wenn ich keine Rechte habe, habe ich auch keine Pflichten mehr gegen dich – verstanden?“

Die Hand der maßlos erbitterten Frau hatte sich auf die Schulter ihres Kindes gelegt und krampfte sich fest wie Eisen. „Ich sage dir, wenn du darauf bestehst, den Mann vor den Kopf zu stoßen, dich um diese anständige Versorgung zu bringen, so sieh auch zu, wie du ohne deine Mutter fertig wirst! Zwischen uns beiden ist’s aus. Das merke dir!“

„Ja, ich verstehe – ich werde gehen.“

„Zu Günther?“

„Niemals! Das kann ich nicht“. Aenne war aufgestanden, hatte ein Tuch vom nächsten Stuhl gerafft und sich der Thür genähert. „Wohin?“

„Das ist ja gleichgültig – nur fort!“ stieß das Mädchen hervor.

Die Rätin stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Thür, ihr ward angst vor dem entschlossenen Aussehen der Tochter. Aus ihren Drohungen verfiel sie in weinerliche Anklagen. „Also das ist der Dank für alle meine Treue und Liebe seit neunzehn Jahren, daß du deinem Vaterhause entlaufen willst wie eine Tolle, wenn dir nicht gleich der Wille geschieht, wenn man dir zuredet zum Guten, dich ermahnt, deine Pflicht zu thun, die du freiwillig auf dich genommen hattest? Denkst du, man spielt ungestraft mit solch heiligen Versprechungen? Aber gut, mein Kind, setze deinen Willen durch, die Strafe wird nicht ausbleiben! Und wenn du später hier herumhockst im Hause, ein altes verbittertes Mädchen, das überall sich zurückgesetzt fühlt, das keine rechten Pflichten hat, kein rechtes Interesse, womit es sein Leben auszufüllen vermag, dann wird die Reue schon komme! Und wenn nicht eher – dann, wenn sie deinen Vater und mich hinausgetragen haben und du in der Welt einsam stehst und vergessen, dann, ja dann wirst du denken – hätt’ ich doch, o hätt’ ich doch – –“

„Aber, Schwägerin,“ sagte da eine sanfte Stimme, „wie kannst du nur! Herrgott, ’s ist doch besser, sie tritt zurück, wenn sie fühlt, daß es nicht geht, als daß sie sich und ihn unglücklich macht! Tante Emilie war eingetreten, und ihre guten angstvollen Augen suchten das Mädchen, das noch in ihrem eilig übergeworfenen Tuche dastand, die verstörten Augen auf die Mutter geheftet.

„Du hast gerade noch gefehlt!“ murmelte diese. Das Mädchen duldete es still und starr, daß die alte gutmütige Frau sie in die Arme nahm und ihr tröstende gute Worte zuflüsterte. Die Rätin aber verließ das Zimmer, sie hatte die Schlacht verloren, jetzt mußte sie an einen möglichst ehrenvollen Rückzug denken. Und nachdem sie an ihres Mannes Schulter sich ausgeweint, verfügte sie sich mit mühsam erkämpfter Fassung in die Küche und erzählte zunächst dem verwunderten Dienstmädchen, daß Fräulein Aennes Hochzeit vorläufig noch aufgeschoben sei, weil – den Grund blieb sie schuldig. In der Nähstube lohnte sie die Mamsell Scheurig, die Näherin, ab, nach Weihnacht werde sie ihr sagen lassen, wann sie wieder kommen solle, und am späten Abend noch wirtschaftete sie in der Leinenkammer umher, bis auch das letzte Stückchen der Ausstattung in Truhen und Schränken geborgen war. Zum Glück hatte sie die seidenen Kleider für Aenne und sich noch nicht gekauft. In der „guten Stube“ sammelte sie die paar Brautgeschenke in ein Körbchen, Günthers und der Kinder Photographie und dergleichen, und stellte alles beiseite, dann endlich setzte sie sich hin und benachrichtigte ihre Jungen von dem traurigen Begebnis.

Jedem von ihnen schrieb sie. „Und wenn man nur wenigstens wüßte, warum sie ihn nicht mehr will. Vater und ich stehen vor einem Rätsel. Sie sagt: „Ich kann nicht!“ und damit ist sie fertig. Vater hat sie eben zu sehr verzogen und Tante Emilie erst recht mit ihrer sentimentalen Gefühlsduselei. So werdet ihr ein recht verstimmtes Haus finden, wenn ihr kommt, mich hat’s arg mitgenommen und Papa auch, der läßt sich’s nur nicht merken. Der Herzogin muß er’s auch mitteilen, es ist das furchtbar, fatal.“ – – – – – – – – – –

Ja, als ob ein Toter im Hause weilte, so war’s am andern Tage. Das Rasseln der Nähmaschine war verstummt, die Oberförsterskinder, die sonst in aller Morgenfrühe schon angelaufen kamen, um Großmama May „Guten Morgen!“ zu sagen, blieben aus, und auf dem Kaffeetisch stand der Weihnachtsstollen unberührt.

Aenne lag matt und fiebernd auf dem Bette. Der Vater kam herauf, und als er das liebe kindliche Gesicht so verändert sah, strich er ihr leise über die Wangen. „Kind, Kind, wozu das alles? Was hast du dir dabei gedacht, als du dem Manne dein Jawort gabst?“

Eine heiße Röte überflackerte sie einen Augenblick, aber sie schwieg.

„Und was soll ich Durchlaucht als Grund angeben?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht, Papa!“

Er ging kopfschüttelnd. „Wenn du kannst, nimm dich zusammen und steh’ auf,“ rief er noch zurück. „Mutter wird dir nichts mehr sagen – sie hat sich drein geschickt.“

Aenne kam auch richtig zum Mittagessen. Tante Emilie drückte ihr verstohlen die Hand unter dem Tischtuch. Der Rat schien zerstreut; der Mutter Heftigkeit war einer resignierten Miene gewichen, jede Bewegung drückte aus: ja, was soll man thun, man muß sein Kreuz eben tragen! „Und Durchlaucht,“ fragte sie endlich in die Stille hinein, während sie das Rindfleisch zerschnitt, „was hat denn Durchlaucht gesagt zu der Geschichte?“

„Sie war sehr teilnahmsvoll, gütig wie immer,“ erwiderte der Rat, „meinte, sie habe sich damals eigentlich recht gewundert über die Verlobung. Es sei gewiß jetzt eine schwere Zeit für das junge Mädchen, und ob wir sie nicht eine Zeit lang auf Reisen schicken wollten.“

„Du Grundgütiger – auf Reisen!“ wiederholte die Frau Rat, der die Thränen abermals in die Augen schossen.

„Ich antwortete ihr auch. Durchlaucht, in der Lage, meine Tochter auf Reisen zu schicken, bin ich nicht. Bedenken Durchlaucht, daß ich zwei Söhne habe! Sie muß es auch hier überwinden können.“ – Dann meinte Durchlaucht, es sei doch fatal, daß Günther so in der Nähe, aber der Herzog werde ihn schwerlich versetzen wollen und zuletzt fügte sie noch den Wunsch hinzu, daß Aenne dereinst ein anderes Glück finden möge – das richtige. Wie gesagt, sie war gnädig wie immer. Mir that es wohl, mich auszusprechen, aber daß die Ribbeneck dabei saß, das störte mich – sie machte ihr albernstes Gesicht dazu!“

Aenne zuckte ein wenig. So! Wenn’s die Ribbeneck wußte, dann hatte auch er es bereits erfahren, und was würde nun folgen? Sie legte Messer und Gabel hin, sie konnte keinen Bissen hinunterbringen.

Nachmittags kam ganz zufällig die Frau Oberamtmann Meyer von der Domäne – als Klatschbase bekannt und gefürchtet im ganzen Städtchen. Frau Rat erblaßte, als das Dienstmädchen ihr diesen Besuch meldete.

„Hast du gesagt, daß ich zu Hause bin?“ fuhr sie das verblüffte Wesen an.

„Ja, Frau Rätin – – sollte ich nicht?“

Stöhnend erhob sie sich aus dem Lehnsessel hinter dem Ofen der Eßstube, an dessen Lehne sie ihren schmerzenden Kopf gepreßt hatte. „Nun geht’s los“, sagte sie zu Tante Emilie, „der läßt es keine Ruhe, bevor sie nicht alles weiß, man möchte sich doch am liebsten verkriechen! Die Geschichte überlebe ich nicht! Mit dieser wiederholte Prophezeiung verfügte sie sich in die „gute Stube“.

Die Frau Hofprediger und die Frau Kaufmann Kruse kamen ebenfalls noch kurz hintereinander, wie das Dienstmädchen Aenne und der Tante Emilie berichtete.

[119] „Lieber Gott,“ sagte letztere, „wenn doch deine Mutter etwas ruhiger wäre! Sie bringt sich ja ganz hin!“

„Es thut mir auch so leid,“ klagte Aenne, „aber – ich kann’s nicht ändern, Tante.“

Die alte Dame seufzte, dann ward’s wieder still. Nach einer Stunde ging draußen eine Stubenthür, die Damen verließen das Haus, sie sprachen bei der Verabschiedung alle miteinander, der Lärm drang bis in das stille Zimmer. Dann energische, kurze Schritte, die Hausfrau riß die Thüre auf, eine flackernde Röte lag unter den thränenfunkelnden Augen.

„Wenn ich den Schlag nicht kriege, dann soll’s mich wundern,“ sagte sie keuchend. „Ei Gott! Ei Gott! –“ Sie stieß eine Fußbank zur Seite und band ganz unmotivierterweise ihre Schürze ab, um sie gleich darauf wieder anzulegen.

„Weißt du, was sie sprechen in der Stadt?“ fragte sie, endlich vor Aenne stehen bleibend.

„Nein, Mama, es ist mir auch gleichgültig.“

„So? Mir aber nicht, wenn man erzählt, du habest dich auf den Kerkow gespitzt gehabt und aus purer Wut den andern nehmen wollen!“

Aenne sprang empor, alles Blut war aus ihrem Gesichte gewichen. „Ah!“ stieß sie hervor, „wer sagt das?“

„Wer? Ja, wer! Siehst du, das ist dir nun doch außerm Spaß! Nun stopfe ’mal die Lügenmäuler!“

Aenne saß schon wieder, sie antwortete nichts mehr.

„Ich habe den Damen meine Meinung wahrlich nicht vorenthalten, redete die Mutter weiter“, sie lügen ja den Himmel mit der Hölle zusammen! Wahrscheinlich habest du ein Vögelchen singen hören, daß da droben nicht alles mehr stimmt zwischen dem Brautpaar – erzählt man sich, und darum habest du den Bruch herbeigeführt mit Günther“ – „Herrgott!“ sie preßte die Handflächen gegen die Schläfen und gab dem unglücklichen Fußschemel einen Stoß in entgegengesetzter Richtung, daß er durch die halbe Stube flog.

Aenne erhob sich und schritt stumm hinaus. Sie wußte kein Wort von diesem Zerwürfnis, niemand hatte je zu ihr etwas davon erwähnt, sie dachte überhaupt nicht darüber nach. Aber daß ihr Geheimnis auch nur andeutungsweise bekannt war, das brannte sie wie Feuer. Eine Viertelstunde später pochte sie bei Fräulein Hochleitner an; natürlich wußte auch sie bereits von der Entlobung Aennes.

„Jesus Maria!“ rief diese, als sie das blasse Gesicht ihrer jungen Freundin sah. „Ist’s wahr?“

Aenne streckte ihr die Hand hin, der Goldreif fehlte. „Fragen Sie mich nicht weiter, ich kann nicht mehr davon sprechen,“ bat sie.

„Aber, Schatzerl, wo werd’ i! Sagen S’ mir nur, ist’s Ihna nun leichter ums Herz?“ „Ach, liebes Fräulein!“ flehte Aenne.

„Ja, und was fangen S’ denn nun an, wenn S’ net heiraten?“

„Lernen will ich – nach Berlin oder Dresden will ich, auf eine Musikschule!“

„Schauen S’ a’mal an! Und sind die Herren Eltern mit einverstanden?“

Aenne senkte den Kopf. „Ich weiß es nicht, noch sprach ich nicht mit ihnen darüber – ich bin noch so matt von gestern von alledem – – und der Sturm wird auch besser dann erst entfesselt, wenn die Brüder nach dem Fest wieder abgereist sind, die würden mich auch nicht verstehen, und es soll doch Friede sein am Friedensfest.“

„Sie meinen, die Eltern wer’n net gleich Ja und Amen sag’n?“

„O, lieber Himmel, nein! Aber, bestes Fräulein Hochleitner, ich kam mit einer Bitte her.“

„Schießen S’ los, mein arm’s Hascherl – wie sie blaß ausschaut – wenn’s in meiner Macht steht, will i ’s thun!“

„Darf ich Ihnen die Hochzeitskantate vorsingen?“

„Weiter nichts? Hab g’meint wunder was! Geh’n S’ her – da – vier Kraizerl sind’s – i markier’ jetzt das Orgelvorspiel, einundzwanzig Takt’ – so –“

Sie setzte sich ans Klavier und begann das Vorspiel. Aenne sang, verschleiert, mit halber Stimme, als quöllen ihr Thränen in der Kehle empor.

„Glauben Sie, daß ich wagen könnte, das zu singen vor Zuhörern?“ fragte sie dann.

„Aber warum denn net, wenn S’ richtig disponiert sind? Denn wissen S’, das muß sich anhör’n wie Glockengeläut und Engelstimmen, dös is mächtig, dös packt!“

„Natürlich! aber wenn ich mir Mühe gebe?“ „Ja, keine Frag’, freilich können S’ es singen!“ „Dann kommt meine Bitte, Fräulein Hochleitner.“ „Nun?“

„Sehen Sie,“ begann Aenne, „ich möchte gern, daß meine Eltern und Brüder mich einmal öffentlich singen hören, bevor ich ihnen eröffne, was ich vorhabe, und eine andere Gelegenheit wüßte ich in Ewigkeit nicht. Thun Sie mir den Gefallen, werden Sie kurz vor der Trauung der Ribbeneck – heiser, bitte, bitte, und dann lassen Sie mich für Sie eintreten!“

Fräulein Hochleitner machte eine Wendung auf dem Drehsessel und blickte das vor ihr stehende Mädchen mit unverhohlenem Staunen an. „Dös versteh i halt net“, sagte sie auf echt Wienerisch, „Sie wollen singen zum Kerkow seiner Hochzeit?“ Dann begann sie zu lachen. „O Sie Schlaukopferl, dös hätt’ i Ihn’n gar net zutraut! Wie S’ dös ausdacht hab’n, so fein! Aber dös is ka Sünd, da thu’ i mit! Um ein Viertel vor drei Uhr am dritten Feiertag pünktli auf d’ Minut’ werd’ i heiser, und a halb’ Stünderl später singen S’, dös heißt, wenn aus der ganzen Geschicht’ no was wird, denn kan halb’n Kreuzer geb’ i dafür.“

„Wie denn? Was soll denn das heißen?“ fragte Aenne gepreßt.

„Ja, haben S’ denn davon net g’hört? Dös weiß doch jed’s Kammerkatzerl drob’n im Schloß! ’ne arge Krempelei hat’s geb’n zwischen dem Paar, die Herzogin hat erst a Machtwort sprechen müss’n, daß ’s einigermaß’n wieder auf d’ Gleich kam, man sagt, wegen dem armen Hascherl, der Schwester von ihm, sei’s kommen, i glaub’, er hat’s gern woll’n in sein Haus nehm’n, das Wuzerl, das blasse! Aber die z’widere Person, die Braut hat’s net gewollt, hat förmli Wutkrämpf’ kriegt und hat g’sagt, er sollt’ wähl’n zwischen ihr und der Schwester, und da –“

„Und da?“ wiederholte Aenne.

„Hat sie halt ihr’n Willen durchg’setzt. Jesus Maria, ’s is a Kreuz und a Elend in der Welt mit die Männer, die sich immer als Herrn aufspielen und sich dann doch all’weil ducken.“

„Er wird sie eben sehr lieb haben,“ sagte Aenne tonlos.

Die Sängerin lachte, daß ihre blendend weißen tadellosen Zähne hinter den roten Lippen sichtbar wurden. „Lieb?“ rief sie „lieb? Sie heilige Unschuld, Sie! Jetzt sein S’ net bös, jetzt muß i lachen, dös glaubn S’ doch selber net. Na, also den Hochzeitspsalm woll’n S’ ihm sing’n? S’ is recht so! Aber machen S ’s brav, sonst schadt’s Ihn’n mehr, als es nutzt. – –“

Aenne fragte nicht mehr. Als sie nach Hause gekommen war, stellte sie sich ans Fenster und schaute zu dem Lichte hinauf, als könnte sie durch die Mauer hindurch, direkt in Heinz Kerkows Herz sehen. Ob es wahr ist? ob es wahr ist? fragte sie, ob er unglücklich ist, schon jetzt? Warum aber hatte er nicht den Mut, den sie gehabt, die Fessel zu durchreißen? Oder war das sein Mut, daß er festhielt an dem, was er gewollt?

Vielleicht – vielleicht war sie die Feige gewesen! Ja, ja, ihr hatte gegraut vor dem Leidensweg! Günther hatte ihn ihr ja selbst geschildert, ohne Liebe geht es nicht!

„Es geht nicht!“ murmelte sie zu dem Lichte hinauf, als wollte sie ihn warnen. „Im übrigen aber will ich zeigen, daß ich nicht feige bin, will mein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ich will nützen in der Welt, erfreuen aber ohne Zwang, ich will frei sein, ich will das Recht haben, zu trauern um eine verlorne Liebe, ohne daß die Trauer zur Sünde wird – ich will leben!“


Frau von Gruber war noch ganz krank von den Aufregungen der letzten vierzehn Tage. Nicht allein, daß sie sich mit der Beschaffung der Aussteuer und der Toiletten für die Braut neben dem Dienst bei Ihrer Durchlaucht, der sie mehr als je in Anspruch nahm, schachmatt gemacht hatte, da mußte auch noch der schreckliche Tag kommen, der so viel lange [122] und sehnlichst erwartete Hoffnungen zertrümmerte in Bezug auf Heinz und seine Schwester! Es war, als sollte der Stern der Behaglichkeit und Sorglosigkeit nie über den Kerkows aufgehen. Und wie sich das abspielte, mit immer neuen unerwarteten Wendungen! Wenn man sich nur wenigstens aussprechen könnte; aber mit Heinz war gar nicht zu reden und Hede sollte nichts erfahren, das war sein dringender Wunsch gewesen. Und wenn man seinen Wunsch nicht respektierte, so gab es kleine Scenen mit ihm, und vor diesen hatte Frau von Gruber Furcht. Er sagte zwar nicht viel, aber das Wenige waren Worte, so kantig und scharf, daß sie wie Dolchstöße in das Gewissen fuhren.

Sie seufzte, klingelte und ließ sich vom Diener Schreibmappe und Tintenfaß bringen, dann sich emporsetzend, schrieb sie auf dem Tischchen, das neben ihrer Chaiselongue stand, an ihre wärmste Freundin, eine Frau von Schliefen, die als behäbige Großmama im erste Stock ihres schönen Schlosses in Schlesien saß und keine weiteren Sorgen kannte als die, welche ihr die Enkelkinder mit Scharlach oder Masern, oder mit ihrer Wildheit drunten in der Wohnung des Sohnes bereitete.

„Vergönne mir, liebe Klementine,“ begann sie, „daß ich wieder einmal mein Herz vor Dir ausschütte. Wenn in Deinen Sonnenschein ’mal ein wenig Schatten fällt, so ist’s fremder Schatten, der Dich nicht frieren macht, Dir höchstens das Leben ein wenig interessanter erscheinen läßt, schon deshalb, weil Du an unseren Widerwärtigkeiten die Größe Deines Glückes ermessen kannst.

Ich schrieb Dir ausführlich damals die ganze Begebenheit mit dem Heinz Kerkow, daß er sich verlobt habe mit Toni Ribbeneck, die einen recht netten Geldsack vom alten Dietz Ribbeneck, der ehemals auf Karlitzke in Pommern saß, geerbt hatte, und auch, daß der Junge hier den Duodezposten eines Hofmarschalls an unserm Duodezhöfchen bekam. Na, Passion ist’s ja leider von ihm nicht gewesen, aber, lieber Gott, bei den Verhältnissen, in denen er steckte, war die Toni der Strohhalm, nach dem er griff und greifen mußte. Was für Aerger und Mühe ich meinerseits, ehe es soweit war, hatte, um Beides zu machen, die Braut und den Hofmarschall, na, Du weißt’s ja aus meinem Briefe!

Was geschieht nun? – Wenn Du es in einem Buche läsest, würdest Du rufen: Unmöglich! Unwahrscheinlich! Und doch ist alles, was nun folgt, nackte Wirklichkeit! – Also, er hat sich in seine neue Thätigkeit eingearbeitet, die Hochzeit ist bestimmt, Durchlaucht sehr gnädig, sehr liberal, erteilt vier Wochen Urlaub für die Hochzeitsreise, ich erbiete mich natürlich zur Stellvertreterin für Toni, und am dritten Feiertag soll die Hochzeit sein, d. h. nun in acht Tagen! – Doch, was geschieht vor vier Tagen? Hede Kerkow, die jüngste Schwester von Heinz, soll abends ankommen, er hatte auf ihrer Anwesenheit bestanden, und da das junge Ehepaar beabsichtigte, am Hochzeitstage abzureisen, lud er sie schon zeitig ein, um noch mit ihr zusammen zu sein. Durchlaucht hatte gnädigst erlaubt, daß sie hier Gast sei während der Zeit. – Mir war schon aufgefallen, daß Toni sich, sobald auf die Verwandtschaft von Heinz die Rede kam, sehr absprechend und still verhielt, unter uns – liebenswürdig ist sie nun einmal nicht! – – Um Mittag dieses Tages trifft sich das Brautpaar, wie immer, in meinem Salon. Ich sehe schon Heinz an, daß ihm irgend etwas geschehen sein muß, er ist blaß, und die gleichmäßige Ruhe, die er sich angewöhnt hat, scheint ihm völlig abhanden gekommen. Ich denke also, er hat Aerger gehabt mit den Beamten – kommt ja alle Tage vor, und leicht ist es nicht für einen Offizier wie er, wenn er plötzlich Haushaltungssorgen hat, denn weiter ist’s ja doch im Grunde nichts, aber er erwidert nichts auf meine Frage als: ‚Ich habe ein paar unangenehme Nachrichten bekommen, die eine über Hedes Befinden von unserm alten Hausarzt, die andere – über die spreche ich später mit Toni allein’.

Toni nun hat ein bemerkenswertes Talent, Unangenehmes nicht zu hören. Sie fängt also auch gleich von ihrem Teppich an zu reden, den ihr die Herzogin kürzlich schenkte, einem echten Smyrna. Heinz kommt wieder auf den Brief des Arztes und sagt, sehr freundlich neben Toni Platz nehmend. ‚Hede macht mir Sorge, ich möchte sie bei uns behalten, Toni, ich kann sie dem einsamen kummervollen Leben nicht länger aussetzen Sie ruiniert sich mit ihrem Unterrichtgeben, sie bekommt fünfundsiebzig Pfennig für die Stunde; sie reibt sich auf, um das tägliche Brot zusammenzubringen.’

Toni verfärbte sich vom Blassen bis zum Dunkelroten, rollte ihre Gürtelschleife zwischen den Fingern und antwortete:

‚Du kannst ihr ja lieber einen Geldzuschuß monatlich schicken.’

‚Damit ist ihr nicht gedient,’ sagte er noch ganz ruhig, ‚sie muß besser essen, sie kann sich kein Mädchen halten, und die Zeit, für sich Speisen zu bereiten, fehlt ihr.’

‚Warum speist sie nicht in einem Gasthaus?’

‚Nun, ich sehe, du willst nicht darauf eingehen,’ sagte er, aber ich kann dir diesmal nicht helfen, ich bestehe darauf, für ein Jahr wenigstens. Ich bitte dich, Toni, es ist die letzte Verwandte, die ich habe, denn meine irre Schwester – die –’

‚Warum muß es denn gleich sein?’ stieß sie hervor.

‚Weil’s just nötig ist!’ erwiderte er.

Ich will eben vermitteln, weil ich das Gewitter in ihr schon aufsteigen sehe, da sagt sie. ‚Nimm’s nicht übel, Heinz, der Gedanke, mein erstes Ehejahr zu Dreien verleben zu müssen, ist mir im höchsten Grade unsympathisch – ich bitte dich, davon abzusehen. Ich werde ihr einen so reichlichen Zuschuß geben, daß sie sich ein Mädchen halten kann und essen, wonach es sie gelüstet, aber –’

Er sah sie an mit einem Blick, Klementine – mir stockte das Herzblut, so zornig, so verächtlich war er. ‚Ich bedaure, auf meinem Willen beharren zu müssen,’ erklärte er eisig, ‚das Essen allein macht’s nicht, sie bedarf freundlichen Zuspruchs, Liebe, anderer Verhältnisse, anderer Luft – sie hat niemand weiter als mich und – –’

‚Und ich bestehe auf meinem Willen!’ ruft sie, ,ich heirate dich und nicht deine Familie!’ Und die ganze kreideweiße Person zittert vor innerer Erregung. Im übrigen, wenn dir deine Schwester lieber ist als ich – du brauchst nur zu wählen, sie oder mich.’

Eine Weile ist’s ganz ruhig. Ich bin halb ohnmächtig, natürlich, suche nach passenden Worten, aber obgleich ich sonst so leicht meine Fassung nicht verliere, fällt mir nichts ein, und als ich endlich den Mund öffne um zu sprechen, kommt Heinz mir zuvor und sagt ‚Vor diese Wahl gestellt – natürlich dich!’ Das klingt aber so höhnisch und wird mit so zuckendem Gesicht gesprochen, von einer so tiefen Verbeugung begleitet, daß, wie er bereits hinausgegangen ist, wir beide noch dastehen und uns verständnislos ansehen.

Sie macht endlich eine große Weinscene, redet davon, daß er sie nicht liebe, und steigert sich in einen wahren Paroxysmus von gekränkter Tugend und Unschuld hinein. Da bringt ein Lakai einen Brief von Heinz an mich, und als ich öffne, liegt darin eine Karte von ihm und ein großer Brief, an ihn adressiert. Auf der Karte schreibt er. ‚Liebe Tante, beifolgende Nachricht erhielt ich heute früh und wollte sie vorhin so schonend als möglich meiner Braut mitteilen. Ich bitte Dich nun, sie von dem Inhalt des Schreibens in Kenntnis zu setzen auf eine Weise, die sie nicht allzu sehr erschreckt, ich bin nach dem Vorhergegangenen nicht in der Lage, es genügend ruhig zu thun. Heinz.’

Ich lese und kann einen Ausruf des Schreckens nicht unterdrücken, Toni erkennt die Handschrift ihres Onkels, des Bruders ihrer Mutter, den sie mit der Verwaltung ihres ererbten Vermögens beauftragt hat, liest und bricht in Schreikrämpfe aus. – Denke Dir, Klementine, der alte Esel – pardon – hat das ganze Vermögen in Börsenpapieren angelegt und am neunzehnten November bei dem großen Krach ging, bis auf einen kleinen Teil, alles, aber auch alles verloren! – Der unglückliche Junge!

Ja, zu machen ist nichts und an ein Zurücktreten unter solchen Umständen ist auch nicht zu denken. Ich bin überzeugt, hätte er, als Toni ihn vor die Wahl stellte mich oder deine Schwester!, diese Hiobspost noch nicht gehabt, er würde rabiat genug gewesen sein, zu sagen ‚meine Schwester!’ So löste sich die Sache in einer leidenschaftlichen Abbittescene ihrerseits auf, die er stillschweigend duldete. Ueber den Verlust hat er kein Wort geäußert, aber er geht mit sorgenvoller Miene umher. Du kannst verstehen, was es für ihn heißt, ein armes Mädchen zu heiraten. – Sie hat ihm zwar pro forma ihr Wort zurückgeben wollen, doch hat er es selbstverständlich nicht angenommen. Se. Hoheit, [123] der Herzog, der die ganze Tragikomödie von der Herzogin Mutter erfuhr, hat ihn noch am nämlichen Tage nach dem Jagddiner in sein Arbeitszimmer befohlen, ihm dort lächelnd einen Frackknopf beinahe abgedreht – Du kennst ja die Manier des Herzogs, wenn er mit jemand spricht, an dessen Knöpfen zu spielen – und hat gesagt ,Mein lieber Kerkow, von der Ehrenschuld gegen Ihre Auserkorne kann ich Sie nicht lossprechen, aber von den Bären, die Sie sonst angebunden haben, da kann ich Sie frei machen. Stellen Sie ’mal so ein Listchen auf – soll mein Hochzeitsgeschenk sein!’ – Se. Hoheit hat entschieden ein Verständnis für die Situation des armen Jungen.

Eine Sorge ist also von ihnen genommen, im übrigen müssen sie leben mit der Hofdamengage und dem Hofmarschallgehalt. Es wird wieder ein neues Stückchen glänzendes Elend, wie wir, die wir von den Kerkows stammen, es seit altersher gewohnt sind. Von dem stattlichen Vermögen, das hundertundachtzigtausend Thaler betrug, sind keine zehntausend gerettet!

Nun ist Hede Kerkow hier, und Toni und sie gehen umeinander herum mit mißtrauischen Blicken, wie die Katze um den heißen Brei. Hede hat meistenteils große fragende, ängstliche Blicke für mich und für ihren Bruder, am liebsten sitzt sie allein in ihrem Zimmer. Toni hat ihren Vermögensverlust so ziemlich überwunden und sich wenig oder gar nicht zurückgeschraubt in ihren Ansprüchen. Der Rest, den sie behielt, wird bald genug vergeudet sein. – Mein armer Junge! Und wie, wenn die alte Herzogin stirbt? Die Pension, die er und sie erhalten, ist nicht der Rede wert, und die alte Dame ist merkwürdig zusammengebrochen seit dem Herbst.

Du siehst, Klementine, nichts als Sorgen, nichts als beängstigende Schatten!

Leb wohl, Klementine! Im Sommer hoffe ich Dich zu sehen, von vergangenen glücklichen Tagen zu plaudern, ist das einzige, was mir noch Freude macht im Leben. Am Polterabend, den die Herzogin ebenso wie die sehr kleine gewählte Hochzeit ausrichtet, sehe ich die Gräfin Arnstein, wir werden von Dir sprechen. Von ihren sechs Töchtern ist noch keine verlobt, sind auch keine Bilder auf Goldgrund mehr, die Töchter aus dem Hause Arnstein.

     Addio, grüße Deine Kinder!

Immer Deine getreue Christiane von Gruber geb. von Kerkow.

[133] Seit Frau von Gruber an ihre Freundin in Schlesien jenen Brief geschrieben, in welchem sie ihr die Enttäuschung mitgeteilt hatte, die ihr Neffe Kerkow in Bezug auf das Vermögen seiner Braut hatte erleben müssen, waren zwei Wochen vergangen. Hede Kerkow hatte der Tante und dem Bruder erklärt, sie werde bei der Polterabendfeier nicht zugegen sein, und wenn man ihr zureden wollte, hatte sie gerufen: „Soll ich denn zweimal hintereinander in dem nämlichen weißen Kaschmirkleidchen hier auftreten? Und das möchte noch gehen, aber mir steht der Sinn nicht nach so viel Menschen, ich gebe meinem Herzen schon einen großen Stoß, wenn ich das Hochzeitsdiner mit absitze. Laßt mich, bitte, bitte! Eigentlich wollte ich nur dem Heinz das Geleit in die Kirche geben!“

In der Nachmittagsstunde vor dem Polterabend klopfte sie an die Thür von ihres Bruders Zimmer; sie mußte ihn noch einmal sehen, bevor sie ihn für immer hergab. Vorläufig war noch nichts in seinen Räumen geändert; erst wenn das junge Paar abgereist sein würde, sollte die Schar der Handwerker sich ihrer erbarmen und unter Tante Grubers Aufsicht eine elegante Wohnung daraus schaffen. Tonis Wünsche in Beziehung hierauf hatten sich nicht geändert, überdies war bereits alles bestellt gewesen.

Heinz Kerkow saß müßig in einer der Fensternischen, draußen wirbelte dichter Schnee. So dicht fielen die Flocken, daß von dem Städtchen und der weilen Ferne draußen nichts mehr zu sehen war; kaum noch konnte man die am Schloßplatz liegenden Häuser erkennen.

„Du, Heinz,“ sagte sie herzlich, als sie auf das „Herein!“ in das Zimmer getreten war, „sei nicht böse, daß ich noch einmal komme, ehe der große Trubel beginnt, ich hatte solch große Sehnsucht nach dir, morgen bist du schon weit fort.“

„Willkommen, Hede,“ antwortete er freundlich, „ich bin gerad’ noch ein paar Stunden ,Freiherr’. Meine Geschäfte hat Se. Excellenz seit heute [134] mittag übernommen, Toni macht Toilette und Tante Gruber ebenfalls. ’s ist die Stille vor dem Sturm, Kind, und da du heute abend nicht unser Fest verherrlichen willst, so wollen wir uns einander jetzt schadlos halten.

Er war aufgestanden, hatte ihr seinen Stuhl im Erker überlassen und nahm nun ihr gegenüber Platz. „Sitzt sich’s hier nicht nett, wenn das Wetter da draußen sein Unwesen treibt?“

„Sehr nett – aber Heinz, du bist mir doch nicht böse, daß ich nicht mitthue, heut’ abend?“

„Ach, Kind, ich begreife dich vollkommen in deiner Trauerstimmung.“ Sie hatten sich die Hände gereicht und schauten sich liebevoll in die Augen. „Ja, ja,“ sagte er, mühsam lächelnd, „nun wird’s Ernst.“ „Heinz, wenn du doch recht glücklich würdest,“ sprach sie mit zitternden Lippen.

„Ich werd’ schon – ich werd’ schon!“ tröstete er und streichelte ihre Hände. „Mache dir nur keine Gedanken, Kind; deine Zukunft liegt mir mehr am Herzen, macht mir mehr Sorgen als die meine. Unsereiner beißt sich schon durch.“

„Wie das klingt für einen angehenden Ehemann,“ bemerkte sie, halb lachend, halb weinend, „durchbeißen! Beißen! Weißt du noch, wie wir Hochzeit hielten als Kinder, als du Nachbars Willy mit mir trautest und die schöne Rede hieltest. ‚Schlagt euch nicht, beißt euch nicht, zerkratzt euch lieber das Gesicht,’ und ‚Wenn euch die bösen Buben locken, so lauft voran auf schnellen Socken’?

Er lachte. „Gottloses Volk waren wir doch, Hede was? Ich glaube, ihr habt euch dann auch möglichst bald gekratzt, du und dein Willy“ –

„Versteht sich! Aber dann nahm ich mir kaltblütig einen andern, den Paul Gröber.“

„Ja“, sprach er, zwischen Scherz und Ernst schwankend, „das war erlaubt und recht einfach.- Wenn sich richtige Eheleute später beißen und kratzen, so ist’s zwar nicht hübsch, aber sie müssen trotzdem zusammen bleiben.“

„O Heinz, ich meine, das kann man vor der Hochzeit schon fühlen, ob man sich später beißen oder kratzen wird!“

„Hm! Das möcht ich nicht gerade behaupten“, antwortete er, „aber hab’ keine Angst, Hede, meine Ehe wird nicht beißig und kratzig – sie wird musterhaft friedlich sein.“

Sie sah ihn wieder mit dem schmerzlich fragenden Blick an, wie immer, seitdem sie ihn das erste Mal neben der Braut in seiner neuen Stellung gesehen hatte. Es lag ein eigentümlich bitterer Ton in seiner Stimme, matt und scharf zugleich.

„Ob ich dir das garantieren kann, meinst du?“ fragte er. „Gewiß, denn, siehst du, zum Zanken, Kratzen, Beißen gehören zwei, und ich meinerseits bin darauf durchaus nicht versessen – verstehst du, Kleine?“

„O ja“, antwortete sie, „und zum Lieben gehören auch zwei“.

„Nun sieh ’mal an, wie klug du bist, also –“

„Heinz!“ Sie konnte ihrer Bewegung nicht mehr Herr werden. – „Ach, Heinz, red nicht so leichtfertig – wie anders bist du nur geworden!“ stieß sie hervor, „als wärst du nicht mehr der goldtreue, edle, fröhliche Junge wie früher! Schon dieses Civil schmerzt mich, das dich gar nicht kleidet, nein, gar nicht – und alles, alles – –“

„O wirklich nicht?“ unterbrach er sie lächelnd, um dem Gespräch eine harmlosere Wendung zu geben, „und ich bildete mir ein, hinreißend im Frack zu sein, mindestens ebenso vornehm wie im Waffenrock! Na, laß gut sein, Hede, was du meinst, verstehe ich – kannst es mir nicht verzeihen, daß ich die Uniform auszog? Aber sieh, Kind, ich hätt’s so wie so thun müssen, denn zum Weiterdienen langte es nicht, das weißt du. Indessen, verlass’ dich darauf, wenn ein Feldzug kommt, ist der Frack im Umsehen aus und die Montur angezogen!“

„Ich hätte mich lieber als Soldat durchgehungert,“ sagte sie trotzig. „Und allein, verstehst du, ganz allein – es wäre doch gewiß gegangen!“

„Ach du, du ahnst ja nicht, was du sprichst,“ murmelte er.

Sie wurde dunkelrot. „Du hast doch hoffentlich bei dem Schritt, den du gethan, nicht an mich gedacht, Heinz? Das wäre mein Tod, ich könnt’s nicht ertragen!“

„Nicht allein an dich, auch an unsere alte Mutter, unsere Schwester in Halle – denkst du nicht an sie, Hede?“

Sie trocknete die Thränen und preßte die Lippen zusammen; er wandte den Kopf ab und schaute hinaus. Drunten, hinter den wirbelnden Flocken tauchten die Umrisse der Gebäude deutlich auf, hier die Oberförsterei , dort das Haus des Medizinalrats May, in dem Riesengebäude, dem Gasthof, wurden schon verschiedene Fenster hell. Dort wohnten die fremden Gäste, die zu seinem heutigen Polterabend geladen waren, Familien aus der Residenz, aus der Umgegend, die Sippe der Ribbenecks, die Kameraden seines alten Regiments – –

„Wenn ich dir helfen könnte,“ sagte Hede plötzlich laut und leidenschaftlich, „ich brächte Ottilie um – und mich dazu – wozu leben wir auch!“

„Wozu – oder wovon helfen?“ fragte er betroffen und wandte sich nach ihr um.

„Von deiner Heirat! –“

„Du bist toll, Mädel!“ antwortete er, seine Augen blitzten drohend und eine Röte lagerte auf seiner Stirn. „Was geht dich das an, was kümmert dich die Wahl meiner Frau? Hast du einmal Vorwürfe zu gewärtigen, wenn die Sache schlecht ausgeht?“

„Nein!“ sagte sie hart, „du könntest mir auch keinen Vorwurf machen, denn ich – ich möchte dich am liebsten mit diesen meinen beiden Händen von ihr wegreißen!“

„Hede!“ rief er, aufspringend bei dem rücksichtslosen Bekenntnis des sonst so ruhigen Geschöpfes.

Aber die grenzenlose Enttäuschung über die Schwägerin, eine Enttäuschung, die in ihrem Herzen sich seit ihrer Anwesenheit in Breitenfels, seitdem sie Toni zum erstenmal gesehen, aufgesammelt hatte, die Angst, der Schmerz um das Schicksal des über alles geliebten Bruders ließen sie jede Rücksicht vergessen. Sie sprang empor, eilte zu ihm, und neben ihm niedergleitend, faßte sie seinen Arm. „Muß es denn sein?“ rief sie halb erstickt, „besinne dich doch, Heinz, du bist doch sonst nicht feige gewesen – nichts als ein kurzer Entschluß gehört dazu – Hunderte von Verlobungen gehen zurück. Da drunten das junge Mädchen, von dem jetzt alle Welt spricht – wie heißt sie doch gleich? hatte den Mut, habe ihn doch auch, mach’ dich nicht unglücklich, Heinz, lieber Heinz – noch ist’s Zeit – denke nicht an uns, gehe hinaus in die Welt, schaff’ dir ein freies Glück!“

Er hatte sie emporgerissen, sie in einen Stuhl gedrückt und holte ein Glas Wasser. „Trink!“ sagte er kurz, „beruhige dich, deine Nerven spielen dir übel mit! Lernst du sie nicht beherrschen, so betrittst du denselben Weg, den unsere unglückliche Schwester jetzt wandelt. Sieh mich nicht so entsetzt an! Wenn du so unsinnig sein und deinem Bruder den Rat geben kannst, ein Schuft zu werden, indem er sich, um einem eingebildeten Unglück zu entgehen, der Pflicht eines Ehrenmannes entzieht – entzieht in der elften Stunde, so bist du nicht mehr normal! Fasse dich! Ich weiß, dich läßt die Liebe zu mir in der Mücke einen Elefanten sehen, und deshalb will ich dir die Scene, die du mir heute machst, nicht anrechnen. Für die Zukunft aber, Hede und nicht wahr, es liegt dir daran, daß wir zueinander halten in echter Geschwisterliebe? – für die Zukunft darfst du nie wieder ein Wort gegen die sagen, die meine Frau ist, denn sieh – sonst müssen wir uns trennen. Nun reiche mir die Hand und sei meine vernünftige Hede – komm, gieb mir einen Kuß. Er beugte sich nieder und küßte sie, sie aber saß wie ein wächsernes Bild und mühte sich vergebens, ihres Zitterns Herr zu werden.

Eine lange Zeit blieb es stumm zwischen ihnen; er stand am Fenster, ihr rieselten unausgesetzt große Tropfen über die Wangen. Ja, lieber Gott, sie hätte sich das sparen können, hatte sich auch schon alle Tage, die sie hier weilte, gesagt. „Es ist nichts mehr zu ändern daran!“ Nun platzte sie zuletzt doch noch damit heraus! Und er – er schaute zu Aenne Mays Vaterhaus hinunter und dachte über Hedes Ausruf nach. Die hatte den Mut gehabt, sich frei zu machen; ja, die konnte es auch, das lag anders! Sie hatte einfach einen Irrtum eingesehen, er aber, er war der Werbende gewesen, er hatte nach Toni Ribbeneck gegriffen wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm. Jetzt, wo er sich auf festes Land gerettet, konnte er sie nicht verlassen. Daran gedacht hatte er, vor drei Wochen noch, als er mehr und mehr die Oede des Gestades erkannte, auf dem er gelandet durch sie; er [135] meinte damals, es sei nicht möglich, darauf zu leben. Nun, wo sie in Anbetracht ihrer Ansprüche ans Leben so gut nie mittellos geworden, kamen jene verzweifelten Gedanken einer Flucht nicht mehr; er wußte, was er sich schuldig sei, und es war so etwas wie Galgenhumor über ihn gekommen. ‚Vorwärts mit frischem Mut!’ trommelte er auf den Fensterscheiben.

Da scholl die Stimme Hedes hinter ihm. „Willst du mir verzeihen, Heinz? Ich sehe ja ein, ich war toll, du kannst ja gar nicht anders, vergieb mir!“

Er wandte sich sogleich um und nahm sie in den Arm. „Siehst du, du dummes Mädel? Wozu das alles erst – du solltest mich doch kennen!“ „Ja, es war dumm von mir.“

„Na, laß gut sein,“ tröstete er, „wir beide bleiben die Alten; ich wollte nur, ich könnte dich in der Nähe behalten!“

„Ich wollte es auch, aber es geht doch nicht, Heinz.“

„Meinst du nicht, daß du hier auch einige mallustige Mädel zusammenbringst, wenn du dir ein paar Stübchen mietest?“

Sie schüttelte den Kopf. „Und wovon soll ich unterdes leben, ich meine, bis ich die Malmädel gefunden habe?“

„Aber Hede, welche Frage! Bei mir steht immer der Tisch gedeckt für dich.“

„Nein“, sagte sie, indem sie sich aus seinen Armen wand, und ihr Gesicht bekam etwas Starres, Hartes, „nein, nichts – nichts von Toni!“

Er sah sie an, halb ernst, halb spöttisch. „Von Toni würde wohl nicht viel dabei sein, Hede, ich bezweifle, daß ihre Gage weiter reicht als zur Bestreitung der Toilette.

Sie verstand ihn nicht. „Aber – das große Vermögen?“ stotterte sie.

„Das? Er lachte auf einmal so herzlich wie in alten Tagen „das ist so sicher angelegt, daß sie gar nicht dazu kann, Hede.“ Ihr betroffenes Gesicht amüsierte ihn geradezu.

„Was soll das heißen? Toni ist arm?“

„Ungefähr so. Du siehst also, Schatz, du könntest ohne zu große Gewissensbisse an unserem Tische mitessen.“

„Nein!“ wiederholte sie kurz und mühsam atmend, „du hast schon übergenug Last an Ottilie!“ Sie war in den Stuhl zurückgesunken und starrte vor sich hin. Mit welchen Hoffnungen war sie hergekommen aus ihrem Elend daheim! Auf Liebe, auf Sonnenschein hatte sie sich gefreut, auf ein Atmen in anderer Luft, und nun blieb ihr doch nichts weiter, als wieder hineinzutauchen in das Jammerleben, das Stundengeben für einen Bettellohn, das Hungern bei Thee, Kartoffeln und Grießbrei, das Hungern nach einem Herzen, welches ihr nahe stand.

„Heinz“, sagte sie endlich, „ich reise übermorgen wieder heim“.

„Warum willst du nicht noch ein Weilchen bei Tante Gruber bleiben, Hede? Es würde deiner Gesundheit so dienlich sein.“

„Nein! Nein! Ich verwöhne mich hier nur, und wenn du fort bist – was soll ich hier?“ sprach sie heftig.

„Aber ich bleibe ja nicht lange, Kind, Italien haben wir heimlicherweise längst aufgegeben – acht Tage Berlin, voilà tout!“

„Nein, nein, es ist besser, ich reise!“

„Wie du nur aussiehst,“ schalt er, „ich muß ja Angst haben, dich hier allein zu lassen heute abend-“ „Aber warum? Ich bitte dich, ängstige dich nur nicht um mich! Ich lese, ich werde –“

Er sah nach der Uhr. „Nun ist’s auch für mich Zeit,“ sagte er zögernd, das blasse Mädchen mit den starren, dunklen Augen that ihm so unsäglich leid.

„Hast du etwas zum Lesen?“ fragte er und trat an ein Tischchen, auf dem Bücher und Journale lagen, nahm einige davon und ergriff dann noch eine Zeitung, auf deren Titel „Breitenfelser Amtsblatt“ zu lesen war, und übergab ihr alles. „So, Hede, da hast du allerlei, sogar die neuesten Begebenheiten in Breitenfels, von meinem Polterabend bringen sie sicher auch einen Sums. Und nun fange keine Grillen, auf mich kannst du immer bauen, hörst du, Hede, wenn ich auch kein Krösus bin. Und thue mir den Gefallen, überlege, ob du nicht lieber hier dein Domicil aufschlagen willst!“

Sie hielt, wie geistesabwesend, die Bücher im Arm.

„Komm,“ sagte er, „ich bringe dich hinüber.“

Sie schritten miteinander den langen, teppichbelegten Korridor hinunter. Hedes Zimmer lag nach der Seite hinaus, die von der Herzogin Mutter bewohnt wurde, nur zwei Treppen höher. Er trat hinter der Schwester ein, die Hängelampe brannte, die Vorhänge waren zugezogen, im Kamin züngelten die Flammen.

„Ist dir’s auch warm genug?“ erkundigte er sich; „dein Souper ist angeordnet. – Daß du auch so allein bist! Soll ich nochmals zu dir kommen, wenn das Fest zu Ende?“ Sie nickte. „Bitte!“

„Ich werde vorsichtig anklopfen, falls du schläfst.“ „Ich erwarte dich, ich schlafe nicht.“ – Es ist der letzte Abend, den du noch mir gehörst, wollte sie sagen, verschluckte es aber.

„Leb’ wohl indessen, Hede, ich sehe dich also noch,“ setzte er rasch hinzu, wie um weitere Betrachtungen abzuschneiden. Dann ging die Thür und das Mädchen war allein.

Sie zog an den Kamin einen Sessel und hockte sich hinein, die Füße emporgezogen, die Bücher und Zeitungen hielt sie noch immer an sich gepreßt. So verharrte sie eine ganze Weile. Bis hier hinauf drang kein Laut, das Schloß war ja überhaupt so geräuschlos, als sei es von Geistern bewohnt, und so still war es hier wie daheim in ihren niedrigen einsamen Zimmern. Nur die Uhr tickte, eine Bronceuhr im Empirestil.

Hede brach auf einmal in leises leidenschaftliches Schluchzen aus, ein unsägliches Grauen vor der Zukunft hatte sich ihrer bemächtigt. Bisher, seit Mutters Tode, war Heinz ihre Hoffnung gewesen, und diese, lieber Gott, war gescheitert! Der arme Junge, der würde selber seine Not haben, durchzukommen. Und sie fühlte, wenn sie weiter leben mußte wie bisher, ohne einen Menschen, der ihr nahe stand, es würde Wahrheit werden, was Heinz ihr angedroht, sie würde dort enden, wo ihre Schwester schon war – im Irrenhause! Sie gedachte der Nächte, da sie, furchtdurchschüttelt ob der entsetzlichen Einsamkeit und Verlassenheit, in ihrem Bette aufrecht saß, sterben und verderben konnte sie, keiner hätte es gemerkt! Sie gedachte der Morgen, an denen sie frierend umherschlich, um auf dem Spirituslämpchen Thee zu bereiten, dachte an das Heizen des Ofens mit den starren zitternden Fingern. Ja, wenn sie’s gewöhnt gewesen wäre! Aber bis vor kurzem hatte sie noch eine Aufwartefrau gehabt. Und dann die Unterrichtsstunde mit dem schmerzenden Kopf, in dem Terpentindunst, und mittags die paar eiligst gekochten Kartoffeln, ein Ei dazu, wenn’s hoch kam, und wieder ans Werk, dutzendweise dasselbe Motiv auf Ober- und Untertassen, und doch welch’ Glück, wenn sie Arbeit hatte!

Dann kamen die langen Abende, an denen sie vorzeitig aus Müdigkeit und Frost ihr Lager suchte, denn der Schlaf floh sie bis zum Morgen. Sie schlug sich plötzlich mit der flachen Hand vor die Stirn und blickte sich um, als erwachte sie eben aus schwerem Traume. Dann setzte sie die Füße herunter vom Stuhl und betrachtete wie abwesend die Lektüre, die sie noch in der Hand hielt – „Breitenfelser Amtsblatt“, las sie. Mechanisch faltete sie es auseinander – Politik – Hofnachrichten – der Name ihres Bruders sprang ihr entgegen, die Namen der eingetroffenen Gäste – wie großartig das klang! Dann Theateranzeige: „Der Barbier von Sevilla“ – vorletzte Vorstellung, – eine Verlobungsanzeige, – irgend jemand hatte Zwillinge bekommen, irgend jemand war gestorben – eine Büffettmamsell mit feiner Garderobe wird gesucht – und endlich blieben ihre Augen wie gebannt an folgendem Satze hängen.

„Eine gebildete Dame als Repräsentantin seines Hauses, die bei drei Kindern im Alter von 7, 5 und 3 Jahren Mutterstelle zu vertreten hätte, sucht möglichst sofort
der herzogl. Oberförster Günther.“

Sie las noch einmal und saß dann wieder regungslos wohl eine Viertelstunde lang, bis die Uhr neben ihr mit silberner Stimme sechs Schläge ertönen ließ. Plötzlich sprang sie empor, setzte hastig ihren schmucklosen Filzhut auf, fuhr in das Jackett, griff nach dem Muff und verließ das Zimmer. Sie vermied die Haupttreppe und schritt die für die Dienerschaft bestimmte Stiege hinab. Sie kannte die Seitenthür, die direkt unter den Zimmern der alten Herzogin auf den Schloßberg mündete. Der Weg führte zum Marstall und zog sich in Windungen durch jetzt kahles Fliedergesträuch hinunter. Sie ging mit schnellen und kurzen Schritten, ein starkes Herzklopfen peinigte sie. Die Fensterreihen der Gemächer der Herzogin strahlten mit ihren rötlichen [138] Lichtern in die Schneenacht hinaus, ihren Weg erhellend. Bald war sie am Fuße des Berges und schritt auf dem Schloßplatz dahin, der Oberförsterei zu. Die ersten Wagen mit Gästen rollten eben langsam den steilen Berg hinan, am Eingange des Schloßhofes flammten Pechfackeln und zuckten mit ihrem Schein über die Gebäude und die dürren Wipfel des Parkes.

In wenig Minuten hatte Hedwig von Kerkow die Oberförsterei erreicht und trat ein in den kaum notdürftig erhellten Flur. Die Schelle rasselte laut und mißtönig, ein paar Dachshunde fuhren ihr belfernd entgegen, und bald nachher trat aus der nach rechts gelegenen Stube ein Mädchen, dem sich einige Kinder nachdrängten, und fragte nach ihrem Begehr.

„Ist der Herr Oberförster zu Hause?“

„Ja! Wen soll ich melden?“

„Sagen Sie ihm, eine Dame, die auf seine Annonce hin gekommen ist.“

Das Mädchen musterte im Abgehen Hede Kerkow vom Kopf bis zu den Füßen. Nach einem Weilchen kam es zurück. „Der Herr Oberförster lassen bitten, einstweilen einzutreten, er stehe gleich zur Verfügung. Sie führte Hede in ein Zimmer; die Lampe brannte auf der Platte des Schreibtisches und warf ihren Schein auf dienstliche Papiere: der Sessel war halb zurückgeschoben, als sei eben jemand eilig aufgestanden.

„Nehmen Sie Platz!“ sagte das Mädchen und schob einen Stuhl so ziemlich in die Mitte der Stube.

Hede dankte und blieb stehen. Das Mädchen machte sich am Ofen zu schaffen. Ein schöner Hühnerhund erhob sich von der warmen Lagerstatt und kam langsam herüber zu der fremden Dame; als er vor Hede stand, bewegte er den Schweif und schaute sie an aus seinen glänzenden, klugen Augen, und sie streichelte leise den schönen Kopf des Tieres.

„Wenn Sie hier die Stelle haben wollen, dann sagen Sie man nichts auf die gewesene Braut,“ begann plötzlich das Mädchen plump vertraulich. „Was die Stübken is, die is deshalb hinausgeflogen gestern, aber mit Dampf, und sie hatte doch gedacht, sie macht es recht schön. Na, meinswegen, ich bin froh, daß das Lügenmaul raus is!"

Hede maß die Schwätzerin mit einem kühlen Blicke von oben bis unten und wandte sich wieder zu dem Hund. Das Mädchen zögerte noch ein Weilchen, dann ging es.

„So ’ne olle hochmütige Trine, was braucht die sich zu melden,“ murmelte es, „der werd ich’s eintränken, wenn sie hier in Konditschon kommt!“

Hede stand noch mit dem Tiere beschäftigt, als Günther eintrat. „Entschuldigen Sie, Fräulein,“ bat er, „ich ließ Sie warten. Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ Er wies zum Sofa hin und ergriff den Stuhl ihr gegenüber.

„Ich komme,“ begann sie, dunkel erglühend. – „Ja, ich weiß,“ unterbrach er, ihr feines vergrämtes Gesicht betrachtend. „Ich suche – ich bin nämlich Witwer, Fräulein – eine Dame, die meinem Hause vorsteht und die ein wenig gut ist mit den Würmern – Unruhe und Arbeit würden Sie reichlich finden, ich bin nicht allzuviel daheim, verlange aber auch keinerlei Berücksichtigung meiner Person. Seeben, das ist mein Faktotum, ein alter invalid geschossener Waldläufer, der sorgt für mich, mit mir haben Sie also keine Last, Fräulein. Aber trotzdem – Sie sehen zart aus – am End’ wird’s doch zu schwer für Sie.“

„O, sicher nicht!“ antwortete sie, „ich habe viel Lust zur Wirtschaft und Kindererziehung, viel Uebung freilich nicht. Vielleicht versuchen Sie es mit mir, Herr Oberförster?“

„Haben Sie Zeugnisse?“ fragte er.

„Nein,“ sagte sie, „ich war bisher noch nicht in Stellung, ich lebte bis vor kurzem mit meiner Mutter zusammen. Sie starb so rasch, und ich fühle mich einsam und wünsche Thätigkeit. Vorhin las ich Ihr Gesuch – ich bin sogleich gekommen.“

Er heftete den Blick auf sie. Ein schmales, edel geschnittenes Gesicht, nervös die Farbe wechselnd, um den feinen Mund ein herber Zug, und ein Paar großer dunkler Augen, in denen viel zu lesen war von verschwiegenem Kummer, von herben Erfahrungen. Sie gefielen ihm, diese bangen fragenden Augen. „Und Sie könnten gleich kommen, Fräulein?“

Sie zögerte ein wenig. „Ja!“ sagte sie dann, „ich denke, es wird meinem Bruder so recht sein.

„Lebt Ihr Bruder hier?“

„Er lebt hier,“ antwortete sie stockend, „es ist der Hofmarschall von Kerkow.“

Der Mann vor ihr war jählings aufgestanden. Des Kerkows Schwester? – Er trat zum Schreibtisch und wühlte dort planlos umher, und seine Hand zitterte dabei. – Die Schwester des Mannes, dem er indirekt die bitterste Erfahrung seines Lebens verdankte! „Weiß Ihr Herr Bruder?“ fragte er tonlos.

„Nein!“ erwiderte sie, „aber ich weiß, er wird sich freuen, wenn wir bei einander bleiben. Wir haben uns beide nötig, er und ich, Herr Oberförster.“

„Aber sollte dem Herrn Hofmarschall von Kerkow es recht sein, daß seine Schwester eine – – es ist doch immerhin eine dienende Stellung, Fräulein?“ „Wenn nicht hier, dann wo anders, Herr Oberförster. Er sowohl wie ich – waren und sind nicht in der Lage –“

Er unterbrach sie rasch. „Ich möchte doch erst die Einwilligung des Herrn Hofmarschalls –“

„Ich bin mündig,“ erwiderte sie, „zweiunddreißig Jahre alt. Aber wenn Sie Bedenken haben – es wäre, freilich es wäre ein Glück für mich gewesen, in seiner Nähe bleiben zu können!“ Sie stand auf und schickte sich zum Gehen an.

Ihm war es auf einmal wie eine Erleuchtung gekommen. „Wenn Sie es versuchen wollen, Fräulein,“ sagte er, „ich würde mich glücklich schätzen, eine Dame wie Sie um die Kinder zu wissen, und lieb wäre es mir, wenn Sie bald, recht bald kommen könnten! Soviel an mir liegt, will ich Ihnen die Stellung angenehm machen, Sie müssen nur entschuldigen, ich bin nicht auf dem Parkett groß geworden. Wenn ich –“

Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Ich verspreche Ihnen, alles zu thun für die Kinder, was in meinen Kräften steht. Gott gebe, daß ich ihre Herzen gewinne!“

Er schüttelte die Hand. „Und die Bedingungen?“ sagte er unsicher.

„Das überlasse ich Ihnen,“ antwortete sie, entschlossen, in dieser Hinsicht durchaus nicht prüde zu sein. „Geben Sie nur, was Sie Ihrer vorigen Hausdame gaben, oder weniger, jedenfalls aber, ehe wir das vereinbaren, warten Sie, ob Ihnen meine Leistungen genügen. Und jetzt zeigen Sie mir, bitte, die Kinder!“ Er ging mit großen schweren Schritten aus dem Zimmer, und kam dann wieder, das Jüngste auf dem Arm, die beiden andern zur Seite. „Da ist eure neue Tante – Sie erlauben doch, gnädiges Fräulein –“ schaltete er verlegen ein.

„Bitte, bitte“, sagte sie, „und nennen Sie mich nicht ‚gnädiges Fräulein’, nur einfach ‚Fräulein Kerkow’ oder ,Fräulein Hedwig’, oder auch nur ‚Fräulein’. – Kommt einmal zu mir, Kinder, und erzählt mir, wie ihr heißt! Sie nahm ihm das Kleine vom Arm und setzte sich mit ihm auf den nächsten Stuhl, während sie den beiden größeren freundlich zulächelte. Sie ließ sich durch die unguten Mienen der verschüchterten Kinder nicht schrecken, sie redete tapfer in sie hinein, fragte nach Puppen und Schaukelpferd, und nach einer Weile antwortete der Junge ihr zuerst, dann mischte sich Agnes ein mit unendlicher Wichtigkeit, und das ganz Kleine ward auch gesprächig. Es wurde ein wahres Vogelgezwitscher in der sonst so stillen Stube.

„Bleibst du gleich hier?“ fragte der Bub’.

„Heute nicht, ich komme aber wieder – übermorgen.“ „Bleib’ doch lieber gleich, meinte die Aelteste, „der Papa ist so traurig, das ist gar nicht schön!“

„Uebermorgen komme ich, und heut’ geht ihr schlafen ohne mich und morgen auch. Und wenn ihr zum drittenmal schlafen geht, dann komme ich mit und erzähle euch ein Märchen dabei.“

Sie waren es so zufrieden und begleiteten die neue Tante mit dem Vater bis an die Hausthür. Mit einem hellen „Auf Wiedersehen!“ schied sie und ging schnellen Schrittes den Weg zurück, den sie gekommen. Der Oberförster aber stand am Fenster und sah der schlanken Gestalt nach, die so unversehens nun in sein Leben getreten war.

Des Kerkow Schwester in seinem Hause! Des Mannes Schwester, von dem er jetzt geträumt im Wachen und Schlafen, an den er nur im tiefsten, herbsten Groll gedacht! Und nun – nun wußte er auf einmal alles, als habe ihm jemand aufgezeichnet, [139] wie es um jenen und um Aenne stand. Der arme Offizier hatte blutenden Herzens dem heimlich geliebten Mädchen entsagt und um seiner Familie willen die andere genommen, und das vor Zorn und Schmerz verzweifelnde Kind hatte sich in seine Arme gestürzt. Ihr armen Beiden! Sie war an der Schwelle der Ehe zusammengebrochen unter der Unmöglichkeit, einen andern zu lieben; der Mann schleppte sich bis zum Altar und weiter, immer weiter, bis ihm das Herz erstarrte in seiner Brust.

Der Oberförster fühlte seinen Groll schwinden gegen Heinz Kerkow, aber er seufzte tief, er war hineingezogen worden in diesen Kampf und jedermann kannte seine Wunden. Es sollte das letzte Mal sein, daß ein Weib in sein Leben gegriffen, das hatte er sich gelobt! Er pfiff dem Hunde, setzte sich in die Sofaecke und tätschelte den Kopf des schönen Tieres. „Bist doch die Treueste,“ sagte er leise und zärtlich, „gelt, Diana? Wenn wir miteinander da draußen sind in dem weiten herrlichen Gotteswald, dann wird die ganze Jämmerlichkeit dieses Lebens so wesenlos und klein, nicht wahr, Alte?“

[149] Der andere Tag brach an, Heinz Kerkows Hochzeitstag.

Auf Aennes Gesicht lag etwas Ernstes, Entschlossenes – ihr Bruder Walther, der Student, sagte: so etwa, als ob sie statt der Toni „angekoppelt“ werden sollte. „Willst du mit?“ fragte er dann. „Wir fahren nachher mit Richard Meyer nach dem Jagdschlößchen, die Schlittenbahn soll herrlich sein.“

„Ach was,“ brummte Robert, der Lieutenant, dem es nicht paßte, brüderliche Rücksichten zu nehmen, „damit sie die Nase erfriert! Ich sage dir, Aenne, bleib’ daheim und geh’ brautschauen!“

Tante und Mutter sahen verstohlen zu Aenne hinüber. Der Bruder war nicht unterrichtet von dem Breitenfelser Stadtklatsch, sonst hätte er diese Aufforderung unterlassen. Aber Aenne erwiderte sehr ruhig: „Natürlich gehe ich in die Kirche – du doch auch, Mama, und Tante ebenfalls?“

Frau May wäre trotz allem und allem eher „gestorben“ als bei dieser Gelegenheit ferngeblieben; und wäre der Kerkow erwiesenermaßen ihr ärgster Feind gewesen, bei seiner Trauung hätte sie zugegen sein müssen. „Ich gehe schon deshalb hin, um all den Leuten die Mäuler zu stopfen, und daß du mit willst, ist vernünftig,“ sagte sie zu ihrer Tochter.

„Aber warum sollte ich denn nicht?“ fragte Aenne, das, was ihre Mutter meinte, absichtlich nicht verstehend. „Ich habe doch kein Verbrechen begangen?“ – Im sicheren Gefühl, daß nur Günther ihr Geheimnis kannte, dem sie es selbst anvertraut und bei dem es so geschützt und geborgen war wie in ihrer eigenen Brust, bewahrte sie ihre Selbstbeherrschung vollständig; ihre innerliche Verzagtheit, ihr altes bitteres Weh wurde von dem trotzigen Mädchenherzen im Zaum gehalten. Wenn Heinz Kerkow überhaupt noch den leisen Gedanken gehabt hätte, daß sie um seinetwillen litt, heute sollte, mußte dieser schwinden; dann würde ihr die trotzige verzweifelte Kraft nicht fehlen, die Eltern zu überreden, dem zuzustimmen, was sie vorhatte! [150] Der Medizinalrat verfügte über Eintrittskarten für die Hofkirche, wie sämtliche Beamte des Hofes und die Honoratioren der kleinen Residenz. Für die Damen bedeutete das: elegante Visitentoilette, soweit die Begriffe von Eleganz in Breitenfels reichten; für die Herren: Frack und Cylinder. Zu sehen gab’s entschieden etwas, seit ewigen Zeiten war da droben in dem stillen Witwenleben nicht eine offizielle Festlichkeit gewesen.

Um halb zwei Uhr sollte die Trauung stattfinden, der ein kleines Festmahl im engsten Zirkel folgte; auf vier Uhr bereits war die Abreise des jungen Paares bestimmt.

Die Rätin klagte während der Toilette – das unvermeidliche Schwarzseidene war wieder aus dem Schrank geholt – über Reißen, es sei ungesundes Wetter, und die Jungen, die mittlerweile abgefahren waren, würden im Schneewasser wieder heimkommen. Es war in der That ein trüber, warmer Tag, die Schneedecke zeigte siebartig zahllose kleine Löcher, die der leichte mit Schnee untermischte Regen verursacht hatte, und in der Dachrinne gluckste und tropfte es. Um Mittag war es fast finster.

Aenne befand sich in ihrem Stübchen. Sie hatte ein gelblich-weißes Kaschmirkleid angelegt, kindlich einfach in der Form, faltige Bluse und faltige weite Aermel, und einen schmalen blauen Gürtel um die Taille. Sie wartete auf den Boten, der ihr die Nachricht von der plötzlichen Heiserkeit des Fräulein Hochleitner bringen sollte, und sie ward so blaß wie ihr Kleid, als sie endlich unten die Klingel hörte.

Dann Rufen nach ihr, eilige Schritte, das Rauschen eines Seidenkleides. „Das ist eine nette Geschichte“ – mit diesen Worten riß Frau Rat die Thür auf – „die Hochleitner ist krank geworden, die Friedrich nirgend zu finden! Ob du nicht den Psalm singen willst? lassen sie fragen – – als ob das so ginge! Wirst du’s können? Wenn du dich getraust, sollst du sofort in die Kirche kommen, läßt der Organist sagen, um noch einmal mit der Orgel zu proben.

„Wenn ich den Leuten aus der Verlegenheit helfen kann, sehr gern,“ sagte Aenne, nahm gelassen ihren weißen, mit Schwan besetzten Umhang vom Bett und folgte der Mutter.

„Ein Wagen steht drunten!“ rief die aufgeregte Frau. „Gott im Himmel – wenn du nun die Sache umwirfst – sag’s doch lieber ab, bedenke doch die Herrschaften, die zugegen sind!“ „Ich habe schon öfter vor ihnen gesungen,“ wandte Aenne ein.“ „Ja, nun ja! Aber wenn du plötzlich nicht weiter kannst, dann giebt’ s wieder eine Klatscherei, sie sagen womöglich, du habest aus Verzweiflung um den Heinz – –“

Aenne wandte sich nach ihrer Mutter um. „Ich werde nicht stecken bleiben,“ sagte sie kurz und hart, obgleich in ihrem Herzen die Zweifel stärker waren als je.

Im nächsten Augenblick saß sie in den Polstern des Hofwagens und rollte der Schloßkirche zu, die, dem Mittelbau des Schlosses angefügt, nach der Gartenseite zu lag. Ein wahres Kleinod der Spätgotik, gut erhalten und verständnisvoll restauriert, bildete sie so ziemlich die einzige Sehenswürdigkeit des Städtchens in künstlerischer Beziehung und wurde viel besucht von Architekten und Malern. Mit schlank aufstrebenden Säulen und herrlichen Spitzbogengewölben erschien sie wie ein Freiburger Münster im kleinen. Nur das Innere des Gotteshauses machte einen so günstigen Eindruck, denn das Portal war in späterer Zeit miteingebaut in das Schloß. Man passierte, um in die Kirche zu gelangen, die große Halle im Erdgeschoß des Mittelbaues; direkt von dem darüber befindlichen Festsaal konnte die herzogliche Familie sich in die für sie bestimmte Empore der Kirche, den sogenannten Fürstenstuhl, begeben.

Als Aenne durch die hohe Spitzbogenthür in den tief dämmerigen Raum trat – das matte Tageslicht vermochte kaum durch die gemalten Scheiben zu dringen – war das schöne Gotteshaus noch leer, nur um den reich mit Orangerie geschmückten Altar beschäftigten sich noch mehrere Diener, und mit geräuschloser Eile wurden Kerzen auf die riesigen Messingkronleuchter und die Kandelaber gesteckt. Der hohe Raum war ganz erfüllt von Blütenduft, dieser entstieg den mächtigen Orangenbäumen, deren Kübel mit den Landesfarben bemalt waren. Die gewundene Treppe herab von der Orgelempore kam dem jungen Mädchen mit allen Zeichen des Bangens der weißhaarige alte Organist entgegen. „Gott sei Lob, daß Sie da sind, Fräulein May! Stockheiser, die Hochleitner, und die Friedrich nicht zu finden, weder in ihrer Wohnung noch im Theater – der Himmel mag wissen, wo sie steckt! Haben Sie Furcht, Aenne?“

Er kannte das Mädchen wie sein eigen Kind. Ihre Stimme war schon manchmal von dort droben erklungen, als kleines Mädchen hatte Aenne schon beim Weihnachtsgottesdienst ihr helles Stimmchen in der Engelverkündigung erschallen lassen „Ehre sei Gott in der Höhe!“

„Wollen wir schnell einmal proben?“

„Wenn Sie es für nötig halten,“ antwortete sie, „mir ist der Psalm vertraut.“

„Wirklich? Mir fällt ein Stein vom Herzen! Sie kennen ganz genau die Stelle, wo Sie einzusetzen haben?“

„Ganz genau!“ Und sie lächelte ihn an, daß der alte verzweifelnde Mensch ordentlich wieder Farbe bekam. „Aengstigen Sie sich nur nicht,“ sprach sie tapfer, „ich mache Ihnen keine Schande.“

„Guten Tag, meine Damen! Die Hochleitner ist krank, Fräulein May hat die Freundlichkeit, uns auszuhelfen mit der Solopartie,“ wandte er sich an die versammelten weiblichen Mitglieder des städtischen Gesangvereins, dessen Direktor er war. Sie harrten auf der Empore vor der Orgel und keine einzige befand sich unter ihnen, die nicht das allerverblüffteste Gesicht machte, ob dieser Mitteilung.

Und Aenne, über deren jüngste Erlebnisse jede einzelne hergefallen war und sie nach Möglichkeit beschwatzt, bekrittelt und herabgewürdigt hatte, stand ruhig lächelnd da in ihrem weißen Kleidchen, wie eine sieggewohnte Primadonna. Wie viel Kraft sie dazu nötig hatte, das brauchte ja niemand zu wissen!

„Könntest du singen?“ fragte Fräulein Krause ihre Freundin Ida Sillig, „könntest du singen, wenn deine Liebe mit einer Andern getraut würde?“

Und die Andere meinte: „Wer weiß denn, ob’s wahr ist? Ich könnt’ nicht singen, ich würde entweder ohnmächtig, oder – ich“ Was sie thun würde, verschwieg sie, aber ihre Finger hatten sich gebogen, und ihre Augen funkelten vor Zorn bei dem bloßen Gedanken, daß ihr heimlich Angebeteter, der Provisor in des Vaters Apotheke, sich unterstehen könnte, ihr untreu zu werden.

Die Kerzen brannten jetzt, das Publikum wurde eingelassen. Seitwärts, unter dem Herzogsstuhl, war die Flügelthüre zu der Halle des Schlosses geöffnet, von welcher ein paar Stufen in die Kirche hinunterführten, die Lakaien posierten sich davor, der Weg bis zum Altar war mit roten dicken Teppichen belegt.

„Wird die Herzogin zugegen sein?“ wisperten die Damen.

Aenne gab Auskunft. Durchlaucht sei nicht wohl genug, der Medizinalrat schon in aller Frühe hinaufgeholt worden, die hohe Frau klage über Asthma.

Nun erdröhnten die Kirchenglocken über ihnen mächtig und laut, Heinz Kerkows Fest begann. In dem Gotteshaus war kein Platz leer geblieben. Aenne sah auch ihre Mutter und neben ihr Tante Emilie, die Aennes Einlaßkarte benutzt hatte, in einem altmodischen Crêpe-de-Chine-Tuch und ihrer besten Blondenhaube; der Vater, mit ein paar Orden geschmückt, saß hinter ihnen.

Plötzlich wurden alle Hälse lang, man mühte sich, seitwärts in den Eingang zum Schlosse zu blicken. Einige Lakaien traten nach vorn und stellten sich, Spalier bildend, zu den andern, dann kam die Hofdame Frau von Gruber in bordeauxroter mit Pelz verbrämter Sammetrobe, geführt von einem alten Herrn in Generalsuniform, einem Onkel der Braut, dann noch einige ältere Paare und ein blasses Mädchen im schlichten weißen Kleid am Arm eines älteren Kavaliers.

Aenne starrte teilnahmlos die Menschen an, wie sie langsam über den mit grünen Zweigen bestreuten Teppich dem Altar sich näherten. Und auf einmal zuckte sie zusammen und griff mit der Hand zum Herzen. Hinter ihr in jubelnden Tönen war die Orgel erbraust – das Brautpaar schritt die Stufen hinunter. Sie fühlte, wie ihr die Stirn feucht wurde, schwindelnd hielt sie sich an der Galerie des Chors, in dessen Mitte sie stand, und mit weit geöffneten Augen starrte sie hinab auf den Mann, an dessen Arm die in Spitzen, Atlas und Tüll gekleidete bräutliche Gestalt ging. Hatte sie sich zuviel zugetraut? Wie hilfesuchend irrten ihre Augen umher – sie trat zurück – „Fort! Fort!“ flüsterte sie.

Da trafen ihre Blicke die Augen einer alten Frau unten in dem Seitenschiff, die mit unsäglicher Bekümmernis zu ihr emporsah. [151] Sie hatte plötzlich die Kraft, sich aufzurichten, wieder vorzutreten. Mit fest zusammengepreßten Lippen sah sie die weiße Schleppe über den tiefroten Teppich gleiten, sah den Zug der Brautjungfern und Brautführer hinterher schreiten, und nun standen, den Rücken ihr zugewendet, die beiden am Altar vor dem Prediger.

„Ach, bleib’ mit deiner Gnade“ – brauste es hinter ihr, und Aennes Hände falteten sich auf der Brüstung, ihr Kopf hob sich, ihr Herzpochen ließ nach, aber ein paar große Tropfen rannen wie erlösend über ihre Wangen. Unter den Worten des Geistlichen wich das bittere, wehe Gefühl mehr und mehr, nur der Schmerz blieb, ein großer, stiller Schmerz um ihr verlornes Glück.

Endlich wurden die Ringe gewechselt, und das war der Augenblick, wo Aenne zu singen hatte. Leise begann die Orgel mit dem Chorgesang, und just in dem Augenblick, wo Heinz den funkelnden Ring an seinem Finger fühlte, da schwebte eine süße, innige Mädchenstimme durch den hohen Raum, eine Stimme, die ihm das Herz erzittern machte in Wonne und Weh.

„Halleluja! Seine Gnade ist groß!“

Aenne, Aenne sang ihm das Abschiedslied, das Lied der Verzeihung! Die Augen wurden ihm feucht, er biß die Zähne aufeinander, ach, er kannte so jede Modulation der geliebten, herrlichen Stimme, er hörte ihre emporquellenden Thränen heraus, ihr armes, blutendes Herz. – Wenn er nie gewußt hätte, daß sie ihn liebte, jetzt sang sie ihm die Wahrheit in seine Seele. –

Ach, sie hätte es nicht thun dürfen! Was wollte sie, indem sie zu dieser Stunde sich so singend, so groß in sein Denken drängte? Sich rächen für seine Untreue?

„Er segne eure Pfade und führe euch sanft immerdar!“

tönte es in sein Ohr. Ueberirdisch, wie Himmelsgesang klang die Stimme aus der Höhe.

Die Rätin beugte sich plötzlich tief herab auf ihr Gesangbuch und weinte, Tante Emilie sah starr zu dem Mädchen empor; engelhaft hob sich ihre weiße Gestalt dort ab aus dem Halbdunkel.

Nun trat Aenne zurück, der Chor fiel ein, und sie sank auf die kleine Bank neben der Orgel. Niemand achtete auf sie. Als der Segen gesprochen, der letzte Vers des Chorals gesungen war, schlich sie stumm hinunter. Der Wagen, der sie gebracht, fuhr auf den Wink des Portiers vor und in fluchtartiger Eile schlüpfte sie hinein. Zu Hause angelangt, floh sie in ihre Stube und riegelte hinter sich zu – nur niemand sehen, niemand hören!

Eine gute halbe Stunde später kehrten die Ihrigen zurück. Man pochte an ihre Thür, sie solle zu Tische kommen. Nach ein paar Minuten trat sie in die Eßstube, wo Vater, Mutter und Tante bereits saßen. Sie hatte sich umgezogen.

Der Vater, der sonst sehr karg war mit Lob, streckte ihr die Hand entgegen. „Du hast schön gesungen, Aenne,“ lobte er.

Die Mutter, welche die Suppenkelle bereits schwang, nickte ihr zu. „Besser hätt’s die Hochleitner auch nicht gemacht. Der Organist will noch kommen, um sich zu bedanken.“

Aenne sah sie freundlich an. „Das ist mir lieb, daß es euch gefallen hat, denn im Anschluß daran will ich euch um etwas bitten. Nachher,“ rief sie, „eßt doch nur erst, so eilig ist’s nicht!“

„Gelt,“ sagte Frau Rätin, „wieder neue Rosen? – Da wirst du schon ein paar Mark herausrücken müssen, May.“

„Ein paar Mark?“ wiederholte Aenne, und etwas wie Erschrecken überkam sie; sie war doch im Begriff, furchtbar viel zu fordern.

„Warum ißt du denn nicht?“ fragte die Mutter.

„Sei nicht böse, Mama, ich kann nicht!“ bat sie.

„Du siehst ganz aufgeregt aus – gibt’s denn so was Wichtiges?“

„Ja!“ gab sie tonlos zurück.

Die einfache Mahlzeit war bald beendet. „Na, dann schütte dein Herz aus,“ sagte der Medizinalrat freundlich. „Kann ich mit dir zuerst allein sprechen, Papa?“ „Das klingt ja schrecklich geheimnisvoll! Na, da komm’ mit!“ Aenne folgte ihm, holte ihm Cigarrenetui und Spitze und strich das Zündhölzchen an. Als er die ersten Züge that. trat sie vor ihn. Ihre zitternden Finger hatten sich ineinander gewunden, ihre vor Erregung weit geöffneten Augen hefteten sich in die seinen. „Lieber Papa, ich wollte dich bitten – erlaube mir, daß ich mich zur Sängerin ausbilde.

Er sah sie unangenehm überrascht an. „Mein Gott, du singst ja schon ganz nett,“ murmelte er.

„Aber nicht so, wie es nötig wäre, um es berufsmäßig – –?“ „Na, höre – berufsmäßig! Was ist denn das für ein Beruf? – Du hast doch nicht etwa die Idee, zur Bühne gehen zu wollen?“ „Nicht eigentlich, Papa, ich möchte Konzert- und Kirchensängerin werden, und auch Lehrerin, antwortete sie. „Wie kommst du denn darauf?“ „Ich möchte eine Lebensaufgabe, einen Beruf haben, Papa.“ „Gefällt’s dir denn so gar nicht mehr bei uns?“ „Doch, Papa – ach doch! Aber ich bin so überflüssig, ich möchte hinaus, nützen möcht’ ich, leben –“

„Du hast einen so schönen Lebenszweck von dir gestoßen. Sie preßte die Hände gegen die zuckenden Lippen. „Ich konnte nicht,“ flüsterte sie, „gewiß nicht, Papa!“ „Und wie denkst du dir denn das eigentlich? „Ich müßte nach Berlin oder Dresden gehen und studieren „Und woher soll ich das Geld nehmen für dieses teuere Studium?“

In diesem Augenblick trat Frau Rat ein, ihre Blicke flogen von Aenne zu ihrem Manne, sie sah, es ging um etwas Ernstes. „Na, was wird denn hier verhandelt?“ fragte sie, neben ihren Gatten tretend.

Herr Rat räusperte sich. „Aenne will Musik studieren, in Dresden,“ sagte er ruhig.

Frau Rat lachte kurz auf, dann ward sie still unter dem Blick ihres Kindes.

„Ich bin nicht in der Lage, dir das Studium zu ermöglichen,“ fuhr der Medizinalrat fort.

„Aber – Walther studiert doch auch, und Robert –“ wandte Aenne ein.

„Schwatz’ doch nicht solches Blech,“ fuhr die Mutter sie an, „Walther ist ein Junge, und –“

„Und wenn ich nun ebenfalls ein Junge wäre,“ unterbrach das Mädchen, „müßte ich dann auch hier sitzen, thatenlos, ohne Zweck und Ziel? Wäre dann auch nichts für mich da?“

„Du bist aber eben kein Junge, damit beruhige dich!“ rief die Rätin streng. „Sei doch froh, daß du deine Eltern noch hast und nicht hinaus brauchst in die Fremde!“

„Ich soll nichts thun, nichts lernen?“

„Nichts thun? Genug ist zu thun, Kochen, Flicken, Staub wischen, deine Mutter pflegen –“

„Aber Mama, dazu seid ihr schon drei mit dem Mädchen! Es ist ja ein furchtbares Faulenzerleben, zu dem ihr mich verdammt!“

„Die meisten Mädchen leben bis zu ihrer Hochzeit so, du bist auf der Welt zum Nutzen, zur Freude deiner Eltern, und um später die Frau eines braven Mannes zu werden – basta! Nun red’ nicht mehr davon!

„Nützen thu’ ich nichts, und freuen könnt ihr euch doch nur, wenn ich glücklich und froh bin,“ wendete Aenne ein, „und das kann ich nur sein, wenn ich frische, mir zusagende Arbeit habe, und Mama – verheiraten werde ich mich nie!“

Frau Rat öffnete bereits den Mund zu einer neuen gereizten Antwort, der Zorn flackerte ihr rot über das Gesicht, der Rat aber wehrte ihr, indem er ihr leise die Hand auf die Schulter legte. „Kind,“ sagte er, „wir wollen das Gespräch nicht fortsetzen, es wär’ verlorne Müh’ – ich habe die Mittel nicht.“

„Dann muß ich sehen, wie ich allein durchkomme,“ erklärte sie finster, sich zum Gehen wendend.

„Aenne!“ rief die Rätin, außer sich über den Trotz des Mädchens, und hielt sie am Aermel fest, „bist du denn ganz von Gott verlassen? Wer hat dir nur so verrückte Ideen in den Kopf gesetzt?“

Sie machte sich ruhig los, nur einen großen schmerzlichen Blick gönnte sie der erregten Frau. „Laß doch, Mama, ihr könnt oder wollt mich nicht verstehen, ich weiß wirklich nicht, was ich noch hier zu thun hätte.

„Woher soll denn dein Vater das Geld nehmen?“ schrie, ganz außer sich, die Mutter, „hast du denn gar keine Einsicht?“

„Doch! Ich verstehe es – da ich nur ein Mädchen bin, habe ich kein Rechte, etwas zu fordern; hieße ich Kunz oder Hans, so wäre es da,“ antwortete sie. „Ich will mich bemühen, mit dieser hergebrachten Ungerechtigkeit fertig zu werden.“

Sie ging hinaus, setzte sich in der sogenannten „guten Stube“ ans Fenster und lächelte bitter vor sich hin. Die Flittergoldfahne des Tannenbaumes inmitten der Tafel rauschte leise, [152] süßer harziger Weihnachtsduft umwehte sie. Sonst war dies alles so reizend, so traut gewesen, hatte sie sich denn nur allein verwandelt? Sie strich sich über die Stirn. Nein, sie konnte so nicht weiter leben, denn sie war nicht mehr das harmlose Kind früherer Tage. Hier in Breitenfels bleiben, bedeutete für sie das Absterben aller Lebenskraft; das Dasein drückte mit Bleigewichten auf sie. Die erregte Stimme der Mutter drang ein paarmal bis hier herüber – hatte sie ihren Eltern wirklich so wehgethan mit dem Wunsch, ihr Talent auszunutzen?

Sie hatte gewußt, daß sie gegen die herkömmlichen Ansichten verstieß, denen zufolge die Tochter still im Hause sitzen muß, wartend, bis irgend ein Mann kommt, der sie begehrt. „Es ist doch geradezu entwürdigend,“ flüsterte sie. Und ihretwegen mochten zwanzig kommen, sie würde doch keinen lieben können, denn den einen würde, sie nie vergessen – nie!

Sie wollte an die Herzogin schreiben, sie um eine Unterstützung bitten; wie viele studieren von solchen Stipendien! Ob sie es aber geben würde, die alte Dame? Morgen gehe ich zur Frau von Gruber,“ entschied sie, „und melde mich zur Audienz.“

Drüben schlug heftig eine Thür; Frau Rat kam durch den Flur und trat ins Zimmer, heiß geweint, dunkelrot. Als sie die Tochter so still dasitzen sah, wendete sie sich kurz ab und ging wieder hinaus. Ihre Tritte verloren sich in der Küche. „Undankbares Geschöpf!“ hatte sie beim Weggehen vor sich hin gemurmelt.

Aenne blieb allein mit ihrem bittern Lächeln. Nach einer Stunde etwa erschien Tante Emilie, ihr altes gutes Gesicht leuchtete wehmütig durch die sinkende Dämmerung.

Das Mädchen erhob sich. „Hier, Tante!“

„Komme doch doch ’mal herüber zu deinem Papa!“

Sie ging mit der alten Dame hinüber.

„Wir haben noch weiter überlegt,“ begann der Medizinalrat, „und ich will dir gern zugestehen, daß dir nach den jüngsten Ereignissen eine Veränderung wünschenswert sein muß. Anderseits glaube ich, daß du, wie hundert andere Menschen, das Gute erst schätzen lernen wirst, wenn du es verloren hast. Du weißt jetzt offenbar nicht, wie gut es dir geht, wie geschützt, wie gehegt und geliebt du bist –“ Er hielt inne, er war so bewegt, daß er nicht weiter reden konnte.

„Papa,“ flüsterte sie an seiner Schulter, „ich weiß ja alles, ich bin euch so dankbar – –. Wenn ihr alt und kränklich wäret, ich wiche keinen Schritt von euch, aber ihr seid verhältnismäßig jung und rüstig – soll ich denn meine Kräfte so ungenutzt lassen? Und wenn ich sie nie geübt und nie gelernt habe, auf eigenen Füßen zu stehen, wie soll es dereinst werden, wenn ihr von mir geht? Du kannst mir nichts hinterlassen, sagst du – soll ich als schwere Last die Schultern meiner Brüder drücken? Und abgesehen von allem, gönnt mir doch auch das beglückende Gefühl, mein Talent zu verwerten, mein Leben auf meine Weise zu gestalten!“

„Das klingt alles sehr schön in der Theorie, die Praxis ist anders, Kind! Du kennst das Leben nicht, du versprichst dir goldene Berge und wirst nichts als Mühe und Hindernisse finden.“

Sie reckte ihre schlanke junge Gestalt. „Ich habe Kräfte, Papa.“

„Du wirst mit gebrochenen Flügeln heimkehren, aber – wie du willst!“

„Ja?“ schrie, sie.

Er wehrte ihrer Umarmung. „Ich will nicht die Vorwürfe dereinst hören, du habest dein Leben verfehlt, also, ich gebe dir ungern, sehr ungern meine Einwilligung, eine Probe da draußen mit deinem Talent zu machen. Und weiter kann ich dir nichts geben als das Versprechen, daß wenn du müde und enttäuscht heimkehrst, du hier immer die alte Liebe und Treue finden sollst!“

Aenne stand ganz verständnislos, die Arme waren ihr heruntergesunken. „Ich danke dir,“ murmelte sie, „es ist schon sehr viel, deine Erlaubnis, Papa, zu dieser Probe, die Versicherung, daß sich jederzeit wiederkommen darf – aber davon –“

Da trippelte Tante Emilie zu ihr heran. „Ich hab’ dem Vater gesagt,“ begann sie verschämt, „ob ich in Dresden oder hier meine paar Groschen verzehre, ’s ist ja gleich und – allein kannst du doch nicht –. Für die Stunden – na, mein Gott, wie lang’ werd’ ich denn noch leben? – Die kleine Hypothek in Königsberg, die kündige ich, das wird ja wohl langen.“

Das Mädchen lag plötzlich schluchzend der alten Frau an der Brust. „Ach du – du!“ rief sie.

„Geh’ zur Mutter, sag’ ihr ein gutes Wort! Meinst du denn nicht, daß es ihr ans Herz greift, wenn ein Kind sich losreißen will von ihr?“

Und Aenne taumelte hinaus und fand die Mutter auf ihrem Bett sitzend in sich zusammengesunken, mit zornigen Augen.

„Hast’s durchgesetzt?“ fragte sie.

„Mama,“ rief Aenne niederknieend, „sage doch nur ein gutes Wort – du weißt ja nicht, ach, du weißt ja gar nicht –“

„Was ist denn da zu sagen? Anstatt daß ich dich, als glückliche Frau sehe, willst du umherziehen und die Leute amüsieren! Und anstatt der Enkel – na, bringst du, wenn’s Glück gut ist, mir einen verwelkten Lorbeerkranz mit ins Haus!“

„Aber – die Brüder, wenn die heiraten, dann –“

„Ach, das sind keine Tochterkinder – Tochterkinder sind die richtigen Enkel! Und wenn man alt und wacklig wird und vielleicht Witwe, dann ist’s mir nicht vergönnt, eine Zuflucht in deinem Hause zu finden, kann deine Kinder nicht auf den Schoß nehmen, sondern werde von Fremden herumgestoßen, und es ist noch eine große Gnade Gottes, wenn du Zeit findest, bei meinem Begräbnis zu sein!“

„Aber Mama,“ sagte Aenne, „jeden Augenblick, wenn du mich brauchst, bin ich da.“

„Ich seh’ ’s schon! Wenn eine selbst nicht weiß, wie’s einer Mutter ums Herz ist, dann fehlt die rechte Liebe! Und das ist meine einzige Tochter!“

Aenne stand auf. Sie kannte die wenig logischen Anschauungen der grundguten aber heftigen Frau. Sie streichelte ihr leise über das Haar, wie sie früher gethan, und legte ihre Stirn gegen die der Mutter. „Komm’,“ bat sie, „sei lieb zu mir, es thut dir sonst schrecklich leid, wenn ich fort bin.“

Da brach die Frau in Thränen aus und hielt ihr Kind auf dem Schoße. „Wenn die Emilie nicht mitginge, es wäre mein Tod!“ schluchzte sie. „Und nun laß mich allein und sage dem Vater, er soll zu mir kommen – ich mag jetzt mit keinem andern Menschen reden!“


Aenne umarmte noch einmal Tante Emilie, dann schlich sie leise aus dem Hause; es zog sie zu Fräulein Hochleitner. Als sie – des hohen Schnees wegen mußte sie durch die Stadt gehen – die Hauptstraße hinunterschritt, die todeseinsam und verschlafen wie immer lag, kam ein Schlitten mit hellem Schellengeläute hinter ihr drein. Es war schon Zwielicht, aber Aennes erschreckte junge Augen sahen deutlich, ach, so deutlich! – Sie wich zur Seite, da jagten die herrlichen Rappen an ihr vorüber, vom Kutsche in russischer Pelztracht gelenkt, das zierliche Gefährt ungestüm mit sich reißend.

Aenne stand regungslos. – Neben der dichtverschleierten Frauengestalt im grauen Mantel mit riesigem weißen Pelzkragen saß Heinz Kerkow. Das junge Paar flog vereint in die Welt hinaus. Ihr war es, als habe der Mann sich vorgebeugt, um sich zu überzeugen, ob sie wirklich, dastehe. Aber er grüßte nicht.

Nun fuhren sie nach der Bahnstation, und Aenne ging weiter, den Kopf, gesenkt, als trüge sie plötzlich eine schwere Last auf den Schultern. Was sie noch eben aufrecht und stolz dahingehen ließ, der Sieg, den sie über die Vorurteile der Eltern errungen, die beglückende Zuversicht, nur sich selbst dereinst eine Stellung im Leben zu verdanken, fiel von ihr ab angesichts des geliebten Mannes, der im engen Schlitten mit ihr seinem Glücke entgegenfuhr – unendlich selig, wie Aenne meinte. Ein starker, brennender Schmerz, eine heftige Eifersucht überfiel sie; heute nachmittag hatte sie dies nicht gefühlt, als sie die beiden vor dem Altar gesehen, jetzt aber, wo das Gefährt mit ihnen in den herabsinkenden Dunst und Nebel des Winterabends hineinfuhr, schüttelte es sie förmlich.

Das war ja doch das einzige, das wahre Glück, was dort vor ihren Augen entschwand, alles andere lohnte nicht, war nicht des Lebens wert. Wozu denn lernen – wozu überhaupt, weiter leben? Sie verspürte plötzlich Lust, in den verschneiten Wald hineinzulaufen, sich dort unter irgend einem Baum niederzuhocken, um im Frost und Schnee einzuschlafen und nie wieder zu erwachen.

Schwerfällig wandte sie sich um und schlug die Richtung nach dem Schloßpark ein, sie mochte selbst Fräulein Hochleitner [154] nicht sehen. Aber sie kam nur bis zum Eingang des Parkes, da rief eine helle wohlbekannte Stimme ihr nach:

„Is dös ä recht; mi so wart’n z’ lass’n? I lauf hier herum wie a Eichkatzerl im Käfig und schau nach Ihn’n aus, derweil hab’n’s net a mal d’ Absicht g’habt, mit mir z’ red’n? Na, aber sag’n S’ g’schwind, was meinen die Herrn Eltern zu Ihr’m Plan?“

Fräulein Hochleitner in Kapuze und Pelzmantel stand neben ihr, und unter dem Schleier lachten die braunen Augen erwartungsvoll.

„Brav hab’n S’ g’sungen heut’ mittag,“ fuhr sie fort, als Aenne ihr stumm die Hand gab, „beinah’ hätt i a bisserl g’want. – I hab’ alles g’hört. Aber kommen S’, Kind, gehn wir a Stückerl weiter, damit die arme heisere Schannet von niemand g’seh’n wird. Herr Gott, war dös heut’ früh a Hetz,’ als i sag’n ließ, i sei heiser wie a alt’s verschnupft’s Werkl! Und die kleine Friedrich hat gelacht, rein auseinander sin wir g’wes’n vor Vergnüg’n. Die Friedrich ham ’s gesucht wie a Naderl und derweil hat’s in meiner Schlafstub’ g’sess’n und an Eierpunsch trunk’n, und i hab’ endli mit Müh’ und Not krächzt: ,Die Fräul’n May singt doch a ganz rechtschaffen, frag’n S’ halt bei der an.’ Na, und wie mir glaubt ham, alles is in der Kirch’, da san mir zwa a hin gang’n, ganz in a Eckerl druckt, ham ma zug’hört. Brav war’s, schön war’s, Fräul’n Aenne, gratulier’ Ihn’n herzli.“

Aenne dankte kleinlaut.

„Na, und ’s Vatterl und Mutterl, und die Frau Tant’?“

„Sie haben mir erlaubt, einen Versuch zu machen; nach Neujahr gehe ich nach Dresden. Fräulein Hochleitner – ich wollte auch eben zu Ihnen, um zu danken, aber ich war so traurig!“

„Man hat Ihn’n ’s Herzerl halt schwer g’macht, dös kenn i alles, anders thun’s die Alten net, und dös will überwund’n sein; sind aber ganz gesunde Schmerz’n, man kann halt net ewig am Rock vom Mutterl häng’n.“

Sie gingen in der breiten Allee längs des Schloßteiches dahin; öde und dunkel war’s ringsum, ein kalter Wind trieb ihnen entgegen und kräuselte die dünne Wasserschicht des Teiches, die das Tauwetter über dem Eise geschaffen.

„Dös is nichts für mein’ Heiserkeit,“ lachte Fräulein Hochleitner, „dreh’n ma um und suchen a geschützte Stell’, wo wir Abschied nehm’n können. Morgen mittag geht’s heim.“

Als sie sich wandten, lag hoch über ihnen das Schloß mit seinen erleuchteten Fensterreihen, die hochzeitsfestlich in die Dunkelheit strahlten. „Warum san S’ so trauri?“ fragte Jeanette Hochleitner endlich. „Sie überleg’n wohl, ob S’ Heimweh bekomm’n wer’n drauß’n in Sachsen – nach Breitenfels? ’´ Oder lass’n S’ gar was Lieb’s z’rück! hier – i mein’ – – Sie versteh’n schon – etwas hoffnungslos Lieb’s?“

Aenne wandte den Köpf. „Aber ich bitte Sie,“ sagte sie verletzt.

„I hab’ g’meint, i hätt’ so was aus Ihrer Stimm’ g’hört,“ fuhr die Sängerin fort. „Aber seh’n S’, Fräul’n Annerl, für so Herzensg’schicht’n, da is die Kunst das beste Heilmittel, unsere große herrliche Kunst! Ach, sich so recht alle Qual und alles Leid, von der Seel’ sing’n, dös is gut, dös is groß, macht leicht! Und glauben S’ mir, die nur kann so recht sing’n, so daß die Herzen der Menschen erzittern und die Aug’n übergeh’n, die so a hamliche tiefe Herzenswund’n hat. Mein Lehrer in Wien, der hat oftmals zu mir g’sagt, wie i frisch von Innsbruck hinkommen bin mit mei’m dummen unschuldigen Kinderg’müt. ,Schani,’ hat er g’sagt, ,i wollt’, Sie verliebten sich mal so recht unglückli, daß S’ glei meinen, am best’n wär’s in der Donau drunt’n, dann sollt’n S’ mal sehn, was S’ mach’n könnt’n mit Ihrer Mordsstimm’; jetzt sing’n S’ halt allweil z’ kalt, ’s g’friert a’m orndli – – Na, dös ist denn a net ausblieb’n, und g’rad’ da is er dann z’fried’n g’wes’n, wie i g’meint hab’, i könnt’ halt vor Thränen kan Ton aus der Kehl’ würgen. Und wie i auftret’n bin, is so blieb’n. Wenn mir am weh’sten ums Herz is, da kann i am best’n sing’n, und da is ’s Publikum am bravsten, ach – und dös thut wohl, wenn’s klatsch’n und ruf’n, dös is a Hochgefühl! Werden’s a erleb’n!

Aber,“ fuhr sie fort, „Sie müss’n mi net falsch versteh’n, Fräul’n Annerl, seiner Trauer, sein’m Gram darf ma net z’viel nachgeb’n – die Kunst ist a eifersüchtig’s Weiberl, die will uns ganz, die verlangt d’n Menschen mit Haut und Haar, sonst rächt sie sich, ’s is a ernste Sach’ um d’ Kunst, auch auf’m Theater, und was dem liab’n Publikum drunt’n so leicht und natürli vorkommt, is oft recht schwer und muß durch viel Fleiß und Studier’n errung’n werd’n trotz allem Talent. Und nun nichts für ungut! Net wahr? I mein’s von Herzen gut und es war mir a Freud’, Sie kenneng’lernt z’ hab’n, und i hoff’, wir sehn uns no ’mal wieder im spätern Leb’n, i hoff’s sicher; und wenn von Ihn’n d’ erste glänzende Kritik in den Blättern steht, da giebt’s halt keine, die sich mehr freut als i. Und nun leb’n S’ wohl, lieb’s Annerl, Ham S’ Dank für jede Freundlichkeit, die S’ mir erwies’n hab’n.“

Sie zog das Mädchen an sich und küßte es herzlich. „Viel Glück – und wenn S’ amal Zeit ham, schreib’n S’ an mi von Dresden aus. B’hüt’ Ihn’n Gott!“

Aenne stand plötzlich am Ausgange des Schloßgartens allein in der Dunkelheit. Die Thränen rannen ihr über das Gesicht, sie fühlte sich zum Sterben unglücklich. Sie hatte nicht die Spur von Mut in diesem Augenblick, und wenn jetzt, die Mutter ihr an der Schwelle des Hauses entgegentreten würde und sagte: „Bleib’ doch bei mir, Kind, was willst du denn draußen? Die Welt ist öde und weit, und wir haben dich lieb,“ sie würde mit einem Aufschrei der Erlösung an ihre Brust sinken und rufen: „Ja! ja! ich bleibe, ich habe Angst vor dem unbekannten Leben!“

Langsam ging sie auf dem Wege hin, dann beschleunigte sie plötzlich ihre Schritte – hinter ihr erklang Gelächter, Säbelklirren, Sprechen, es schien ein ganzer Trupp Offiziere zu sein, die von dem Hochzeitsdiner kamen. Sie schritt rascher vorwärts, konnte es aber nicht verhindern, daß ein Teil des Gespräches in ihre Ohren drang.

„Was soll man nun um Gotteswillen anfangen den langen Abend in diesem Wurstneste?“ fragte einer.

„Wenn wenigstens Theater wäre,“ meinte ein anderer.

„Ja, Donnerwetter,“ näselte eine hohe Stimme, „laden wir doch die Damen ein, die Hochleitner und die kleine Friedrich.“

„Dann schlage ich vor, Selden, daß du dem Fräulein Hochleitner die Einladung überbringst.“

„Warum denn?“

„Weil du trotz deiner engen Lackstiefel die Treppe verdammt geschwind wieder herunterkommen würdest – die versteht keinen Spaß!“

„Na, denn nicht, dann einen Skat –“

„Und ein Glas Punsch –“

„Trinken wir auf das Wohl der schönen jungen Frau!“

„Boshafter Mensch!“

„Nee, dieser Kerkow!“ begann ein anderer, „’s ist rein unbegreiflich – der Kerl muß vor lauter Langerweile auf diese Kateridee gekommen sein. Uebrigens, wer war das hübsche Mädchen, die ihn ins Elend hineingesungen hat?“

„Das ist die Tochter vom Leibarzt. Hübsch, was?“

„Aber keinen Dreier,“ kam es gelassen von den Lippen eines andern, „sonst hätte der Kerkow heute nicht die Geschmacklosigkeit verbrochen! Ich weiß ja nicht, ob’s wahr ist, man sagt aber – –“

Das andere verhallte undeutlich, denn Aenne eilte, vom Weg abbiegend, wie gejagt durch den tiefen Schnee des Platzes zu ihrer väterlichen Wohnung hinüber. An der Treppe, die zur Hausthür emporführte, blieb sie tief atmend stehen, den Kopf stolz in den Nacken gebogen, und in den Augen funkelten zornig ein paar Thränen. Es war die höchste Zeit, daß sie hinausging aus Breitenfels, um sich selbst wiederzufinden in heißer, treuer Arbeit, in begeistertem Streben. Sie wollte beweisen, daß ein Mädchen, auch ohne einen Dreier zu besitzen, noch etwas gelten kann in der Welt. – In diesem Augenblick wollte sie eine Patti werden!

Sie trat in den Hausflur; Tante Emilie schien gewartet zu haben, sie machte ein Zeichen, daß Aenne leise reden solle, und flüsterte ihr zu: „Sprich nicht mehr heute abend mit der Mutter, sie hat sich zu Bette gelegt und trinkt Baldrianthee, und Vater ist eben zur Herzogin gerufen, es soll ihr nicht gut gehen.“

„Und die Brüder?“

„Sind noch nicht daheim, Kind; wollt’ auch, sie kämen noch nicht, denn, siehst du, da hat’s auch gestern was gegeben.“

Sie waren flüsternd in die Eßstube getreten, wo der Tisch [155] gedeckt stand mit ein paar einfachen kalten Schüsseln. Tante Emilie kam dem Mädchen ganz nahe. „Der Große“ – das war der Lieutenant – „hat Schulden!“ wisperte sie.

Aenne erschrak: und sie war auch noch gekommen mit ihren Forderungen!

„Ich habe sonst immer ausgeholfen,“ flüsterte die alte, treue Seele weiter, „aber diesmal ging’s doch nicht; ich wußte ja bestimmt, daß du von hier fort wolltest, und hatte mir gleich vorgenommen – da gehst du mit, da hilfst du ihr, wenn sie dich auch gar nicht mehr lieb hat und gar nichts mehr von dir wissen wollte in der letzten Zeit!“

Sie konnte nicht weiter sprechen, denn des Mädchens Mund preßte sich fest auf ihre Lippen – eine wortlose Bitte um Verzeihung.

[166] In dem Salon der Frau von Gruber gab es nach Beendigung der Hochzeitsfeier eine Scene. Die alte Dame war von Hedwigs Eröffnung, bei dem Oberförster da drunten, unter ihren, der Frau von Gruber, Augen und in allernächster Nähe des Bruders, als Hausfräulein einzutreten, aufs höchste erbittert.

„Auf keinen Fall gebe ich das zu,“ sagte sie, nachdem sie einige sanfte, ihrer Würde entsprechende Vorstellungen gemacht hatte, und trat mit dem Fuße auf, da sie wohl einsah, daß sie mit Güte nicht durchdrang.

„Aber, Tante, ich bin doch mein eigner Herr,“ antwortete Hedwig von Kerkow, nunmehr auch erbittert.

„Spiele du diesen eignen Herrn, wo du willst, hier aber nicht, ich verbitte es mir!“ rief die alte Dame, von ihrem Sessel aufspringend und mit ihrer moiré-antique-Schleppe durch das Zimmer rauschend – sie war noch in festlicher Toilette. „Hörst du, ich verbiete es dir!“

„Tante,“ war die bestimmte Antwort, „wenn Heinz damit einverstanden ist, so kannst du doch wahrhaftig – –“

„Heinz kann nicht Ja dazu gesagt haben, das glaube ich dir nicht!“

„Liebe Tante, dazu kann ich dich nicht zwingen – jedenfalls ist es so, ich lüge nie.“

„Was soll Ihre Durchlaucht denken, wenn sie erfährt, daß die Schwester höchstihres Hofmarschalls – Wirtschafterin bei dem Oberförster Günther geworden ist?“

„Ich halte Durchlaucht für eine sehr vorurteilsfreie Dame.“

„Für eine Frau mit enormem Feingefühl, wäre richtiger.“

„Aber, was geht sie denn meine Existenz an? Barmherzigkeit!“ rief das Mädchen verzweifelt.

„Du hättest bleiben sollen, wo du warst, bei deiner Porzellanmalerei.

„Aber ich fühle, daß das unmöglich ist – sie hätte mich tot gemacht, diese liebeleere, trostlose Einsamkeit und ich weiß, für Heinz ist es eine große Beruhigung, mich in der Nähe zu wissen.“

„Heinz ist ein – – –“ Frau von Gruber verschluckte das Wort – „wenn er so naiv ist, das in Ordnung zu finden! Und was wird Toni dazu sagen?“

„Was geht mich Toni an?“ rief Hedwig. „Ich will nichts von ihr und sie nichts von mir! Ich werde weder dir noch ihr jemals mit meiner Gegenwart lästig fallen, und wenn ich Heinz einmal sehen will, so hat er ja sein eignes Zimmer. Und wenn ich ihn auch wochenlang nicht sehen kann, ich habe doch wenigstens das Bewußtsein: einer, der dir nahe steht, weilt in deiner Nähe, und wenn du ’mal ganz verzweifelt bist, dann hat er doch vielleicht ein paar freundliche Worte für dich übrig – ich meine, das kann mir doch wahrhaftig nicht verargt werden!“

„Von Stolz und Standesbewußtsein besitzest du keine Spur!“ rief Frau von Gruber, sie unterbrechend.

„Ach Gott, in meiner Lage – das verlernt man, kam es leise von Hedwigs Lippen, und sie lachte kurz auf, während sich ihre Augen mit Thränen füllten.

„Das ist sehr schlimm! In allen Lagen soll man sich seiner Abkunft bewußt bleiben.“

„Das gedenke ich zu thun, Tante. Uebrigens, Ottilie war ja auch in einer Stellung wie die, die ich bei Günther inne haben werde.“

„Da war eine Frau im Hause!“

„Ach so!“ Hedwig lächelte wieder, es war ein trübes Lächeln, und sie warf einen Blick zu dem Spiegel hinüber auf ihr bleiches, verweintes Gesicht, ihre überschlanke Gestalt. „Darf ich morgen früh dir noch Adieu sagen, Tante?“ fragte sie dann, als ob es nicht der Mühe wert sei, auf den Einwurf zu antworten:

„Wenn du darauf bestehst, diesen Plan auszuführen – lieber nicht,“ lautete die kurze Erwiderung.

Hede Kerkow war noch in dem einfachen weißen Kaschmirkleide, das sie zu der Festlichkeit getragen, die ihr zur Pein geworden war durch ihre Länge und die höfische Etikette. Sie kannte niemand und niemand hatte von ihr Notiz genommen außer den zwei Tischherren, dem Superintendenten und einem alten Onkel Ribbeneck. Letzterer war völlig taub, und der Superintendent unterhielt sich fast nur mit der Dame zu seiner Rechten. Als Heinz sich mit seiner jungen Frau zurückgezogen hatte, war es ihr gewesen, als sei die Sonne untergegangen. Dann hatte sie gehofft, noch ein trauliches Plauderstündchen bei Tante Gruber zu verleben, mit der sie über ihre Zukunft ausführlich sprechen wollte – da kam der Sturm, die völlige Ungnade.

„Wenn du so heulst, Tante, dann kann ich ja heute abend noch-“ – fügte sie hinzu.

„Genier’ dich nicht!“ klang es aus der Kaminecke, hart, verletzend.

Hede Kerkow drehte sich auf den Hacken um. „Adieu, Tante!“

Sie erhielt keine Antwort. In ihrem Zimmer warf sie voller Hast eine Menge Sachen durcheinander in den Reisekorb und verschloß ihn, dann lief sie durch den Schnee nach der Oberförsterei.

Günther war nicht daheim, er ahnte nichts von dem Ereignis, das sich während seiner Abwesenheit in seinem Hause vollzog. Er war in der Dämmerung mit Sr. Hoheit nach Harterode hinaufgefahren. Der Herzog wollte die schneehelle Mondnacht auf dem Anstand verbringen, um einen Fuchs zu schießen, ein Vergnügen, das er sich jedes Jahr einmal zu leisten pflegte, aber bevor noch der Mond kam, waren wieder dichte Schneewolken emporgezogen und hatten, dem Barometer zum Trotz, unseres Herrgotts Nachtlampe umschleiert. So hatte er den Plan aufgeben müssen und sehr schlecht gelaunt die Rückfahrt befohlen

Im Schlosse angelangt, trat der Adjutant seinem Herrn mit einer leise gesprochenen Meldung entgegen. Günther stand, seiner Entlassung gewärtig, etwas zur Seite, der Herzog verabschiedete ihn kurz und begab sich eilig, begleitet von dem Adjutanten, quer über den Schloßhof nach dem von der alten Herzogin bewohnten Flügel. Günther hörte noch, wie er fragte. „Ist May bei ihr? Am Ausgange des Schlosses begegnete er dem Rentmeister, der aus seiner Dienstwohnung neben der Oberförsterei herausgehastet war.

„Wissen Sie, wie es steht, Herr Oberförster?“ fragte der Mann ängstlich.

„Ich komme eben von Harterode zurück, weiß gar nichts – ist etwas passiert?“

„Die Herzogin soll der Schlag gerührt haben.“

„Ich weiß, wie gesagt, nichts – hoffentlich bewahrheitet sich die traurige Kunde nicht,“ sagte Günther und dann trennten sie sich mit einem Gruß. „Lieber Gott“ sprach er vor sich hin, „bei ihrem Alter – wär’s ein Wunder?“ Und er stieg langsam hinab zu seinem Heim.

Auf dem Schloßplatz lag frischer köstlicher Schnee wie eine eben erst gebreitete Decke, nur eine einzige Spur lief quer darüber, die Füße hatten den Pfad verschmäht, der an den Seiten mit Hilfe des Schneepflugs hergerichtet war – mitten durch den tiefen Schnee war man gelaufen, direkt zur Oberförsterei. Fast gedankenlos blieb er stehen vor der Treppe, die zu seiner Hausthür emporführte, und starrte die schmalen, zierlichen Stapfen eines Frauenfußes an, als betrachtete er droben im Walde die Spuren des Wildes in einer Neue. Sehr klein mußten sie sein, diese Füßchen zierlich gestellt, kaum aufgesetzt, so flüchtig und leicht – und diese Spuren führten in sein Haus?

Allein – was ging ihn das an? Wer da gegangen, ihm hatte der Besuch gewiß nicht gegolten! Er fühlte sich müde und einsam, er fror am Herzen und er fürchtete sich vor dem öden Heim, vor dem Lärm der tobenden, schlecht beaufsichtigten Kinder, die, seit Fräulein Stübken sein Haus verlassen hatte, wie die wilde Jagd dort hausten. Das alte, sonst so brave Mädchen verstand nicht, mit ihnen fertig zu werden, und er sollte strafen, beschwichtigen! Und der Tisch war so liederlich hergerichtet, die Speisen schlecht bereitet – er konnte so nicht essen, er flüchtete sich verzweifelnd in sein Zimmer und nahm die Arbeit vor, seine Berichte und Rechnungen – um zu vergessen! Aber das Kältegefühl und die Einsamkeit waren meist stärker als die Lust zur Arbeit. Er stand während dieser trüben Gedanken noch immer da, [167] auf die Fußspuren starrend, endlich schritt er die Stufen hinan, dabei unwillkürlich die kleinen Stapfen schonend. Wie immer ging er, nachdem er Büchse und Jagdtasche abgelegt, nach der Kinderstube. Unwillkürlich sah er, bevor er öffnete, nach der Uhr – es war Neun vorüber. Sollten die Kinder schon schlafen? Es war so merkwürdig still dort innen. Er öffnete und trat ein. – Auf dem Tische unter der alten Hängelampe mit der zersprungenen Glocke die geleerten Suppenteller der Kleinen, ein großes Brot, ein Restchen Butter. Alles still! Er wollte sich zurückziehen, da scholl ein Kinderlachen aus der halbgeöffneten Schlafstube, so ein recht jauchzendes, übermütiges Kichern, wie Finkenschlag im Frühlingswalde. Und gleich darauf vernahm er eine unendlich milde Frauenstimme.

„Bösewicht du, wirst du wohl still sein? Ich gehe gleich wieder fort, wenn du nicht artig bist!“

„Nein! Nein! Nein!“ riefen drei kleine Stimmen im Chor. „Sei still, Mariechen, sonst verhau’ ich dich!“ fügte die Aelteste hinzu. „Nun faltet die Hände und betet,“ ermahnte die Frauenstimme, und sie sprach das alte Kinderverschen.

„Müde bin ich, geh’ zur Ruh’ –.“

Er war leise eingetreten, wie gewaltsam hingezogen. Da, im schwachen Schein des Nachtlichtes, kniete am Gitterbette der Jüngsten eine weiße Gestalt, sie sah nicht den Späher, sie hatte die Hände über dem Bettchen verschlungen und den dunklen Kopf zu dem Kinde gesenkt.

Dem Manne an der Thür ward wunderlich zu Mute, er begriff noch nicht recht – die kleinen Fußstapfen draußen, das Mädchen im weißen Gewand, als ob der Weihnachtsengel eingetreten sei? Nur die Flügel fehlten, und die grobe blaue Schürze über dem lichte Kleid zeigte, daß sie nicht aus den engelhaften Sphäre stammte.

„Amen!“ sagte sie jetzt laut, „nun schlaft brav, morgen lernen und spielen wir miteinander, gelt, das wird schön?“

Er trat jetzt mit ein paar Schritten näher, sie wandte sich und sah ihn an. „Fräulein von Kerkow?“ fragte er lächelnd.

„Verzeihen Sie, Herr Oberförster, daß ich schon heute gekommen bin, es – es ging nicht anders.“ Sie wurde erst jetzt verlegen unter den fragenden Blicken. „Ich bin so fortgeeilt, wie ich stand und ging,“ stotterte sie, an ihrem Kleide niederblickend.

„Seien Sie herzlich willkommen, Fräulein von Kerkow, ich fürchte nur, Ihr Zimmer wird noch nicht ganz in Ordnung sein.“

„Sorgen Sie darum nicht, ich sprach schon mit dem Mädchen.“

Er trat jetzt an die Bettchen der Kinder. „Gute Nacht“, sagte er und gab dem Bube einen Kuß, „ich hoffe, ihr seid immer brav und folgsam bei der neuen Tante.“

Ein einstimmiges „Ja, Papa!“ scholl ihm entgegen, und die Aelteste sagte altklug. „Fräulein, nun mußt du mit Papa essen gehen, er ist immer sehr hungrig, wenn er von der Jagd kommt – gelt, Papa?“

Er nickte lächelnd. „Das wollen wir der Tante heute noch nicht zumuten – Sie werden abgespannt sein von dem Festtrubel und dem Schrecken zuletzt?“

Hedwig Kerkow sah ihn erstaunt an, sie standen jetzt draußen in der Wohnstube.

„Wann geschah denn das Unglück?“ fragte er. „War denn Ihre Durchlaucht noch bei der Tafel zugegen?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Oberförster,“ antwortete sie gepreßt.

„Ach, und ich glaubte – aber das konnte ja auch gar nicht mit Ihrem Früherkommen zusammenhängen – ja wissen Sie denn nicht, daß die Frau Herzogin einen Schlaganfall hatte?“

„Nein!“ sagte sie erschreckt. „Wann? Ich bin seit einer Stunde vielleicht hier –“

„Vor kurzem wohl – das Nähere weiß ich nicht. Es wurde Seiner Hoheit gemeldet, als wir vom Anstand zurückkamen.“

Das Dienstmädchen erschien jetzt mit einer Schüssel kalten Fleisches und Bratkartoffeln. Es zog ein verächtliches Gesicht, als sie die Dame im Gesellschaftskleid dastehen sah, mit der blauen Schürze darüber, die von ihr ausgeborgt war. Man mußte sie dort droben wohl Knall und Fall an die Luft gesetzt habe, anders die Sache sich zu erklären war Karoline nicht im stande. Dem Herrn schien die Geschichte auch nicht geheuer, das sah man ja an seinem Gesicht; sie hatte wahrscheinlich ein paar Redensarten zu hören bekommen, denn sie sah mit gar so verängstigten Augen zu ihr herüber.

„Wollen Sie mir Gesellschaft leisten, Fräulein von Kerkow?“ fragte er und wies auf den Stuhl neben sich. „Karoline, eine frische Serviette!“

Hedwig Kerkow setzte sich.

„Hier ist das Brotmesser,“ sagte Karoline, „das vorige Fräulein hat immer das Brot geschnitten.“

Das Fräulein griff mit zitternder Hand nach dem Brote, sie wußte kaum, was sie that. Die Herzogin einen Schlaganfall! Weiter konnte sie nicht denken.

„Wenn man das hohe Alter erwägt,“ sprach der Oberförster, nachdem er ihr angeboten, und begann zu essen mit einer Gründlichkeit und Behaglichkeit wie seit langer Zeit nicht, „dann ist’s ja leider nichts Unerwartetes –“

Das Mädchen hatte das Zimmer verlassen, Hede Kerkow saß und starrte auf ihren leeren Teller, es war ihr unmöglich, etwas zu genießen. Ja, was sollte dann werden, wenn die Herzogin starb? Die Existenz ihres Bruders, ihrer Schwägerin, Tante – alles stand auf diesen zwei alten Augen.

Draußen tönte die Schelle, hastige Männertritte kamen über den Flur, ein lautes Pochen und der Rentmeister trat ein. „Steht schlecht droben, Günther,“ sagte er, nach einer ungeschickten Verbeugung, „May giebt keine Hoffnung, der Anfall hat sich wiederholt. Der Herzog telegraphiert eben nach Nizza an seine Gemahlin und den Erbprinzen, die Herrschaften sollen sofort abreisen. Den Hofmarschall haben sie auch schon wieder am Schlafittchen,“ fuhr er lächelnd fort. „Wenn er in Berlin eintrifft, liegt die Depesche schon im Hotel. ‚Sofort zurück!’ lautet sie.“

„Es würde für den schlimmsten Fall seine Anwesenheit sehr nötig sein,“ meinte der Oberförster.

„Ihre Durchlaucht ist heute mittag noch ganz wohl gewesen,“ fuhr der Rentmeister fort. „Als das Brautpaar aus der Kirche kam, ist es in dem Roten Zimmer von Ihrer Durchlaucht empfangen worden, sie hat gesagt, es thue ihr leid, daß sie bei der Trauung nicht habe zugegen sein können, fühle sich jedoch nicht ganz frisch. Um sechs Uhr hat sie von ihrer Kammerfrau Thee verlangt, gegen ihre Gewohnheit, hat über Frost geklagt, um Sieben hat sie nach dem Herzog gefragt, auch gegen ihre Gewohnheit, und um halb acht Uhr ist sie bewußtlos zusammengebrochen. Sie ist rechtsseitig getroffen, hat die Sprache verloren – ja, ja, Günther, da können wir wohl bestimmt für schwarzen Flor sorgen –“

Hedwig stand auf. „Herr Oberförster, ich – ich möchte wohl – nein,“ unterbrach sie sich, „es wäre unnütz.“

„Wenn Sie glauben Ihrer Frau Tante nützen zu können, ist es doch selbstverständlich, daß Sie hinaufgehen ins Schloß.“

Sie schüttelte den Kopf, gewaltsam zwang sie ihre Erregung nieder. „Ich danke, Herr Oberförster!“

„Fräulein!“ rief Karoline herein. „Ihr Reisekorb ist da!“

„Bitte, Fräulein von Kerkow, gehen Sie ruhig in Ihr Zimmer, Sie werden Ihre Sachen zu ordnen haben – auf morgen früh denn,“ redete der Oberförster ihr zu, der ihr verstörtes Wesen wohl bemerkte.

Sie grüßte stumm und verschwand. Der Rentmeister sah der Hinausschreitenden nach. „Das ist ja wohl dem Kerkow seine Schwester?“ fragte er, ein spöttisches Zucken um die Mundwinkel. „Die Herrlichkeit hätte denn auch bald ein Ende gehabt, ein Hofmarschall ist nächstens überflüssig hier, wenn er die Beisetzung angeordnet hat, kann er gehen.“

„Es ist hart für ihn; pensionsberechtigt wird er nicht sein?“

„Gott bewahre! Hat ja kaum die Nase hineingesteckt.“

„Aber er hat seine Carriere drangegeben,“ bemerkte der Oberförster.

„Weshalb hat er das gethan! Das Risiko mußte er auf sich nehmen. – Da wird’s hier übriges recht ruhig werden in Breitenfels,“ fuhr er fort, ein Glas Bier leerend, das ihm der Oberförster eingegossen hatte. „Das Nest wird einschlafen und wir mit! Ja, ja, einmal kommt das Ende!“ Mit diesem Gemeinplatz erhob er sich, schüttelte dem Oberförster die Hand und ging, um droben nachzuschauen. Olbers, der Kammerlakai, würde genau wissen, wie es stand.

– – – – – – – – – – – – – – –

[170] Hedwig saß in ihrer ungeheizten Stube, die neben dem Schlafzimmer der Kinder lag, sie war nicht viel besser als ein Dienerzimmer, mit den schadhaften, billigen Tapeten, in Blau und Grau gemustert, dem winzigen Kleiderschrank, der wurmstichigen Kommode und der eisernen Bettstelle, in der rot und weiß bezogene Kissen sich breiteten. Sie sah das alles nicht, sie dachte nur daran, daß der Mensch, den sie allein liebte auf der Welt, ihr Bruder, aus sicherem Hafen wieder hinaustreiben sollte auf das Meer des Lebens, existenzlos und unfrei. Ja, wenn er als ungebundener junger Mann wieder hinaustriebe, dann wäre ihr nicht bange, aber der Ballast der mittellosen, verwöhnten Frau, mußte der die Fahrt nicht hemmen?

Sie begann ganz mechanisch ihre Sachen auszupacken, dann zögerte sie – wenn nun Heinz nicht hier bleibt in Breitenfels? Doch gleich darauf hob sie mit einer entschiedenen Bewegung den Kopf in den Nacken und errötete, sie dachte an die mutterlosen Kinder daneben, an den Mann mit den müden, bekümmerten Augen, dem sie sich freiwillig als Stütze angeboten, und hastig hing sie die Kleider in den Schrank, legte die Wäsche in die Kommode, stellte die Photographien der Mutter und Schwester darauf und kleidete sich um. Eben war sie im Begriff, das Fenster zu öffnen, damit die reine herbe Luft in den dunstigen Raum dringe, da klang ihr aus dem kalten Hauch, der hereinwehte, ein tiefer, feierlicher Ton entgegen, dem ein zweiter, noch tieferer folgte – die Glocke der Schloßkirche begann zu läuten und verkündete der Stadt und dem Lande, daß die alte Herzogin eingeschlafen sei, um nie wieder zu erwachen.

Das blasse Mädchen lehnte den Kopf an das Fensterkreuz und faltete die Hände, und unter den tiefen feierlichen Klängen ward es still in ihrem Herzen, als seien diese Töne ein Wiegenlied. So müde und abgehetzt vom Leben war sie, daß ihr dies Totengeläute zum Trost wurde. – „Einmal kommt Ruhe, einmal schläft man!“ sagte sie halblaut. Schlafen dünkte sie das Wünschenswerteste nach dem grauen sonnenlosen Tag, der das Leben für sie gewesen. An ein Weiterleben mochte sie nicht mehr glauben sie, die doch sonst so religiös war, so innig beten konnte, hatte jetzt doch nur den einen Wunsch: lasse mich einschlafen, um nie wieder zu erwachen, auch droben nicht! Meine Seele kann sich doch nicht freuen sie hat’s nie gelernt hier unten.

„Schlafen!“ sagte sie noch einmal.

Eine ganze Stunde lang läuteten die Glocken, und unter ihren Klängen suchte sie ihr Lager auf und schlief ein.


Sechs Tage später saß Hedwig Kerkow in der Wohnstube der Oberförsterei, das kleinste Mädchen neben sich auf der Fensterbank, wo es mit seinem Püppchen beschäftigt war, dem es ein schwarzes Läppchen umwickelte, denn es sollte nachher Begräbnis gespielt werden.

Hedwig war nicht viel zur Ruhe gekommen, sie hatte sich mit aller Kraft an die übernommene Aufgabe gemacht, und da gab es viel zu schaffen. An Karoline vollzog sie ihre erste Wunderkur. Aus dem Mädchen, das unter Fräulein Stübkens Leitung respektlos und eingebildet geworden, entwickelte sich im Handumdrehen eine bescheidene, folgsame Person. Das ganze Haus war einer gründlichen Reinigung unterworfen worden, vor allen Fenstern hingen neue Gardinen, die der Oberförster gern bewilligt hatte, als Hedwig ihn aufmerksam auf die nicht mehr zu verbergenden Schäden der alten machte. Hedwig hatte selbst die Auswahl treffen dürfen, und anstatt der bläulich-weißen, steifgestärkten Dinger hingen jetzt zwar billige, aber doch neue, gelblich getönte Spitzenvorhänge an den Fenstern und gaben den Zimmern ein bedeutend besseres Aussehen. Der Tisch war mittags gefällig gedeckt, sämtliches angebrochenes Service hatte Hedwig erbarmungslos kassiert, Servietten waren vollzählig vorhanden – Fräulein Stübken hatte es damit nicht so genau genommen – und Karoline trug mit weißer sauberer Schürze und gesittetem Benehmen die Suppe auf.

Die Kinder prangten in hellen Schürzen, keine Thür wurde mehr knallend zugeworfen, selbst die Herren Hunde betrugen sich besser und nahmen ihr Fressen in einem Winkel des Flurs mit demselben Appetit ein wie früher in der Wohnstube, wo es nach ihrem Diner keineswegs sehr anmutig zu riechen pflegte.

Das feine Wesen der neuen Hausdame schuf wie von selbst eine Atmosphäre von Traulichkeit.

Nur des Oberförsters Zimmer blieb unberührt. Der eimsame Mann saß da drüben nach wie vor mit seinem gekränkten Herzen, seiner Bitterkeit, in blaue Tabakswolken gehüllt und kam, wie er gesagt hatte, nur zu den Mahlzeiten herüber, und auch das bis jetzt selten genug, denn mehreremal hatte er in irgend einem Försterhause auf seinen Berufswegen gespeist und kehrte erst heim, wenn der Abend graute.

Hedwig bekümmerte sich darum nicht, bemerkte es nicht einmal. Die wenige Zeit, die ihr blieb, sich mit ihren eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, gehörte dem Bruder. Gesehen hatte sie ihn noch nicht, sie wußte nur aus ein paar flüchtigen Zeilen, die er ihr sandte, daß er mit seiner Frau sofort zurückgekehrt sei und jetzt überviel zu thun habe, um die Beisetzungsfeierlichkeiten zu ordnen. Eine Unmasse fremder Gäste werde erwartet, die halbe Residenz nehme teil.

Heute nun, um zwei Uhr, sollte die Ueberführung der Leiche in die Gruft zu Holmsrode, einer alten Breitenfels’schen Besitzung, stattfinden. – Der Gemahl der verstorbenen Herzogin ruhte dort, es war der Lieblingsplatz desselben im Leben gewesen, und die Gattin sollte seiner Bestimmung gemäß neben ihm schlafen dereinst. Der Weg nach Holmsrode war mit ein paar raschen Pferden in einer Stunde zu machen; im Schritt mit dem Leichenkondukt aber brauchte man drei Stunden, und dazu ein Januartag im funkelnden Schneegewand bei zwölf Grad Kälte!

Der ganze Platz stand voller Menschen, der Weg vom Schloß herab über denselben hinweg, der Totenweg, war mit Fahnenmasten, die man in Krepp gehüllt hatte, und von denen halbmast schwarze Wimpel wehten, eingefaßt, und auf dem festgestampften Schnee lagen Tannenzweige wie ein dichter, grüner Teppich. Zu beiden Seiten des Trauerweges hatten Soldaten Spalier gebildet, hinter ihnen schob und drängte sich die Menge.

Mitten durch dieses Gewirr wand sich ein Schlitten, zwei verschleierte und vermummte Damen saßen darin. Ein paar große Reisekörbe waren hinten auf den Kufen befestigt. Das junge Mädchen, dessen ovales feines Gesicht nur ein dünner Schleier schützte, sah weder rechts noch links, mit gesenktem Kopf fuhr sie durch die Menge.

„Das ist Fräulein May, die reist heut’ nach Dresden, will Sängerin werden,“ bemerkte Karoline wichtig, die am andern Fenster mit den beiden ältesten Kindern stand.

Hedwig sah dem Mädchen nach, bis der Schlitten um die Ecke bog. Also das war sie, die es verschmäht hatte, in diesem Hause Herrin zu sein, in welches als Dienerin einzutreten ihr als Glück erschien. Ach, das junge Geschöpf wußte wohl nicht, was es gethan! Es sollte nur erst versuchen was es heißt, als Frau sich durch die Welt zu schlagen. Eines Tags würde sie bereuen, bitter bereuen, oder aber sie war ein vollwertiges Talent, vielleicht zur wirklichen Künstlerin berufen – dann – ja dann –

In die Massen draußen kam plötzlich Bewegung. Die Glocken begannen zu läuten, im Schloßthor trat die Wache unters Gewehr. Eine Abteilung des in der Residenz garnisonierenden Jägerbataillons schritt voran, dann folgten die herzoglichen Forstbeamten , dahinter der von acht Pferden gezogene Leichenwagen, dessen schwarze, mit silbernen Fürstenkronen verzierte Sammetdecke von acht herzoglichen Förstern getragen wurde. Hinter diesem schritt der Herzog neben seinem Sohne, dem sechzehnjährigen Thronfolger, in langer Reihe folgte das vornehme Trauergeleit. Am Fuße des steilen Schloßberges stockte der Zug, der Herzog und die Herren vom Hofe sowie die Herzogin und ihre Damen bestiegen die bereitstehenden Wagen, die sich dem Zuge anschlossen.

Hedwig Kerkow glaubte, in einer der vorderen Eguipagen ihre Schwägerin, in einer andern ihren Bruder erkannt zu haben.

„Jesus, meine Zuversicht,“ spielte die Musik; der Kondukt setzte sich in Bewegung, in der Richtung nach dem Gebirge, dessen Wälder das stille Schloß bargen, in dessen Begräbnisstätte die Tote ruhen sollte.

Breitenfels war aus der Reihe der bewohnten Schlösser gestrichen, es begann seinen Schlaf, wie so viele herrliche Burgen aus alter Zeit. In kurzer Frist würden in den Gemächern der [171] Herzogin die Vorhänge vor den Fenstern heruntergelassen sein und ein paar Diener sowie der alte Kastellan da droben gleich Gespenstern umherschleichen, höchstens im Herbst, zur Jagdzeit, würden auf ein paar Wochen wieder helle Fenster in die Dunkelheit hinausgrüßen.

Hedwig seufzte tief, als der letzte Wagen ihren Augen entschwand; wenn sie doch erst wüßte, was nun aus Heinz wird! –

Es war am Abend, sie saß allein in der Wohnstube, die Kinder schliefen bereits, der Hausherr befand sich in seinem Zimmer, da klingelte es draußen und gleich darauf kam Karoline und brachte ihr ein Briefchen – von Heinz. „Wenn es Dir möglich ist, komme auf eine halbe Stunde zu mir. Der Diener wartet, er kann Dich gleich heraufbegleiten.“

Sie holte den Mantel, band einen Spitzenshawl um den Kopf, trug Karoline auf, falls der Herr Oberförster nach ihr fragen sollte, zu sagen, sie sei zu ihrem Bruder gegangen, und schritt, begleitet von dem Diener, aus dem Hause.

„Der Herr Hofmarschall wohnt noch in seinen alten Zimmern,“ sagte der Mann. Im Schlosse angelangt, dankte ihm Hedwig und stieg die Treppe empor in das erste Stockwerk, dort blieb sie stehen und sah sich unwillkürlich um. Der breite Gang, der zu den Gemächern der Verstorbenen führte, war nur durch eine einzige Lampe erleuchtet. Cypressenzweige und weiße Blüten lagen auf dem schwarzen Teppich und die Tuberosen dufteten fast betäubend. Unheimlich still war es. Die Dienerschaft mochte in ihren Speiseräumen sitzen oder daheim sein, sofern sie nicht im Schlosse wohnte, sie war ja außer Thätigkeit. Die auswärtigen Fürstlichkeiten und sonstigen hohen Gäste sowie die herzögliche Familie hatten sich in dem von dem regierenden Herzog bewohnten Teil des Schlosses versammelt – hier herrschte Schweigen und Verlassenheit.

Hedwig Kerkow stieg weiter empor. Im zweiten Stock begegnete ihr die Jungfer der Frau von Gruber, sie trug ein Theeservice in das von der alten Hofdame bewohnte Zimmer. Tante wird angegriffen sein und nimmt den Thee im Bette, dachte Hede. Im dritten Stock angelangt, fand sie ohne weiteres die bekannte Thür und klopfte an; eine Frauenstimme rief: „Herein!“

Mit enttäuschter Miene trat Hedwig ein, sie hatte gehofft, den Bruder allein zu finden. Die Lampe auf dem großen Schreibtisch brannte zwar, aber sie genügte doch nicht, das große Zimmer völlig zu erhellen. Heinz schritt der Schwester entgegen. „Guten Tag, Hede, es ist lieb, daß du kommst,“ sagte er. „Toni, hier ist Hedwig.“

Aus einem der riesigen Fauteuils kam ein Laut, der wohl soviel wie „Guten Tag!“ bedeuten sollte, und das Gesicht der jungen Frau, doppelt blaß unter der schneppigen Krepphaube über dem tiefschwarzen Kleide, wandte sich ihr zu.

Hedwig ging zu ihr hinüber. „Es thut mir leid, Toni, daß eure schöne Reise so traurig unterbrochen wurde.“

Toni zuckte unmerklich die Schultern, senkte den Kopf und schwieg. „Ich bin schrecklich abgespannt,“ klagte sie nach einem Weilchen.

„Das ist doch kein Wunder, diese ewig lange Fahrt heute, dort das Stehen in der kalten Kapelle, die Rückfahrt – du solltest dich ruhig in deinem Zimmer auf die Chaiselongue legen, Toni,“ sagte er freundlich.

Sie erhob sich. „Ich störe euch wohl?“ fragte sie statt der Antwort. Ihr Gesicht war noch um eine Schattierung bleicher.

„Durchaus nicht,“ antwortete er ruhig und ohne auf die Unart einzugehen. „Ich meinte es einfach gut mit dir. Was ich mit Hede zu sprechen habe, kannst du wahrhaftig hören. Also“ , begann er, nachdem Hedwig sich gesetzt und er eine Cigarre angebrannt hatte, deren Rauch er, gegen seinen Schreibtisch gelehnt, mit absichtlich zur Schau getragener Gemütsruhe vor sich hinblies, daß die Schwester, der sein Wesen so genau vertraut war, schon daraus seine große innere Erregung erkannte; „also, Hede, wie geht’s dir denn nun dort unten?“

„Gut!“ antwortete sie, „ich habe viel zu thun, und ich bin so glücklich, wenn ich zum Schloß hinauf sehe und denke, da oben ist Heinz. Wenn ich mit einem Tuche winke, würdest du es sehen können?“ „Wie rührend!“ sagte Toni spöttisch.

„Na, Hede, ich will dir ganz offen bekennen,“ sprach er weiter, „ich würde ganz froh sein, wenn ich dieses Winken nicht sehen könnte, falls du ’mal in einer romantischen Stimmung ein Tüchlein zu schwenken beliebtest, aber es wird wohl so kommen, wir bleiben Nachbarn. Ich wollte nämlich lebensgern wieder den bunten Rock anziehen – – begreifst du, Kind?“

„Vollkommen, Heinz! Ich habe sogar bestimmt geglaubt, daß du das thun wirst, und habe mich mit dem Gedanken vertraut gemacht, hier allein zu bleiben, ich kann doch nicht so mir nichts dir nichts meine Verpflichtung lösen.

„Natürlich nicht“, schaltete Toni ein, „ich denke mir, du rechnest auf ein recht dauerndes Engagement.“

Hedwig sah befremdet zu der Schwägerin hinüber; das hatte so wunderbar geklungen, aber sie verstand nicht, was jene meinte.

„Toni ist manchmal prophetisch angeregt,“ scherzte er, „hoffen wir, daß sie recht behält, Kind, denn, siehst du, auch wir werden recht lange hier bleiben, vermutlich bis an unser Ende, das bei meinem Leben in dieser herrlichen Luft und dem bescheidentlichen gegen alle Aufregungen gefeiten Dasein erst in nebelgrauen Zeiten eintreten dürfte. Wie du mich hier siehst, bin ich der herzogliche Schloßhauptmann, und die dort die Frau Schloßhauptmann von Breitenfels, mit freier Wohnung und einem Gehalt, das uns vor allem Uebermut und Luxus trefflich schützt, und einer Pension, mit Hilfe deren meine Frau standesgemäße Toilette tragen wird. Was sagst du nun, Hede?“

Das Mädchen starrte den Redenden entsetzt an. „Heinz, das kannst du nicht! Das darfst du nicht!“ stieß sie hervor. „Werde doch wieder Soldat, du darfst dich hier nicht lebendig begraben lassen!“

„Ich verbitte mir, daß du Heinz so aufhetzt“, rief jetzt Toni, „ich begreife nicht, was du willst! Wir haben nette Wohnung, haben den alten angenehmen Verkehr und stehen hier immer an der Spitze. Das Verzweifeltthun von Heinz finde ich einfach unpassend.

„Ich bin ja kreuzfidel,“ lachte er, „finde es ja wundervoll! Ich denke, bei mir bildet sich in dieser Stille, in diesem absoluten Nichtsthun noch ein ’Talent’ aus – zum Naturforscher oder zum Nimrod oder Maler, oder aber ich erfinde einen neuen Liqueur, werde weltberühmt wie Gilka und nebenbei ein eifriger Liebhaber dieses Erzeugnisses. Ach Gott, ich sage euch, wer weiß, wie weit ich’s noch ’mal bringe! Uebrigens ist’s doch nett, daß ich den Titel Schloßhauptmann bekam, von Rechts wegen müßte ich doch Oberkastellan heißen – was?“

Er warf mit einer heftigen Bewegung die halb ausgerauchte Cigarre in den Kamin und suchte nach einer andern im Etui.

„Warum kannst du nicht wieder eintreten, Heinz?“ brachte Hedwig mit zitternden Lippen hervor.

„Na, Schatz, du hast doch gewiß ’mal was gehört vom ‚Kommißvermögen‘, nicht wahr? Siehst du, das fehlt uns eben. Ein paar Tage lang schwebten wir sozusagen in der Luft, es war ungemütlich – Toni, was? Ich sage dir, Kind, ich bin umhergelaufen wie ein Löwe im Käfig – was nun werden? Nichts haben, nichts sein! Und dann so eine arme, kleine Frau dazu, deren Vorhandensein unsereinem das Experimentieren verbietet, so etwa nach Transvaal zu gehen, nach Indien oder Melbourne, um Diamanten, Goldklumpen und Gott weiß was zu finden! Gelt, Toni, es fing schlecht an mit uns?“

Er war vor ihr stehen geblieben und sah wirklich mitleidig auf das kleine, blasse Geschöpf herab, das mit verdrießlichem Gesichtsausdruck den Kopf zur Seite wandte.

„Und der Herzog? Um Gottes willen, Heinz, bitte doch den Herzog!“ flehte Hedwig.

„Der Herzog hat mir ja die Stellung hier geschaffen, Kind, extra für mich geschaffen, denn bis dato gab’s noch keinen Schloßhauptmann von Breitenfels in der Weltgeschichte!“

„Aber du gehst hier ja zu Grunde,“ jammerte die Schwester, „es ist ja ein Posten für einen Invaliden, aber nicht für dich – für dich!“

Toni erhob sich. „Es wird am besten sein, daß ich gehe,“ sagte sie, „denn schön ist’s nicht, mit anhören zu müssen, daß du zu Grunde gehen wirst, weil – na ja, weil du mich geheiratet hast, denn sonst – sag’s doch ehrlich – sonst wandertet ihr beide aus, um das Glück zu suchen, um unerhörte Thaten zu vollbringen! Vorläufig bin ich nun aber leider noch auf der Welt – Das [172] weitere erstickte in Weinen, sie hatte das Tuch gegen das Gesicht gepreßt und stürzte hinaus, krachend fiel die Thür hinter ihr zu.

„Entschuldige einen Augenblick,“ bat er mit völlig verändertem Gesichtsausdruck „Ich bin gleich wieder bei dir, und folgte seiner Frau mit raschen Schritten. Nach einer Viertelstunde kam er zurück und setzte sich schweigend Hedwig gegenüber. Er sah hochrot und ärgerlich aus. „Na,“ sagte er endlich, „über Ansichten ist nicht zu streiten; die beiden Damen preisen uns glücklich, finden meine Stellung ideal, und Tante Gruber sagt, sie halte es mit dem Sprichwort: ‚Lieber auf einem Dorfe der erste, als in Rom der zweite‘. – Also, Hede, spielen wir Schloßhauptmann! Uebrigens ist’s schon spät, Kind, komm, ich werde dich hinunterbringen.“

Sie erhob sich stumm, und stumm schritten sie draußen nebeneinander hin, die Geschwister. Kein Mensch begegnete ihnen, Totenstille ringsum, und über dem Schloß stand jetzt der Vollmond und umspann es mit fahlem, bläulichem Licht. Wie ein Stück Vergangenheit lag es da, so schattenhaft, so dem Leben entrückt, und die Trauerfahne flatterte drüber wie ein düsteres Wahrzeichen. – – Und dort sollte er leben, der junge Mann mit seinem begeisterten Herzen für alles, was groß, schön, gewaltig ist in der Welt, der nützen will, streben will, etwas vollbracht haben will am Schluß seines Lebens, und der verdammt ist, all diese köstliche Jugend in einem thatenlosen greisenhaften Dasein ersticken zu müssen!

„Weinst du?“ fragte er plötzlich und legte den Arm um ihre Schulter – „weine doch nicht, Hede!“

Aber da hielt sie sich nicht länger, die Thränen drängten sich gewaltsam aus den Augen. „Ach, Heinz,“ schluchzte sie, „warum mußt du denn so unglücklich sein! Wenn wir nicht gewesen wären, wir armen, unseligen Mädchen – warum giebt Gott es nur zu, daß arme Mädchen geboren werden, warum schlägt man sie nicht gleich tot, da sie doch nur leben, um sich und andere unglücklich zu machen!“

„Na, sei so gut,“ sagte er, mühsam scherzend, „das wäre eine neue Beleuchtung der Frauenfrage. Reden wir von was anderem; nur das eine noch, du närrisches Mädel, du hast mich doch lieb – wie?“

„Ach Heinz! Heinz, du bist ja der Einzige auf der Welt –“

„Na, siehst du? Und ebenso lieb hab’ ich dich! Und nun wollen wir zusammenhalten, alte Hede – den Kopf hoch, trotz alledem und immer!“ Er schüttelte ihr die Hand, als sie vor der Hausthür angekommen waren, lange und herzlich, seine Augen schimmerten feucht. „Na, und über das Winken reden wir noch,“ sprach er weiter. „Tante Christiane wird sich wohl, wenn die Langeweile sie mürbe gemacht hat, auch noch mit deiner Stellung aussöhnen. Gute Nacht, Kind!“

Er drehte sich rasch um und schritt zurück. „Wie elastisch er den steilen Berg hinaufgeht,“ dachte sie und wischte die Thränen aus den Augen, „und der soll nun immer hier sein, bis er ein müder, verbitterter Mensch geworden!“ Und im herben Schmerz preßte sie die Handflächen gegeneinander, und so lange sie den liebsten Menschen, den Sie auf der Welt hatte, noch sehen konnte, blieb sie da stehen in der kalten Winternacht. – –

Wie seit Jahren lag sie auch an diesem Abend noch bis tief in die Nacht hinein wach und grübelte, aber das Schicksal des Bruders ließ sich nicht wenden, überall wo sie einen Ausweg wähnte, fand sie die festgefügten, starren Mauern seiner traurigen Verhältnisse.

Es weinten noch mehr Leute in dieser Nacht: in Breitenfels, die Armen, die in der Herzogin ihre Wohlthäterin verloren hatten, die regierende Herzogin, die in der verblichenen Stiefmutter ihres Gemahls eine Vertraute verlor, welche unermüdlich den lebenslustigen Sohn auf die Wege der Treue gewiesen, von denen er so gern einmal abschwenkte, die alten treuen Diener und Dienerinnen der Verblichenen, die, auf knappe Pension gesetzt, im Alter das Einschränken lernen mußten, die Beamten, die stellenlos geworden. Frau Medizinalrat May saß auf ihrem Lager und wand die Hände ineinander, es war ja gar zu hart über ihr Haus gekommen! Die Hälfte Gehalt fortan, und die Forderungen der Herren Söhne größer denn je, ihres Hauses Sonnenschein, die Aenne, in der Fremde! Anstatt des Hochzeitsfestes, des traulichen Verkehrs mit einer glücklich verheirateten jungen Tochter – spärliche Briefe, immerwährende verzehrende Angst und Sehnsucht!

Sie sah ihren Mann an, der neben ihr schlummerte. Er schien ihr sehr gealtert seit den letzten Wochen und trotzdem hieß es für ihn: doppelt arbeiten, die Praxis ausdehnen in Wind und Wetter über Land fahren, die Nächte von dem warmen Bette aus direkt in eisige Kälte und Sturm hinaus, seine Gesundheit preisgebend. Wo war denn plötzlich all jene sonnige Behaglichkeit geblieben, die ihr bescheidenes Heim so schön gemacht hatte? – Fortgezogen mit der Aenne, in das unbekannte weite Leben, das Frau Rat nur vom Hörensagen kannte, das sie grausen machte, wenn auch nur die Hälfte wahr von dem war, was man ihr davon erzählt hatte.

In ihrem Herzeleid drückte sie das thränennasse Gesicht in die Kissen und erstickte ein Schluchzen, damit ihr Mann nicht erwache, und ein heißes stummes Gebet stieg empor für ihre süße, trotzige, ach, so ferne Aenne.

[181] Ein Frühlingsabend fünf Jahre später! Die ganze Luft voll Syringen- und Jasminduft, das zitternde junge Laub der Bäume durchleuchtet vom Abendsonnenschein. Vom Turm der Schloßkirche hebt Geläute an, Pfingstgeläute, und unter seinen Klängen öffnen sich die Augen eines ungefähr vierjährigen Knaben, der auf einem Krankenfahrstuhl ruht, ganz weit und erschreckt. Ein blasses abgezehrtes Kindergesicht, aus dem diese schönen glänzenden großen Augen blicken. Man hatte den Fahrstuhl auf die Terrasse des Schlosses geschoben, in den Schutz des kleinen Pavillons, den einst Heinz Kerkow mit Freskogemälden schmücken [182] gewollt. Das offenbar schwer leidende Kind war sorgsam mit Decken und Kissen gestützt und eingehüllt, ein geöffnetes Bilderbuch lag auf dem Tischchen zur Seite des kleinen Gefährts neben einem Glase Milch, das noch unberührt stand. Weiter zurück saß auf dem eisernen Gartenstuhl ein Herr vor der Staffelei und malte, oder hatte gemalt, denn die Hand, in der er die Palette hielt, lag auf seinem Knie, der rechte Arm hing schlaff herunter der Pinsel war zur Erde gefallen. Wie geblendet starrte der Mann hinein in den Zauber dieses Lenzabends.

Der Schloßhauptmann von Kerkow war noch ein junger Mann, aber die fünf Jahre, die er seines Amtes hier oben gewaltet, mußten schwere harte Jahre gewesen sein. Er war mager und schmal geworden, auf der Stirn hatten sich ein paar tiefe Falten gebildet und die Augen blickten müde, so müde wie die eines Menschen, der nichts mehr hofft, der abgeschlossen hat mit dem Leben und nur noch bemüht ist, es mit möglichst guter Haltung weiter zu tragen.

„Papa!“ rief das Kind ängstlich.

„Gleich, mein Junge!“ rief er aufspringend, und die Palette auf den Stuhl legend, stand er im nächsten Augenblick schon an dem Lager und beugte sich mit besorgtem Ausdruck zu dem kleinen Kranken nieder.

Das Kind beruhigte sich sofort und blickte ihn freundlich an. „Läuten? – warum?“ sagte es mühsam.

„Morgen ist ein Feiertag“, erklärte er, seinen Stuhl herbeiholend und neben dem Kinde Platz nehmend, indem er das magere Händchen streichelte. „Morgen ist Pfingsten, Heini.“

„Da fährt Mama aus?“

Heinz Kerkow nickte seinem Sohne zu, ein finsterer Zug verdrängte einen Augenblick seine Freundlichkeit. „Ja, mein Junge, sie wird wohl ausfahren.“

„Du auch?“

„Soll ich, Heini?“

Um den Kindesmund zuckte es schmerzlich. „Nein, nein!“ flehte er, „ich habe immer Angst, wenn ich so allein bin.“

„Ich bleibe bei dir, Schatz, weine nicht,“ tröstete der Vater. „Wir erzählen uns schöne Geschichten und nachmittags fahre ich dich in den Park hinein – oder willst du zu Tante Hede?“

„Nein, bei dir bleiben – die Kinder sind so unartig.“

„Nicht unartig, Heini, sie sind wild und toben umher, und das sollst du, so Gott will, auch wieder lernen, kleiner Stift.“

Das Kind schüttelte den Kopf. „Ich lern’s nicht, Papa!“

„Oho! Woher weißt du das?“

„Mama hat’s gesagt zu Tante Gruber – Papa.“

„Aber du närrisches Kind, du hast ganz falsch verstanden.“

„Nein – Mama hat gesagt. er ist ein Krüppel und bleibt ein Krüppel, und alle die Quälerei und Quacksalberei nützt nichts – hat sie gesagt.“

Ueber Heinz Kerkows Gesicht ging eine fahle Blässe. „Da hat Mama dich nicht gemeint, mein Herzblatt; du mußt nicht alles auf dich beziehen und nicht so achten auf das, was die Großen sprechen – hörst du?“

„Ich will mich aber nicht mehr quälen lassen mit der Maschine,“ beharrte das Kind.

„Wenn du deinen Papa lieb hast, Heini, dann läßt du dich noch ein bißchen quälen.“

Das Kind schwieg. Es lag etwas in seinem abgemagerten Antlitz, das weit über seine Jahre hinausging, ein Hauch bitterster Erkenntnis seines Zustandes. Heinz saß daneben und kämpfte mit seinem großen Schmerz um dieses armselige Geschöpfchen, das sein Sohn war, mit dem Zorn über die Gefühllosigkeit der Frau, die dieses Kind zur Welt gebracht, ein zartes aber gesundes Kind, das durch die Schuld der Mutter zu dem geworden, was es jetzt war.

Er ist ein Krüppel, er wird ein Krüppel bleiben! klang es in ihm. Ach Gott, so entsagungsreich, so arm sein Leben auch war in diesem verschollenen Winkel, er würde es mit Freuden weiterleben, wäre der Junge gesund neben ihm hergesprungen durch die hallenden öden Gänge des Schlosses, durch die einsamen Wege des Parkes – aber so, ach so! – –

Er war mit keinerlei Illusionen in diese Ehe gegangen, aber daß sie so öde werden würde, wie sie thatsächlich geworden, das hatte er doch nicht gedacht. Er hatte sich redlich Mühe gegeben, seine Frau zu bewegen, an irgend etwas teilzunehmen, das ihn interessierte, wie er sich ehrlich Mühe gab, ihrem Ideenkreise näherzutreten. Er fuhr Visiten mit ihr in der ganzen Umgegend, er empfing ihre Gäste, die ihm unendlich gleichgültig waren und vor denen er sich schämte mit dem „Fünfuhrthee“, welchen Toni in Erwiderung von lukullischen Diners und Soupers zu veranstalten pflegte. Er war der Ansicht, nichts annehmen zu sollen, was man nicht erwidern könne – Toni stand auf einem erhabeneren Standpunkt. „Ich gehe nicht Essens und Trinkens halber in die Gesellschaft“, pflegte sie zu sagen. Seine Gegenvorstellungen, daß es doch immerhin und unbeschadet dieser idealen Ansicht etwas unbescheiden sei, Leute drei Meilen und mehr über Land fahren zu lassen, um sie mit einer winzig kleinen Tasse Thee und einigem leichten Gebäck abzuspeisen, ließ sie nicht gelten; mehr erlaubten eben ihre Mittel nicht! Und ohne Geselligkeit könnte sie nicht leben!

Trotzdem sah sich in Kerkows Haushalt alles ganz stattlich an. Der Diener und Kutscher servierten; sie standen, wie Pferd und Wagen, im herzoglichen Dienst und waren dem Schloßhauptmann zur Benutzung gestattet. Die Einrichtung der Zimmer, das Service erschienen elegant, das Silberzeug, ein Geschenk der verstorbenen Herzogin, ebenfalls, und so behauptete sich Toni wirklich ganz ansehnlich.

Heinz beschwichtigte auch das heulende Mädchen, die Jungfer und Köchin in Eins vorstellte, wenn ihr die Gnädige in zorniger Aufwallung gekündigt harte. Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte alle vierzehn Tage gewechselt. Ach, und die Tage dehnten sich, als wären die Stunden mit Blei beschwert! Wenn er früh seine paar Unterschriften vollzogen, mit irgend einem Handwerker geredet, den er wegen irgend einer Verbesserung oder Reparatur bestellt hatte, über die zu berichten ihm oblag. Wenn der Obergärtner pro forma dagewesen war und Rechnung gelegt hatte über seine Wochensendungen an die herzogliche Küche und über den Verkauf aus den Treibhäusern, wenn der Bibliothekar ihn zum hundertstenmal gebeten hatte, bei Hoheit wegen Ankaufs dieses oder jenes Werkes vorstellig zu werden, ein Bemühen, das er längst aufgegeben hatte, weil der Herzog stets einfach ablehnte, dann war sein Tagewerk gethan. Er hatte Muße, die Zeitung in einer Ruhe zu lesen, wie sie wenig Menschen vergönnt ist, im Winter oder an trüben regnerischen Tagen im Erker, im Sommer auf der Terrasse, die für das Publikum neuerdings abgesperrt worden, aber wenn er sich noch so sehr Zeit nahm, es blieb immer noch zu viel dieses kostbaren Orakels übrig. Was hatte er nicht alles gethan, um sie rascher vergehen zu machen! Er hatte gemalt, alte Bilder kopiert aus den Sälen des Schlosses, dann, als ihm das über geworden, da er ja doch nichts anderes war als ein halbwegs anständiger Dilettant, hatte er es mit der Blumen und Obstbaumzucht versucht, hatte den Oberförster eine Zeit lang eifrig auf die Jagd begleitet, aber alles ohne innere Befriedigung dabei zu finden.

Er wäre wohl auf diese Weise im Nichtsthun verkommen, wenn sein Geist nicht durch einen Zufall aufgerüttelt worden wäre. Der Bibliothekar wurde an eine andere herzogliche Bibliothek versetzt und die Bücherei von Breitenfels der Obhut des Schloßhauptmanns anvertraut. Der nicht unbedeutende Schatz an Werken und Kupfersachen, den einst ein ernster, den Wissenschaften ergebener Fürst gesammelt hatte, sollte aber öffentlichen Zwecken nicht dienen, er sollte vorläufig in Breitenfels stehen bleiben, bis man ihn der Bibliothek in der Residenz einverleibte. Heinz von Kerkow hatte nur die Schlüssel von den Zimmern zu bewahren und zuzusehen, daß die Bücher und Folianten nicht vermoderten.

So mußte er öfter durch die stillen Räume wandern, nun reizte ihn dieses und jenes Bild, der Titel dieses und jenes Buches, er blätterte darin er begann zu lesen. Geschichte und Kulturgeschichte, seine alten Lieblingsfächer, fesselten ihn von neuem, und er begann, ohne es zu merken, ernste Studien zu treiben, sich in den Geist vergangener Epochen zu vertiefen.

Ging er jetzt auf die Jagd, schritt er allein durch die tiefen Wälder, rastete er für sich, nur von dem treuen Hunde begleitet, auf stillen einsamen Höhen, das bunte Gewoge der herbstlich gefärbten Wipfel der Waldbäume zu seinen Füßen, dann vergaß er die Gegenwart, seine öde Lage, dann lebte in seinem Geiste eine andere Welt auf. Da zogen geharnischte Ritter in den [183] Streit, da ritten edle Kavaliere und schmucke Hofdamen zur lustigen Falkenjagd. Die lebhafte Phantasie des künstlerisch veranlagten Mannes ließ Gestalten, deren Leib längst vermodert war, wieder aufleben. Am lebendigsten aber traten diejenigen vor seine Seele, die in der Welt nicht das gewinnende Los gezogen hatten, sondern einst in den Thälern des Herzogtums, wie er heute, in unerfüllter Sehnsucht dahingewelkt waren mit wundem Herzen und müden Gliedern, an der Kette des Lebens sich dahingeschleppt hatten. In Breitenfels und den umliegenden Schlössern hatte sich so im Laufe der Zeiten so mancher Roman abgespielt, und nicht bei jedem war der Ausgang ein erfreulicher gewesen. Nicht bloß von gebrochenen Lanzen, auch von gebrochenen Herzen wußten die alten Geschichtschreiber des Herzogtums zu berichten. Freilich, jene kalten Schreiber gingen über das große Liebesleid mit kurzen dürren Worten hinweg, Heinz blieb sinnend an solchen Sätzen hängen. Es war, als ob eine unsichtbare Hand die tiefsten Saiten seiner Seele berührte, er las zwischen den Zeilen, was der Chronist verschwiegen aus der Vergangenheit tönte ihm entgegen das alte Lied von der Liebe, Leid und Klage.

Einmal schritt Heinz von Kerkow, die Büchse über die Schulter gehängt, wieder durch den stillen Wald. Rehe und Hirsche brauchten ihn nicht zu fürchten, denn der Jäger jagte den Bildern nach, die seine Phantasie ihm vorwob. Er setzte sich nieder im Schatten eines Baumes und schrieb in sein Notizbuch ein Gedicht, in dem er sein Innerstes enthüllte.

Es blieb nicht bei dem einen Gedicht. Heinz gefiel sich in diesen poetischen Klagen, bald war ihm der Rahmen eines Gedichts zu eng, er begann, Erzählungen zu schreiben, ergreifende Begebenheiten zu gestalten auf den Schlössern und Burgen, auf den Bergen und Thälern, die er so genau kannte, halb Wahrheit, halb Dichtung war darin enthalten. Rascher als er dachte, wuchsen diese Skizzen zu einem Bändchen an, in dem er gern las und an dem er gern feilte, „Verklungenes Leid“ nannte er das Buch, das ihm lieb und teuer geworden.

Hede erfuhr nichts davon, sie war mit ihren hauswirtschaftlichen Pflichten so beschäftigt, er wollte auch dem fleißigen Mädchen mit solchen Enthüllungen nicht kommen, die praktische Hede arbeitete und er trieb brotlose Künste. Das sagte er sich selbst. Und Toni? Toni hatte keinen Sinn für derartige Sachen. Hin und wieder hatte sie einen leichtgeschürzten französischen Roman aus der Bibliothek verlangt, und als der knappe Vorrat an solchen Büchern bald erschöpft war, kümmerte sie sich nicht mehr um die Bibliothek und nannte ihren Mann spöttisch einen Bücherwurm.

Inzwischen war der kleine Heini zur Welt gekommen. Die Geburt des Kindes machte Heinz glückselig. An der Wiege bei dem schlafenden Kleinen sitzend, schmiedete er Pläne, wie er den Buben erziehen wollte, viel besser als er erzogen worden, ohne Vorurteile – ein Mann sollte er werden, der überall, wo er einst zu stehen berufen sei, den Platz ausfüllte. Sein ganzes Leben und Streben wollte er ausnutzen für das Kind!

Aber vorläufig war das noch nicht soweit, um erzogen zu werden, es schlief gar so viel. Und nun kaufte sich Heinz auf Teilzahlung einen photographischen Apparat. Das war damals, als der kleine Bursche eben anfing, aufrecht zu sitzen und unverständliche Laute von sich zu geben. Heinz richtete sich in irgend einem leeren Winkel eine Dunkelkammer ein und machte oft an einem Tage so und so viel Aufnahmen des Kindes, und immer des Kindes – mit nacktem Hals und bloßen Aermchen im weißen pelzverbrämten Mäntelchen, auf dem vorzeitig angeschafften Schaukelpferdchen, von der Wärterin festgehalten neben dem Leonberger, auf dem Schoß der Mutter und allein in einem Riesenfauteuil. Dann war es so köstlich, wie das Bürschchen wuchs, wie es die ersten Schrittchen that, wie es ,Papa!’ sagte zum erstenmal. – In dieser Zeit war Heinz beinahe glücklich.

Und dann kam das Schreckliche! Der Apparat wurde in die Ecke gestellt, der kleine Krüppel konnte ja nicht photographiert werden. Dieser Tag war der entsetzlichste in Heinz Kerkows Leben gewesen. Der Tag, an dem das Kind verunglückte! Es konnte kein schlimmerer mehr kommen. –

Im vorigen Sommer, an einem furchtbar heißen Augustnachmittage war es gewesen, als Toni, trotz seines Abratens, nach Schloß Arnstein zur Gräfin Arnstein fuhr. Kutscher und Diener hatten mißmutige Gesichter gemacht, ersterer sogar gewagt, von einem schweren Gewitter zu sprechen, das offenbar drohe. Aber Toni hatte gewollt. Diesmal redete sogar Tante Gruber ab – vergeblich. Toni, die sonst so leicht unter Temperaturextremen litt, schien heute, wo alle anderen Menschen unfähig waren, sich zu rühren, völlig normal und kam im hellen Sommerkleid, das trippelnde Kind an der Hand, die Treppe herab, just als Heinz sich vergewissert hatte, daß des heranziehenden Unwetters wegen die Fenster allenthalben durch Läden geschützt seien.

„Du willst doch fahren, Toni?“

„Wie du siehst. Das Gewitter kommt erst heute abend, ich fühle es genau.“

„Aber der Junge bleibt hier,“ hatte er gefordert.

„Nein, er kommt mit, er freut sich schon so – nicht wahr, Heini, Hotto fahren?“

„Du bleibst bei Papa Heini!“ Ein furchtbares Gebrüll antwortete ihm, wie er es von dem Kinde noch nie gehört. Die Jungfer bemerkte: „Das macht die Gewitterluft, er weinte schon immerzu heute, weiß selbst nicht, was er will. Na, sei doch nur gut, sollst ja mit!“ Und sie war, das Kind auf dem Arm, der Mutter gefolgt.

Heinz trat allein in sein Zimmer. Er hätte ja können seine Gewalt geltend machen, aber ihm graute vor den Scenen, bei denen sich Frau Toni wie wahnsinnig zu gebärden pflegte, ihn immer wieder anklagte als den schrecklichsten Pedanten, der allein schuld sei, daß ihre Jugend so verkümmerte. Hätte er sie geliebt, so würde er wohl irgend welche Erziehungsversuche gemacht haben – so war es ihm einfach ekelhaft, er vermied lieber in einer Art Feigheit, die Scenen hervorzurufen. Jeder Todesgefahr, jeder Unannehmlichkeit großen Stils, jeder schweren Sorge hätte er mutig ins Auge gesehen, dem Gekreische der halb unzurechnungsfähigen Frau wich er aus. Jeden Tag fast machte er sich Vorwürfe über diese Feigheit, und würde sie sich machen bis an sein Lebensende, das wußte er.

Ach, so deutlich erinnerte er sich noch an jede Kleinigkeit dieses Tages, der Unruhe, die ihn folterte, daß er von einem Fenster zum andern schritt, um nach dem heraufziehenden Wetter zu spähen. Dann, wie er hinunterging in der bleiernen Hitze, die von keinem Lufthauch belebt war, um die Schwester aufzusuchen! Er traf sie mit heftigem Kopfweh in ihrem eignen Zimmer, das sie sich mit den Sachen aus der Heimat so reizend geschmückt hatte. Sie lag auf dem Sofa, die Aelteste erhielt im Wohnzimmer Klavierunterricht und einzelne schrille Töne drangen bis hier herüber; der Junge machte Schreibversuche auf der Schiefertafel in einer Ecke des Zimmers, die Jüngste spielte mit ihren Puppen.

„Welch ein Wetter, Heinz!“ sagte Hede, „und dabei kommst du herunter?“ Du mußt den steilen Weg wieder hinauf, hast du’s bedacht?“

„Ja, Hede! Laß mich nur ein Weilchen hier; ich habe eine furchtbare Unruhe, Toni ist mit dem Kleinen ausgefahren, und ich fürchte, sie kommt in das Wetter hinein bei der Rückfahrt.“

Hede antwortete nicht, sie kannte ihre Schwägerin, sie kannte ihren Bruder und die ganze Trübsal dieser Ehe.

„Tante,“ rief die Kleine, von ihrem Spielzeug aufblickend, „hörst du, wie’s im Himmel knurrt?“

Es war ein beständiges dumpfes Grollen in den Lüften, manchmal so, daß die Scheiben leise klirrten, und zugleich brach eine wunderliche gelbe Beleuchtung durch die Fenster.

„Aengstige dich nur nicht, Heinz, die alte Gräfin ist viel zu vernünftig, sie läßt Toni nicht fort, bevor das Unwetter vorüber ist.“

„Ja, ja“, war seine zerstreute Antwort gewesen, während er ans Fenster trat und den Platz übersah, der in wunderlich gelber Beleuchtung dagelegen hatte. „Ich will übrigens doch lieber hinaufgehen, man weiß ja nicht, was passiert.“ –

Er hatte ihr die Hand gedrückt und war gegangen. Draußen kam ihm alles verändert vor, die Mauern des Schlosses grell weiß gegen den schwarzen Himmel, wie in phosphorescierendes helles Licht getaucht, die Bäume dunkel und regungslos, nur ein leises Zittern in den Wipfeln als horchten sie angstvoll des kommenden Sturmes.

Heinz war anstatt direkt zum Schloß empor, die große Allee des Parkes entlang gegangen, durch die der Wagen zurückkehren [186] mußte; hart am Rande des Weihers hin zog sich diese herrliche Lindenallee. Es war fast dunkel darin gewesen und völlig einsam. Er hatte sich ganz mechanisch auf eine der Bänke gesetzt und wartete auf das Unglück, das da kommen müßte, wie er sich sagte. Er hatte es im Gefühl und schalt sich darum aus, aber die erregten Nerven kamen eigensinnig auf die Idee zurück, daß dem Kinde etwas zustoßen werde.

Und ehe er es gedacht, war das Wetter losgebrochen; ein rasender Orkan, der ihn gegen einen der hundertjährigen Stämme schleuderte, als wäre der große kräftige Mann ein Rohr; Wirbel von Staub, die ihm das Sehen unmöglich machten und das Atmen benahmen; ein Tosen, ein Heulen und Krachen in den Lüften, wie sich die Volksphantasie den Jüngsten Tag vorstellen mag, dann ein kurzer blendender Schein, ein gewaltiger Donner und Fluten von Regen.

Mit ausgebreiteten Armen hatte er die Linde umfaßt, wie betäubt, dann meinte er durch das Rauschen ein Stampfen und Trappeln zu hören, einen gellenden Hilferuf. Als er vorwärts getaumelt war, hatte er nicht weit von sich im Scheine eines neuen Blitzes ein gestürztes Pferd gesehen, ein zweites sich hochaufbäumend, einen niedergebrochenen Wagen und etwas Weißes unter den Rädern, etwas Kleines, Weißes. Er war hinübergestürzt – er weiß heute noch nicht, wie er dieses Kleine, Weiße gefunden in dem nachtschwarzen Wettergraus, wie er es an sein Herz gedrückt unter dem durchnäßten Rock, wie er vorwärts getaumelt in dem strömenden Regen, ohne sich zu kümmern um das, was hinter ihm zurückblieb, um die nervösen, schrillen Angstrufe der Frauenstimme!“

Sie lebte ja noch – das, was er hier hielt, war starr, war tot, mutwillig vernichtet.

Der Regen war an seinen Kleidern hinuntergeströmt, als er ohne Hut, mit stieren Augen und bleichem Gesicht in das Haus des alten Medizinalrats geschwankt war, und er hatte ihm hingehalten was er gerettet, den kleinen, weichen Kindeskörper, der schlaff und leblos in seinen Armen lag. – „Aus dem Wagen gestürzt, vermutlich überfahren – helfen Sie, retten Sie!“

Eine fürchterliche Viertelstunde verrann, bis das zarte Geschöpf ein Lebenszeichen von sich gab. Ungeachtet seiner durchnäßten Kleider war Heinz nicht von der Seite des alten Herrn gewichen und hatte jede Bemühung des Arztes mit zitterndem Herzen verfolgt. Dann war der Diener erschienen und habe bestellt, Frau von Kerkow habe vor Schrecken Nervenzustände bekommen und lasse bitten, daß der Herr Schloßhauptmann sofort mit Heini heraufkäme.

Heinz antwortete keine Silbe, der alte Herr aber fuhr den wartenden Diener an, die Gnädige solle sich ins Bette scheren und eine Tasse Thee trinken – ob sie den Heini je wiedersehe, das sei zweifelhaft!

Heinz hatte den Arm des alten Arztes gepackt. „Herr Medizinalrat –“ stöhnte er.

„Fassen Sie sich, Herr von Kerkow! – Ich thue, was ich kann.“

Ein paar Stunden später hatte Heinz, in Begleitung des Arztes, das in wollene Decken gewickelte, leise wimmernde Kind den Schloßberg hinaufgetragen, er selbst legte es in ein Bettchen, er selbst wachte bei ihm. Wie ein Rasender war er aufgefahren, als Toni sich hereinschlich, in einen weiten, eleganten Schlafrock gehüllt, bereit, jeden Augenblick in ein exaltiertes Weinen auszubrechen. Mit eisernem Griff packte er sie am Arm und zerrte sie aus der Thür, die er hinter ihr abschloß. Er fühlte, er war brutal in diesem Augenblick, aber er konnte sie hier nicht sehen, angesichts des Jammers, den sie verschuldet hatte. – –

Durch Wochen und Monate pflegte er das Kind, das ihn fast ausgesöhnt hätte mit dem Leben an der Seite dieser Frau – fast, wäre es jetzt gesund geblieben, es nur wieder geworden! Aber die völlige Genesung kam nicht, würde nie mehr kommen, und damit that sich ein Abgrund auf zwischen den Gatten, über den keine Brücke führte. Toni hatte nach jenem Auftritt am Bette des Kindes keinen Versuch gemacht, sich irgendwie die Schuld beizumessen, hatte kein Wort des Bedauerns, der Anklage für sich gefunden. An Entschuldigungen für sich ließ sie es gegen ihre Bekannten nicht fehlen; Heinz gegenüber wagte sie das nicht.

Wie Schatten glitten die beiden Menschen aneinander vorüber.

Sie konnte das leidende, manchmal ungeduldige Kind kaum sehen. Als sie einmal im Zimmer ihres Mannes war, um über irgend eine Angelegenheit, die es unumgänglich notwendig machte, mit Heinz zu reden, trat sie hinter seinen Stuhl am Schreibtisch – neben ihm war kein Platz, da stand das Wägelchen mit dem Kinde. – Sie fragte kurz und bekam kurze Antwort, sie hatte gehen können aber sie wollte noch etwas, nicht mehr und nicht weniger als das, ob Heinz sie auf einen Maskenball in Brendenburg, der nächsten preußischen Kreisstadt, begleiten werde, den die dortigen Kürassieroffiziere veranstalteten und auf den sie schlechterdings nicht allein gehen könne! Es mußte ihr viel daran liegen, denn sie bat um sein Mitkommen.

Er wandte sich um und sah sie empört an. „Ich bin angesichts dieses“ – er deutete mit der Hand aus das Kind – „nicht im stande, auf Bälle zu gehen!“

„Mein Gott,“ sagte sie eisig, „es ist ja ein großes Unglück, aber man kann doch deshalb nicht sein Leben lang Trübsal blasen.“

„So geh’, wenn du diese Ansicht hast!“

„Ich kann nicht allein gehen, das weißt du; du bist verpflichtet, mich zu begleiten.“

„Ich fühle mich verpflichtet, bei dem armen Geschöpf zu bleiben, das du in deinem Eigensinn zu einem schrecklichen Leben verdammt hast. Eine weitere Pflicht kenne ich vorläufig nicht!“

Der kleine Kranke mochte sich erschrecken vor den strengen Worten, er fing laut zu kreischen an. Tonis heftige Erwiderung ging unter in diesen kreischenden Tönen. Da sprang sie mit funkelnden Augen neben das Kind und schrie ihm ein gellendes „Ruhig!“ zu, indem sie auf das abgemagerte Händchen schlug.

In namenlosem Schreck verstummte das Kind, die großen Augen wurden starr und verschwanden fast unter den Lidern; das ganze Gesichtchen zuckte wie im Krampf. Aber gleich einem gereizten Tiger sprang Heinz auf, erfaßte sie an der Schulter und rüttelte sie wie einen jungen Baum. „Du! Du!“ stieß er hervor, „bist du denn ein Mensch, bist du denn ein Weib?“ Dann ließ er sie los, daß sie schwankend und stumm auf den Teppich sank, warf sich vor dem Bettchen auf die Kniee, ballte die Fäuste vor seiner Stirn und brach in ein leidenschaftliches Schluchzen aus.

Am Abend erst löste sich der Krampfanfall bei dem Kleinen. Heinz Kerkow aber vergrub fortan die Sehnsucht nach dem Leben, nach Freiheit, nach all dem Schönen, Großen, was er einst vermißte, tief in seine Brust.

In dieser Leidenszeit konnte er nicht mehr arbeiten. Mehr und mehr sah er ein, daß sein Junge ein Krüppel zeitlebens bleiben würde. Er war für keinen ordentlichen Beruf mehr tauglich; er brauchte nur einen Wärter und Pfleger. Dieser Gedanke trieb Heinz von seinem Schreibtisch, von der Arbeit an seinem neuen Werke fort an das Bettchen seines Kindes.

Dann, eines Tages, der trüb und regnerisch anhob, kam eine neue Prüfung. Es erschienen Leute mit Wagen und Kisten, um die Bücherei von Breitenfels nach der Residenz überzuführen. Heinz sah, wie die Bücher verpackt wurden, und es war ihm, als ob man vor seinen Augen liebe, gute Freunde einsargte. Er mußte alle Kraft aufwenden, um sich zu beherrschen um nicht zu weinen wie ein Knabe.

Als er einige Tage darauf durch die leeren Bibliotheksräume schritt, fühlte er, daß es auch in seinem Inneren öde und leer geworden war. Halb Wahrheit, halb Dichtung waren seine ersten Schriften, auf geschichtlichen Studien waren sie gegründet. Ohne diese Quellenwerke, die man ihm weggenommen, konnte er nicht weiter schaffen.

Warum auch mußte das Schicksal immer und immer ihn so hart treffen! In der Jugend hatte er auf seine Neigungen verzichten, seine erste wahre Liebe hatte er aus dem Herzen reißen müssen, um sich nutzlos für Mutter und Schwestern zu opfern! Das schien überwunden, in seinem Kinde wollte er aufleben – vergebens! Das Verhängnis verfolgte ihn – was sollte er weiter gegen diese finstere Macht ringen?

Er existierte nur noch für den kleinen krüppelhaften Jungen, der ihm alles war in diesem Dasein. Wenn der sterben sollte, dann – dann wollte er auch nicht weiter leben. Er nahm kaum noch teil an dem, was draußen passierte in der Welt, öfter blieben die Zeitungen unberührt; er ging nicht mehr, wie [187] anfangs, nach dem Gasthof ins Klubzimmer – er saß bei Heini. Unermüdlich schnitzelte er Spielzeug zurecht für ihn, erzählte ihm Geschichten, und neulich hatte er die Idee gefaßt, er wollte den kleinen Kranken malen, inmitten der blühenden Büsche und junggrünen Blätter des Lenzes.

So lebte er dahin. Er wußte, daß seine Frau viel ausfuhr, er bekümmerte sich nicht darum. Er wußte, daß der Herzog im letzten Herbst gesagt hatte. „Der Kerkow ist total versimpelt, die Frau thut mir leid, die hat sich herausgemacht, ist ganz nett geworden. – Ja, der Herzog hatte recht, er war versimpelt, und Toni war aufgeblüht, er sah es ja auch, aber es machte keinen Eindruck auf ihn.

„Er ist verrückt,“ pflegte Frau Toni zur Tante Gruber zu sagen, „er ist ein Pedant! Mir könnt’s wahrhaftig auch lieber sein, ich wäre damals nicht ausgefahren, aber nun’s geschehen ist, kann ich’s doch nicht ändern, und wollte ich mir die Haare einzeln ausreißen! Und so dachte sie auch jetzt wieder, als sie in Begleitung einer der Arnsteinschen Komtessen in der spitzbogigen Pforte des Schloßhofes erschien, die auf die Terrasse führte. Die Komtesse hatte Besorgungen gemacht in der Stadt und war zu ihrer lieben Frau von Kerkow auf einen flüchtigen Besuch gekommen; sie brachte einen kleinen chinesischen Drachen an langem Faden mit für Heini. Toni, in einem Kleide aus zartblauem Leinen mit seidenen Aermeln derselben Farbe und breitem Spitzenkragen, war allerdings nicht zum Wiedererkennen gegen früher, wären nur die blassen kalten Augen nicht gewesen. Als sie Heinz erblickte, wurden sie noch kälter und härter.

Die Komtesse war ein liebenswürdiges Geschöpf, sie hatte ein Verständnis für das, was dieser Mann litt, der ihr einige Schritte entgegentrat. Sie nahm nach ein paar freundlichen Worten einen Stuhl ihm gegenüber und begann irgend eine Plauderei. Sie war mit Papa in Berlin gewesen, hatte eine Parade gesehen, und von dort war man nach Dresden gekommen, wo sie in Musik geschwelgt habe. „Und denken Sie sich, Herr von Kerkow, denke dir, liebe Toni – ihr erinnert euch gewiß noch der kleinen Aenne May, der Tochter von unserem alten Medizinalrat? Na, ja, die habe ich singen hören – großartig! Herrgott, die Dresdner waren ganz Mayverrückt! Natürlich interessierte es mich, das Nähere zu erfahren; ich las am andern Morgen im Hotel das Adreßbuch nach, machte mich auf die Sohlen und besuchte sie. – Ich stieg vier Treppen hoch in ein niedliches Mansardenquartier, ein ganz junges Dienstmädchen öffnete, doch leider war Fräulein May nicht zu Hause. Eine alte weißhaarige Frau aber erschien und lud mich ein, näherzutreten, und wie sie hörte, ich sei eine Landsmännin ihrer Nichte, flossen ihr Lippen und Augen über. So ein Glück – der Theaterintendant hatte sie vom Fleck weg für die Hofbühne haben wollen, aber sie will nur Konzertsängerin sein – denkt euch – solche Anerbietungen nach ihrem ersten öffentlichen Auftreten! Unmassen von Verpflichtungen ist die Aenne eingegangen, bis nach Petersburg hinauf, und doch hat sie zwei große Konzerte abgesagt, weil sie drüben in Brendenburg singen will zum Sängerfest. „Ich glaube,“ schaltete die Komtesse ein „es ist Ende des Monats.“

Die Eltern sollten sie doch auch ’mal hören, meinte die Tante, und die Lehrer vergötterten die Aenne; so eine herrliche volle Stimme, ein solch eiserner Fleiß, solch wahrhaftes Streben aber auch! Na, kurz, ich sage Ihnen, meine Herrschaften, ich schied ganz gerührt aus dem kleinen trauten Mansardenstübchen und dachte so bei mir, da hast du doch ’mal das Glück leibhaftig gesehen, ein Glück wie im Märchen – sie wachte auf und war berühmt!“

Heinz sah starr in die Ferne hinaus, die im leuchtenden Schimmer der untergehenden Sonne lag. „Wie im Märchen!“ sagte er zu sich. „Glück zu, kleine Aenne! Der eine so – die andere so!“

„Ich war vorhin in der Buchhandlung, um mir das Lied abzuholen, das ich neulich schon bestellte,“ fuhr die Komtesse fort. „Aenne May sang es im großen Konzert des Dresdner Gewerbehauses, aber der Mann kannte es nicht, hatte auch nichts erfahren können, im Druck sei es nicht erschienen; Kennen Sie es vielleicht zufällig, Herr von Kerkow? Ein paar Strophen sind mir noch gegenwärtig:

,0 du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain –’“

Er lächelte trübe. „Ich kenne es,“ sagte er leise.

„Auch das Gedicht war mir fremd. Von wem mag es sein?“ forschte nun die Komtesse.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete er. Er hätte um die Welt nicht eingestanden, daß er der Dichter war.

Doch vor seinen Augen stand wieder das Bild eines in Glut getauchten Sommerabends, er hingelagert ins Heidekraut auf der Lichtung und sie daneben, in das Rot und Violett der Ferne schauend, die Arme um die Knie geschlungen, die reinste Andacht in dem jungen, schönen Antlitz. – „Da!“ hatte er plötzlich gesagt und ihr ein rasch beschriebenes Blatt hingereicht, das er aus dem Notizbuch gerissen. Und sie hatte es gelesen. Er wußte nicht, war’s die Sonne, die ihre Wangen plötzlich so purpurn färbte, oder das rote, warme, verräterische Blut?

Und dann sang sie es nach ihrer Lieblingsmelodie, die sie einst selbst gefunden. Und die Sonne ging unter …

„Kann man in das Konzert gehen?“ fragte Toni mit ihrer klanglosen Stimme.

„Natürlich, Toni – wir werden alle da sein. Soll ich dir einen Platz bestellen neben uns? Oder gehst du mit deinem Manne?“

„Ich? Nein! Ich bedaure, ich nehme nicht teil“, sagte er, unartig kurz und bestimmt.

„Wie immer!“ erklärte Toni mit einem verständnisvollen Blick zur Komtesse, der soviel bedeutete: Da siehst du, welch’ ein Los mir beschieden! „Also, seien Sie so gut, liebste Feodora, und bitten Sie Ihre Mutter, daß sie sich einer schutzlosen Frau annimmt bei dieser Gelegenheit. Ich muß leider Ihre Güte so oft in Anspruch nehmen.“

Die Komtesse schwieg und sah forschend in die blassen Züge des Mannes und von da hernieder auf das Kind, und sie glaubte, ihn zu verstehen. „Adieu, Herr von Kerkow“, sagte sie mit besonders herzlicher Betonung und reichte ihm die Hand. „Mein Wagen wartet drunten vor dem Parkthor, und Sie werden denken, daß Ihr Jungelchen zu kurz kommt, wenn ich Sie noch lange vom Plaudern mit ihm abhalte. – Leb’ wohl, kleiner Heini, vergiß die Tante nicht! Was soll ich dir denn das nächste Mal mitbringen?“

Aber das Kind bewegte leise abwehrend den blonden Kopf. „Ich danke – nichts,“ sagte es.

„Recht höflich!“ lachte Toni auf, „das macht die Erziehung von Heinz. – Warum denn nicht, du kleiner Grobian? Hast du dich nicht gefreut über das schöne Spielzeug dort?“

Der kleine Kranke gab den Blick der ärgerlichen Mama groß und verwundert zurück. „Das bunte Papierding“, sagte er, „das kann fliegen und sieht so fröhlich aus, und ich bin doch ein lebendiger Junge und – kann’s nicht. Ich mag’s nicht sehen.“

Toni drehte sich achselzuckend um, sie verstand nicht die furchtbare Bitterkeit und Schärfe, die aus den Worten sprach.

Um den Mund der Komtesse zuckte es wie verhaltenes Weinen, sie nickte noch einmal hinüber zu Heinz, der mit tiefer Verbeugung Abschied nahm, dann ging sie neben Toni über die Terrasse und verschwand hinter den Jasminbüschen. Heinz aber bog sich hernieder und strich über die bleiche Stirn des Kleinen. „Nicht bitter werden, Liebling, nicht bitter werden,“ murmelte er kaum verständlich. „Und wir haben uns doch lieb, was?“

„Ja, Papa!“ antwortete der kleine Kranke.

Und Heinz schob nun vorsichtig das Wägelchen der Spitzbogenpforte zu, die auf den Schloßhof führte, und bis vor das Portal des jenseitigen Flügels, hob dort das gelähmte Körperchen behutsam aus den Kissen und trug es in die Wohnung hinauf.

An der Schloßwache stand der seit einigen Wochen herkommandierte Lieutenant und sah sich alles mit an. Dann schlenderte er langsam über den Platz, betrat die Terrasse, die Heinz eben verlassen hatte, wandte sich rechts und ging in den Herzogingarten hinunter, setzte sich in eine fast dunkle Aristolochienlaube, lehnte sich zurück und wartete auf irgend etwas. „Hol’s der Teufel, man kommt vor Langerweile auf dergleichen“ murmelte er. Er war ein hübscher Mensch mit einem geistlosen Durchschnittsgesicht und stattlicher Figur, augenblicklich aber entschieden schlechter Laune. Plötzlich verzog sich das Gesicht zu einem süßlichen Lächeln. „Aha!“ sagte er halblaut.

Ein eiliger, kurzer Frauenschritt erklang, das Rauschen eines [188] mit Seide abgefütterten Kleides, und in den Eingang der Laube trat eine blonde Frau im blauen Leinenkleid mit seidenen Aermeln derselben Farbe.

„Sie hier, Lieutenant Grellert?“ fragte sie mit gut gespieltem Erstaunen.

„Pardon, wenn ich störe, gnädige Frau,! antwortete er, „ich – befehlen, gnädige Frau, daß ich mich entferne – oder –“

Er durfte bleiben. Und derweil brachte Heinz mit Hilfe des Dienstmädchens den kleinen Kranken zur Ruhe und saß dann, auf seine Frau wartend, im Eßzimmer am Fenster, der Tisch war gedeckt, unter dem Theekessel zuckte die bläuliche Flamme. Tante Gruber kam herauf in einem der schwarzen Damastkleider, die sie von der Herzogin geerbt hatte und jetzt auftrug für täglich. Sie raschelte leise umher im Zimmer, that zuweilen einen Blick auf die Uhr und unterdrückte ein verstohlenes Gähnen. Heinz merkte nicht, wie spät es war, wußte nichts von der Gegenwart, er sah nur eine liebliche schlanke Mädchengestalt und hörte ihre süße Stimme:

„O Sonne, o Liebe, wie kalt ohne euch!“

Was wußte er damals von der Wahrheit dieser Worte! War es ein Ahnen kommenden Unglücks gewesen, das sie ihm eingab?

Dann flog die Thür auf und Toni trat ein. „Feodora hatte noch soviel zu schwätzen“, entschuldigte sie sich atemlos, bevor noch jemand sie anklagte. Dann saß man schweigsamer als je zu Tisch, denn Tante Gruber, die sonst mit der jungen Frau allein sprach, bekam heute kaum eine Antwort von ihr.

[201] Der Mai ging vollends vorüber, wunderbar schön mit seinen Blütendüften, seinen warmen, dunklen vom Gesange der Nachtigallen durchtönten Nächten. Sie schlugen so laut und sehnsüchtig, daß der Mann da oben auf seinem Lager, neben dem das Bettchen des Kindes stand, nicht schlafen konnte, und daß, wenn er endlich schlief, allerhand süße liebliche Träume über ihn kamen, die er einst wachend hatte erleben wollen.

Auch im Garten der Oberförsterei sangen sie in langgezogenen schmelzenden Tönen, die Nachtigallen, dicht vor Hedwig Kerkows Stube in den Haselnußsträuchern. Die Kinder nebenan schliefen süß und fest, aber sie wachte und saß halbe Nächte am Fenster und dachte an Heinz da droben und weinte um ihn, und wußte gar nicht, daß sie auch über sich selbst weinte in unruhigem nicht verstandenem Leid. Auch heute wieder erging es ihr so, zwei Tage vor dem Musikfeste, das bereits die ganze Stadt in Aufregung hielt. Eigentlich war es ja thöricht, daß sie weinte, sie konnte damit Heinzens Schicksal nicht ändern, und sie selbst – sie hatte es doch eigentlich recht gut getroffen im Leben, sie hatte ein Heim, eine Stellung, in der sie absolute Freiheit genoß; der Hausherr begegnete ihr mit derselben achtungsvollen Herzlichkeit, mit der er sie am ersten Tage ihres Eintritts empfangen. Ein- bis zweimal hatte er auch ein paar verlegene Dankesworte für sie gehabt, damals, als sie die Kinder Tag und Nacht pflegte während der bösen Scharlachepidemie. Nur ein Gemurmel war’s gewesen, ein [202] Händedruck, aber die Augen waren ihm feucht dabei geworden. Im übrigen glich er einem Automaten und saß drüben in seinem Bau, wie er scherzweise seine Stube nannte, nach wie vor allein. Nur so gegen Abend, in der Dämmerung, kam er herüber in das Wohnzimmer, setzte sich still in eine Ecke des Sofas und lauschte dem Klavierspiel Hedwigs. Sie war keine Virtuosin, sie klimperte eigentlich nur, aber ihr Anschlag war weich und zart, und die Stimmen der Kinder jubelten so hell und frisch, und der weiche Alt des Mädchens klang anmutig dazwischen, wenn sie die alten Volkslieder sangen, die er schon von seiner Mutter gehört, den „Jäger aus Kurpfalz“, den „schönen grünen Jungfernkranz“ und „Ueber der Heide schimmert es rot“.

Noch bevor die letzten Töne verhallten, pflegte er wieder zu verschwinden. So lebte er dahin, schien nichts zu vermissen und zufrieden zu sein in diesen wunderlich stillen Gewohnheiten. Und wenn ihm Hede des Morgens heimlich nachblickte, wie er, die Büchse über der Schulter, in den Forst schritt, so aufrecht und kernig wie die Eichen im Walde oder Schlag, auf die er so stolz war, dann mußte sie ihn unwillkürlich mit Heinz vergleichen, den die letzten Jahre gebeugt hatten, als stehe er bereits an der Schwelle des Alters – armer Heinz!

Hede ging selten hinauf; zwischen ihr und der Schwägerin und Tante Gruber hatte sich das Verhältnis in nichts gebessert. Er war ihr eine Qual, dieser Besuch, wenn er einmal sein mußte, zu seinem Geburtstage, oder dem des kleinen Heini. Sie kam immer todunglücklich zurück und brauchte Tage, um sich zu beruhigen. In der Stadt war die unglückliche Ehe das Gespräch aller bösen Zungen, männlichen und weiblichen Geschlechts. Infolgedessen hatte sich Hede, die anfänglich, durch Heinz und den Oberförster veranlaßt, bei einigen Damen – der Superintendentin, der Frau Oberamtmann und Frau Medizinalrat – verkehrte, ganz zurückgezogen. Nur zu der letzteren pflegte sie mitunter einmal hinüberzuhuschen ;die Frau erregte ihr Interesse, sie war so vorsündflutlich und so originell in ihren Urteilen und Ansichten, und sie trug an irgend einem schweren Kummer. Sie wirtschaftete dabei emsig in dem schmucken Häuschen, und wenn sie unten fertig war, fing sie oben wieder an und war nicht zufrieden, wenn sie das heimlich lachende kleine Dienstmädchen nicht ausschelten konnte.

Frau Rat hielt noch immer mit Vorliebe Mädchen, die letzte Ostern konfirmiert worden waren, diese das Wirtschaften zu lehren auf eine so energische Art, daß den armen Dingern vor Angst die Augen übergingen, sie umher zu jagen, daß sie „Schuh und Pantoffel verloren“, das gehörte zur Lebenslust für sie. Wenn sie von ihrer Tochter sprach, dann seufzte sie. „Ach Gott, das ist doch kein Leben für ein richtiges Frauenzimmer,“ hatte sie erst vor kurzem zu Hedwig gesagt, „den ganzen Morgen Singübungen und wieder Singübungen machen, und selbst beim Ausruhn noch Lungengymnastik treiben, wie sie’s nennen, und mittags sich halb satt essen und abends in die Fleischerläden gehen und ein viertel Pfund Aufschnitt kaufen, wie sie schreiben – o lieber Gott, man sah’s ja auch; als sie im letzten Sommer uns besuchte, war sie ganz abgemagert.“

Auch heute früh war Hede drüben gewesen und Frau Rat hatte gerade toller im Hause umhergescholten als je; aber in ihrem Gesicht lag so etwas Eigenes, die vollen Wangen waren ganz blaß, um den Mund zuckte es; sie stand vor dem Wäscheschrank und suchte ihre feinsten Leinenbezüge, ihre schönsten Damastgedecke aus.

„Sie müssen entschuldigen, Fräulein von Kerkow,“ sagte sie zu Hede, „um sieben Uhr können sie schon hier sein, die Aenne und die Emilie, und bis dahin giebt’s noch massenhaft zu thun. Das alberne Ding, die Line, kann ja nicht einmal eine Taube rupfen und so was Dummes von Benehmen beim Spargelstechen hab’ ich noch nicht gesehen! Und glauben Sie wohl, daß sie imstande ist, eine Guirlande zu winden? – Alles muß man selbst machen. Aber gehen Sie nur ein bißchen hinein zu meinem Mann, der liest die Festzeitung, da steht ganz was Großmächtiges drin über die Aenne!“

„Frau Rätin, das kann ich zu Hause lesen, jetzt helfe ich Ihnen Kränze winden,“ sagte Hedwig. „Wo ist das Grün? Wo sind die Blumen?“ Und es dauerte nicht lange, da saß sie draußen vor dem Küchenfenster auf der Bank und wand eine Guirlande aus dunklen Tannenreisern mit zartgrünen Spitzen, und die roten Päonien drin nahmen sich aus wie die herrlichsten Rosen. Vor ihr aber stand der alte Medizinalrat und hinter ihr schaute die Frau Rat aus dem Küchenfenster, und hinter jener wieder lauschte das „Ostermädchen“, denn der Herr las aus der Zeitung vor. Hede wußte noch jedes Wort, obgleich nach den meisten Sätzen ein Räuspern und Schlucken in der Kehle des alten Herrn gewesen war und obgleich die Frau hinter ihr alle Augenblicke die Nase schneuzte und bei allzu begeisterten Ausdrücken sagte. „Nun – nun, May!“ – Worauf er antwortete: „Ich hab’s doch nicht geschrieben, Mutter!“

Ein Stern am Himmel der Kunst wurde sie genannt, eine Sängerin, der eine verheißungsvolle Zukunft winke. Ihre tiefe Auffassung, ihre Innigkeit, die Klangfülle der Stimme seien einzig, und man bedaure nur, daß das junge Mädchen eigensinnig darauf beharre, die Bretter, die die Welt bedeuten, nicht zu betreten. Es sei doch gewiß phänomenal, daß eine unbekannte Konservatoristin mit einem ersten Auftreten solchen Sturm der Begeisterung erregt habe, und man hoffe bestimmt, daß es den Ueberredungen des Intendanten einer unserer ersten Hofbühnen gelingen werde, sie zur Bühnenlaufbahn zu bewegen.

Sie waren dann alle Drei stumm geworden nur der Herr Rat hatte nach einigen Minuten gesagt: „Und das ist unsere Aenne – Alte – unsere Aenne!“ Die Mutter aber fand keine Antwort, sie zog sich still weinend vom Küchenfenster zurück.

Und Hedwig hatte den ganzen Tag an dieses Mädchen gedacht, der das Schicksal so Herrliches in den Schoß geworfen, ein großes Talent, Jugend und Schönheit. Lieber Gott, wenn sie jetzt hier lebte als Günthers Weib – eine Nachtigall im Käfig!

Nun war sie wohl schon angekommen im Vaterhause und schlief in ihrem kleinen Mädchenstübchen den süßen Schlummer ihrer Kindertage. – Ob sie an den Mann dachte, dem sie ihr Wort gebrochen hatte?

Ach, Aenne schlief so wenig wie Hedwig Kerkow und wie Heinz neben dem Bettchen des Kindes. Auch sie stand am Fenster, und ihre Augen hingen am Schlosse droben wie gebannt. Sie war heimgekommen mit einer ganzen Last von Glück, mehr als sie zu hoffen gewagt; noch faßte sie es selber nicht, noch lehnten sich ihr Zartsinn, ihre Bescheidenheit förmlich auf gegen die Lobposaunenklänge, die ihr von überall entgegentönten, und in dieser Stille, in dem Zauber der Abgeschiedenheit meinte sie, es sei alles ein Traum und sie stehe hier wie damals, in der einzigen glücklichen Zeit ihres Lebens, und schaue nach dem Lichtlein empor, das ihres Daseins Stern bedeutet hatte.

Ach ja, sie war nicht imstande gewesen, das zu vergessen, immer und überall hatte die Erinnerung daran sie verfolgt. Der dumpfe Schmerz zwar war milder geworden da draußen in der Fremde, im heißen Ringen nach dem großen Ziel, aber er brannte stetig fort, sie fühlte ihn beständig. Wie mochte es Heinz ergehen? Und ob sie ihn hier wohl einmal sehen würde?

Erst gegen Morgen schlief sie ein und war doch vor Tau und Tag wieder munter, und als vor ihrem Fenster die heimatliche Welt im lachenden Frühsonnenschein lag, so grün, so frisch, so lieb und vertraut – als die herrliche erquickende Bergluft sie so wohlig umfächelte, wie sie den Kopf hervorstreckte, da hielt sie es nicht länger, sie zog ihr graues einfaches Reisekleidchen an, setzte den alten Gartenhut, der noch von damals hier hing, auf das eilig frisierte Haar und schlüpfte aus dem Hause in den Schloßgarten hinüber. Und hier schritt sie in die alten abgeschiedenen dämmerigen Gänge hinein, die sie so geliebt, auf denen sie ihre jungen seligen Liebesgedanken und dann ihren Gram spazieren geführt; die Wege am Wildgatter hin, auf denen sie mit Jeannette Hochleitner gewandert war, um von der Kunst zu reden.

Sie war im Umsehen drüben an den Stallgebäuden vorbeigeschritten und nun stand sie tiefatmend in der dämmerigen, berühmten Lindenallee des herzoglichen Gartens. Ach, das war schön – das war schön daheim! Und so einsam, so köstlich einsam! Wie hatte sie bei ihrem angestrengten Leben in Dresden den Umgang mit der Natur vermißt, wie hatte sie den Waldesodem entbehrt droben im vierten Stockwerk der Christianstraße! Und da war noch die beste Luft, da kam sie vom „Großen Garten“ herüber, und im Frühjahr brachte der Wind wirklich zuweilen einen schwachen Hauch von Syringenduft mit, der sie dann fast krank machte vor [203] Heimweh. Ja, schwere Jahre hatte sie hinter sich, die kleine Aenne May! Oftmals war es knapp, ganz knapp bei ihnen zugegangen da droben in der Mansarde, denn Tantens Kapitalien und ihre geringe Witwenpension wollten sich der Großstadt doch nicht ganz gewachsen zeigen, und Aenne war doch recht sehr an die Fleischtöpfe der guten Mutter gewöhnt, ihr junger, ungeduldiger Magen mußte ebenso entsagen lernen wie ihr Herz. Aber geschadet hatte es ihr nichts! Sie war noch gewachsen, sie trug ihre schöne Figur kraftvoll aufrecht, und wenn auch das Gesicht nicht mehr so kinderhaft gerundet erschien, so war es dafür desto edler und reizvoller geworden. Und der Medizinalrat hatte recht, als er zu seiner Frau sagte: „Ist bildhübsch geworden, die Aenne – schlägt meiner seligen Mutter nach, Alte!“

Die „Alte“ gab das gutmütig lächelnd zu. Von ihr hatte Aenne allerdings die Reize nicht, von der kleinen, kugelrunden, etwas stumpfnäsigen Frau Rat.

Und Aenne schritt dahin und nickte jedem Baume zu, den Linden, den Rotbuchen den Hängeweiden am Teich. Das zahme Reh kam wie sonst auf ihr Rufen heran. „Liese, bist du’s denn wirklich noch?“ fragte sie gerührt, als das Tier sie anblickte aus den braunen, zutraulichen Augen. Alles wie sonst, und so schön, so schön!

„Morgen bringe ich dir etwas mit“, sagte sie laut, „und deinem Hans auch. Lebt denn dein Hans noch? Und wo sind denn deine Kinder?“ Aber Liese sah sie nur stumm und groß an.

Ach ja, sie hätte immer fragen mögen, wie ist’s euch ergangen seither und – habt ihr den Heinz nicht gesehen, den Heinz Kerkow? Aber nach ihm wagte sie niemand auszuforschen. Mitunter hatte sie auf den Rand ihrer Briefe an die Eltern, einem mächtigen Drange nachgebend, gekritzelt, „Wie geht es denn eigentlich den Kerkows? Sind sie noch in Breitenfels?“ Aber sie hatte sich nicht entschließen können, diese Briefe abzusenden, hatte die Stelle entweder so gründlich ausgestrichen, daß keiner auch nur einen Buchstaben hätte entziffern können, oder hatte das Streifchen abgeschnitten. Geschrieben hatte ihr niemand über Heinz, über ihn nicht und über Günther nicht. Als sie vor drei Jahren, das einzige Mal während ihres Studiums, hier war in der Weihnachtszeit, hatte sie wohl von ihm sprechen hören, damals war er also noch dagewesen. Sie hatte auch erfahren, daß Hedwig Kerkow die Hausdame des Oberförsters geworden sei, gesehen hatte sie weder den einen noch den andern, und sich näher nach Heinz zu erkundigen, das litt ihr trotziges Herz nicht.

Es wurde ihr plötzlich heiß, sie nahm den Hut vom Kopfe und ging, ihn lässig in der Hand haltend, gesenkten Hauptes weiter. Auf den weiten Rasenflächen hatte man das erste Gras geschnitten, wunderbar harmonierte der Duft mit der ganzen Frühlingsstimmung. So war sie, ohne acht darauf zu haben, zum Luisenschlößchen emporgestiegen und wollte, wie sonst, daran vorüberschreiten, um in den Weg zu gelangen, der an der äußersten Grenze des Parkes hinlief. Da blieb sie verwundert stehen. Der alte, halbzerfallene Bau war renoviert, frisch gestrichen, schaute er gar schmuck aus den dunklen Tannen heraus, die ihn im Halbkreise umstanden. Das Erdgeschoß schien bewohnt, es leuchteten schneeweiße Gardinen hinter den kleinen Scheiben der hohen Fenster. Ein Frauenkopf erschien dort einen Augenblick, Aenne flüchtig musternd, sonst auch hier alles spukhaft still. Ueber den frisch abgeschütteten Kiesplatz lief eine schmale Räderspur und verlor sich nach dem Garten zu, der, durch ein ganz neues Gitter eingefriedet, erst neuerdings geschaffen sein mußte, als Haus- und Privatgärtchen der Schloßbewohner.

Aenne ging der Räderspur nach und lugte über das Staket. Unter der großen Buche, die eine neugezimmerte Laube in der rechten Ecke des Gartens beschirmte, stand das Wägelchen, dessen Spur sie gefolgt, eigentlich ein fahrbares Krankenbettchen, ein kleiner Sonnenschirm ohne Stiel hing darüber. Aus den weißen Kissen aber sah ein gelbliches Kindergesicht, um das sich goldblonde, weiche, seidige Härchen krausten. Zur Seite kniete eine Person, die dem kranken Geschöpfchen eine Tasse schäumiger Milch an die Lippen hielt. Die Finger des Kinderhändchens, welche die Tasse hielten, waren unheimlich abgezehrt und durchsichtig.

„Nun, wird’s bald, Heini?“ fragte die rotbackige Person barsch, „man bekommt ja blaue Flecke von dem ewigen Knieen.“

Das Kind hörte sofort auf zu trinken, schob die Hände der Wärterin mitsamt der Tasse zurück und drehte das Gesicht auf die andere Seite, ein armes, blasses, geduldiges Kindergesicht. Aenne sah, wie sich die Person erhob, und hörte, wie sie schalt. Dummer Junge, wenn du nicht so ein erbärmliches Häufchen Unglück wärst, kriegtest du ordentliche Fingerklapse, abscheulicher Bengel du!“

Aenne fühlte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Sie war im nächsten Augenblick im Garten und stand wie hingezaubert vor dem erschreckten Mädchen. „Wem gehört das Kind?“ stieß sie hervor, entschlossen, es den Eltern mitzuteilen, wie der kranke Liebling behandelt werde in ihrer Abwesenheit. Sie nahm bestimmt an, daß das Kind irgend einer Berliner oder Magdeburger Familie gehöre, die der schönen Luft wegen mit dem kleinen Patienten Breitenfels aufgesucht haben.

Die Person antwortete nicht, halb trotzig, halb verlegen schaute sie die schöne Dame an, die da so strafend vor ihr stand.

„Wie heißt du denn, mein Kleiner?“ fragte Aenne, sich zu dem Kinde niederbeugend. „Wohnst du denn hier?“ Und sie strich über die goldigen Härchen.

„Heini Kerkow,“ sagte das Kind, und als Aennes Hand zuckte, fragte es. „Hast du dir wehgethan!“ „Nein!“ antwortete sie mit versagender Stimme und kniete neben dem Wagen. „Nein, Heini!“

„Und warum weinst du denn?“ forschte das Kind weiter.

„Ich weine ja nicht, mein lieber Junge, ich freue mich, dich zu sehen. Soll ich dir jetzt deine Milch geben?“

„Ja!“ antwortete der Kleine.

Sie befahl, den Becher frisch zu füllen, stützte das matte Köpfchen und ließ ihn trinken. Ganz langsam, in kleinen Schlückchen nippte das Kind und Aenne kämpfte mit ihrer Erschütterung. – Das war Heinz Kerkows Kind!

„Danke!“ sagte der kleine Bursche endlich ganz artig und blickte sie aus den unnatürlich großen Augen an, wie verwundert ob dieser Freundlichkeit.

„Heinichen muß jetzt nach Hause,“ erklärte die Wärterin, rot vor Aerger, und trat hinter den Wagen, „sein Papa kommt uns alle Morgen bis zur steinernen Bank entgegen. Er ängstigt sich, wenn wir nicht pünktlich sind.“

„Adieu, mein lieber Junge!“ sagte Aenne weich, und noch vor dem Gefährt verließ sie den Garten. Ihr war auf einmal, als sei der Himmel nicht mehr so blau, die Sonne nicht mehr so golden angesichts dieses Leids. Ihre innige Heimatsfreude, ihre jubelnde Dankbarkeit war verschwunden, ihr rosiges Gesicht erblaßt. Ihre Augen sahen wie fragend in die grüne Wirrnis – warum läßt Gott es zu, daß in dieser herrlichen, frühlingsseligen Welt ein armes unschuldiges Geschöpf so leidet?“ sprach es aus ihnen.

Und dann stockte ihr Fuß. Sie war so hastig weiter geschritten, daß sie gar nicht gemerkt hatte, wie sie schon in um mittelbarer Nähe des „Theepavillons“ stand. Das kleine, aus Brettern im japanischen Stil geformte Häuschen, das ganz am Ende des Parkes lag, verdankte sein Entstehen und seinen Namen dem verstorbenen Herzog, der im Beginn seiner Krankheit hier in der Einsamkeit stundenlang zu weilen pflegte. Das Innere der Hütte barg damals in einem Wandschränkchen die Gerätschaften und Ingredienzien zur Herstellung einer Tasse Thee, die der Herzog sich selbst zubereitete. Als diese Marotte einer andern wich, veränderte das zierliche Tempelchen mit seinem seltsam geschweiften Dache, und außer einem Gartenarbeiter, der vielleicht seine Mittagsruhe darin hielt, besuchte es sonst höchstens noch Aenne gelegentlich ihres Umherstreifens.

Heute klangen Stimmen heraus. Ein mißmutiges. „Gut, wir werden ja sehen – Adieu!’ und aus der Thür flog wie ein Schmetterling eine zierliche, kleine Frauengestalt in lichtblauem Kleide und lief, den abwärts führenden Pfad hinunter, dem Teiche zu. Die Sonnenstrahlen huschten über das flachsblonde, zu einem Knoten am Hinterkopf aufgesteckte Haar, dies ausdruckslose Haar, das Aenne so genau kannte, das sie zuletzt unter dem bräutlichen Schleier schimmern sah, als Heinz Kerkow Hochzeit hielt.

„Toni Ribbeneck – Toni Kerkow!“ flüsterten ihre Lippen.

Und hinter dieser Frau trat, noch immer lachend und den Schnurrbart streichend, ein blonder Offizier heraus und schritt ihr langsam nach. Er trug den Ueberrock, hatte die Mütze schief [206] aufgesetzt wie ein Ulanenoffizier die Czapka und schwenkte eine Reitpeitsche in der Hand.

Aenne starrte ihm nach wie entgeistert, die ausgestreckte Hand gegen den Stamm einer Buche gestemmt. Hatte sie denn recht gesehen? Und plötzlich überflutete eine Purpurröte ihr Gesicht, sie raffte den Hut, der ihr entfallen, von der Erde auf und schritt in entgegengesetzter Richtung davon, hastig, als sei in der Nähe des kleinen Pavillons die Luft verpestet. Erst als sie den Schloßplatz betrat, als sie die Fenster ihres Vaterhauses erblickte, wich das Gefühl von Ekel und Beschämung, das sich ihrer bemächtigt hatte. Aber sie sah noch ganz elend aus, nun sie die Eßstube betrat, in der eben die Mutter den Kaffeetisch deckte, über dessen Geräte die Sonnenstrahlen golden spielten, die durch die jungen Blätter der Kastanien blitzten.

Tante Emilie stand am offenen Fenster und fütterte die Hühner; sie hatte das Vergnügen so lange entbehren müssen.

„Da ist sie schon wieder im Park umhergerannt,“ knurrte Frau Rat und schnitt den Napfkuchen an, der für Aenne gebacken war. „Kriege ich einen Kuß – oder nicht?“

„Zwei, Mütterchen! Siehst du, ich hatte so große Sehnsucht nach dem alten Garten.“

„Der ist der alte geblieben,“ sagte die Rätin, „aber sonst ist vieles anders geworden.

„Wie geht’s denn Kerkow?“ fragte sie leise und sah dabei Tante Emilie an, die eben die letzten Brocken dem Hühnervolk zuwarf.

„Kerkow?“ Frau Rat zuckte die Achseln, ordnete noch ein wenig die Tassen und fügte dann hinzu. „Ist ein hochmütiger Simpel geworden nach außen und – –“ „Und?“ fragte Aenne.

„Und daheim ist er Kindermädchen.“

„Hat er mehrere Kinder?“

„Zum Glück nur eins, das Krüppelchen, das sein Elend der eignen Mutter zu verdanken hat.“

Aenne atmete auf. Gottlob, das arme kleine Geschöpf hatte wenigstens einen Vater, der es liebte! Und sie setzte sich schweigend an den alten Familientisch.“

„Armer Heinz!“ klang es in ihrer Seele, „armer Heinz!“


Frau von Kerkow war in sommerlicher Gesellschaftstoilette, der Wagen stand vor der Thür, sie wartete nur noch auf Frau von Gruber. Das große Konzert des Sängerfestes in der benachbarten preußischen Kreisstadt Brendenburg sollte heute abend stattfinden. Natürlich hatte Heinz ihre Aufforderung, sie zu begleiten, einfach abgelehnt, ohne irgend welchen Grund anzugeben, die Familie Arnstein hatte Trauer bekommen – und so war die junge Frau genötigt gewesen, sich nach einer andern Beschützerin umzusehen, denn es schickte sich natürlich nicht, daß sie allein mit Lieutenant Grellert drei Meilen über Land fuhr und mit ihm bei nachtschlafender Zeit zurückkehrte! Es war ja nun einmal so in dieser albernen, verklatschten Welt! Toni von Kerkow hatte also die Tante Gruber mit allen Ueberredungskünsten bestürmt, die sie für diesen ihren brennendsten Wunsch nur erdenken konnte.

Die alte Dame hegte begründete Bedenken ihrer Gesundheit halber, aber sie wichen endlich dem Schmeicheln der jungen Frau. Toni von Kerkow richtete eigenhändig die Toilette des lieben Tantchens her, drängte ihr einen Spitzensonnenschirm auf, den sie im vorigen Sommer getragen, und sagte zu Ende der Besprechung noch, indem sie die letzten Stiche an dem Faconhütchen der Tante machte. „Nun, und sieh’ ’mal, wenn es dir ja zu anstrengend werden sollte, so fährst du früher wieder heim, Grellert und ich werden schon irgend eine Gelegenheit zur Rückfahrt finden, schlimmstenfalls mit einem Mietswagen. Es ist ja nur, daß diese braven Spießbürgerinnen, diese Klatschtanten – die Frau Oberamtmann, die Medizinalrätin und die Superintendentin – mich nicht solo mit Grellert abfahren sehen, sie machten sicher einen großartigen Skandal daraus zurecht das Nachhausekommen sieht ja keine von ihnen.

Frau von Gruber hatte ob dieser etwas zweifelhaften Auseinandersetzung eine spitze Nase bekommen und sich scharf geräuspert, aber die junge Frau war lächelnd und mit einer Kußhand aus dem Zimmer geeilt, und die pensionierte Hofdame hatte ihre Sittenpredigt nicht mehr zu den Ohren der leichtlebigen Nichte bringen können. –

Es war ein heißer Frühsommernachmittag, gegen fünf Uhr. Toni von Kerkow hatte am Fenster gestanden und alle die herrschaftlichen Wagen gezählt, die bereits die Chaussee hinabfuhren. Oberamtsmann und Superintendent im Break zusammen, und die pensionierten Offiziersfamilien im langen Omnibus des Hotels: Mays in einem Landauer. Natürlich fuhr heute die ganze Familie May, da die Tochter die große Solopartie zu singen hatte. – Wo nur Tante blieb, oder vielmehr Tantens Jungfer, die melden sollte, daß die alte Dame bereit sei? Von dem Jungen und ihrem Manne hatte Toni bereits nach Tische Abschied genommen. Heinz saß nun in seiner Eigenschaft als Bonne wieder irgendwo im Park mit dem Kind. – Nun, wenn es ihm Spaß machte!

Sie seufzte tief und runzelte die Stirn – es war zum Verzweifeln, an diesen Mann gekettet zu sein!

Endlich pochte es, die Jungfer der alten Hofdame trat ein. „Gnädige Frau lassen bitten, Frau von Kerkow möchten nicht böse sein, aber es sei ihr unmöglich, mitzufahren. Gnädige Frau haben eben einen Ohnmachtsanfall gehabt, wahrscheinlich infolge der Hitze.“

Toni sah plötzlich ganz blaß aus. „Friedrich soll den Herrn Schloßhauptmann suchen,“ befahl sie dann, „und sagen Sie meiner Tante, daß ich sehr bedauere, und ich lasse gute Besserung wünschen. Pflegen Sie Ihre Dame gut, ich kann leider nicht mehr persönlich nachsehen. Es hat doch wohl nichts auf sich?“

„Nur der alte Gesichtsschmerz, aber stärker, gnädige Frau,“ antwortete das alte Mädchen, mit dem spitzen, ewig griesgrämigen Gesicht.

„Sagen Sie Friedrich nur, er solle sich beeilen; der Herr wird in der Nähe des kleinen Pavillons sitzen mit Heini.“

Heinz trat nach wenigen Minuten wirklich ein. Toni stand in der Mitte des Zimmers neben einem zierlichen Tischchen, auf dem sich eine Glasschale mit weißen Rosen befand. Das Dämmerlicht, das durch die halb geschlossenen Jalousien fiel, hatte eine grünlich kalte Färbung, und Heinz, der soeben aus dem strahlenden goldigen Sommersonnenschein kam, war wie geblendet, und das erregte Gesicht seiner in blaßlila Foulard gekleideten Frau entging ihm dadurch.

„Wünschst du noch etwas?“ fragte er in seiner müden Art.

„Ja,“ sagte sie. „Du mußt mich begleiten nach Brendenburg, ich bitte dich, beeile deine Toilette, sonst versäumen wir den Anfang des Konzertes.

„Ich muß dich begleiten? Warum denn?“ „Weil ich nicht allein fahren kann mit Lieutenant Grellert.“ „Hattest du denn beabsichtigt, ihn in deinem Wagen mitzunehmen? Davon wußte ich nichts!“

„Das hast du natürlich wieder vergessen!“ „Du warst ja dabei vor ein paar Tagen, als ich ihn aufforderte dazu. Na, kurz und gut, Tante ist krank geworden, und aus diesem Grunde bitte ich dich, daß du mitkommst, das ist doch schrecklich einfach!“ „Ich fahre nicht mit,“ sagte er ruhig. „Wenn es durchaus sein muß, daß du dabei bist, so laß Hedwig bitten, dich zu begleiten; am richtigsten finde ich aber, du bleibst zu Hause. Heini gefällt mir heute nicht, er fiebert entschieden, und da auch Tante krank ist, wie du sagst, so – –“

„So werde ich allein mit Grellert fahren“ unterbrach sie Heinz, nahm ihren Sonnenschirm vom Tische sowie ein paar Marschall Niel-Rosen und trat vor einen in der Ecke angebrachten riesigen Spiegel, als prüfte sie noch einmal ihre Toilette. Heinz sah, wie die seidene Schleife, mit der ihr Capothütchen zur Seite des Kinnes geknüpft war, bebte, wie ihre Finger zitterten als sie die Rosen in den Gürtel zu stecken bemüht war. „Das wirst du nicht!“ sagte er ruhig.

Sie fuhr herum wie von einer Schlange gebissen „Ich würde nicht – nicht thun dürfen, was ich will? Du erlaubst dir, mir zu verbieten – –“

„Ja, ich verbiete dir, in Begleitung des Lieutenants Grellert nach Brendenburg zu fahren.“

Sie lachte kurz auf und ihre Augen funkelten ihn an.

„Solange du noch meine Frau bist, verbiete ich es dir, ich habe nicht Lust, die lächerliche Rolle eines hintergangenen Ehemanns zu spielen.“

[207] „Solange ich noch deine Frau bin“ stieß sie hervor.

Er nickte und drückte den Knopf der elektrischen Klingel neben der Thür.

Sie legte plötzlich den Sonnenschirm wieder auf den Tisch. „Wie interessant! Willst du mir nicht erklären“, sagte sie schrill. „Gleich! Ich möchte nur Friedrich erst abfertigen.“

Der Genannte stand bereits an der Portière.

„Suchen Sie den Lieutenant Grellert auf und bestellen Sie ihm, ich lasse bitten, der Herr Lieutenant möge sich unseres Wagens bedienen, die gnädige Frau sei verhindert, mitzufahren, wegen Unpäßlichkeit der Frau von Gruber und weil der Kleine fiebert.

[222] Toni lehnte mit verschränkten Armen an einem Zierschränkchen und starrte ihren Mann an; ihr fahles, unbedeutendes Gesicht war jetzt geradezu häßlich. „Nun?“ fragte sie, als die Thür sich hinter dem Diener geschlossen hatte.

„Ich habe seit längerer Zeit schon mit dir über den Umgang mit Lieutenant Grellert reden wollen, es ist mir nur immer peinlich gewesen, davon anzufangen. Da es sich heute aber gerade so günstig trifft, möchte ich dich bitten, mir zu erklären, was du dir bei diesem Verkehr mit Grellert eigentlich denkst, worauf du hinauswillst – sozusagen?

„Ich bedaure,“ antwortete sie, „du sprichst in Rätseln, du mußt dich deutlicher ausdrücken.“

Er schwieg ein Weilchen. „Du bist nahezu unzertrennlich von diesem Herrn“, sprach er dann. „Des Morgens trittst du Waldspaziergänge mit ihm an, zur Visitenstunde trifft man ihn in deinem Salon, den Fünfuhrthee geruht er unter meinem Dache einzunehmen, falls ihr euch nicht in irgend einem Salon deiner Bekannten oder zum Lawn Tennis trefft, und seit einiger Zeit scheint genannter Herr auch an meinem Tisch auf das Abendessen abonniert zu haben. Es mag ja dieser Familienanschluß ganz nett für ihn sein in Anbetracht der Langweiligkeit seines hiesigen Kommandos, aber es stört mich, ich bin nicht immer in der Stimmung, mit einem fremden Menschen zu konversieren und den höflichen Hausherrn zu spielen. Deshalb möchte ich wissen, aus welchen Gründen du besagten Herrn so außergewöhnlich ehrst und beschützest. Sind mir dieselben einleuchtend, so sei versichert, daß ich deinen Wünschen gewiß nicht hinderlich sein werde.“

Ihre Augen hatten sich zusammengezogen, sie blinzelte zu ihm hinüber, als wollte sie sich vergewissern ob das, was er da sagte, ironisch gemeint sei, aber sie sah nur in ein sehr ernstes und trotzdem gleichgültiges Gesicht. „Was meinst du damit? Was soll ich wünschen? Gründe? Ich habe keine Gründe – welch ein alberner Scherz! Zu deinem ganzen Benehmen paßt es wahrlich schlecht, den Eifersüchtigen zu spielen.“

„Den Eifersüchtigen? Nein, das würde nicht das richtige sein! Nur mit der Ehre meines Namens lasse ich nicht spielen, und deshalb möchte ich bitten, ganz ehrlich gegen mich zu sein! Glaube mir, die Misere unseres Zusammenlebens empfinde ich wahrscheinlich ebenso bitter wie du, aber so lange wir dieses Joch tragen wünsche ich, daß auch nicht der leiseste Tadel dich trifft. – Daß du dich hinaussehnst, nehme ich dir nicht übel, und wenn du mir jetzt sagst. Gieb mich frei, ich will den andern heiratem, so – –“

Sie stand plötzlich vor ihm, blaß, bebend, und trotzdem lachte sie mit den farblosen, zuckenden Lippen „So einfach ist das nicht – nein, so einfach ist das nicht, mein Lieber, den Gefallen kann ich dir mit dem besten Willen nicht thun! Lieutenant Grellert würde derjenige, der dich von mir befreit, nicht sein können, weil er eben eine Null ist in jeder Beziehung, weil er mir gar nicht ’mal gefällt! Ich plaudere mit ihm, um nicht zu sterben in der tödlichen Monotonie meines Lebens, er ist gerade der nächste dazu, und das werden ich mir nicht verbieten lassen! Ich verbiete dir ja auch nicht, in deinen Erinnerungen zu schwelgen, dich in neue Hoffnungen zu versenken, oder – glaubst du vielleicht, ich sei so mit Blindheit geschlagen gewesen von jeher, daß ich deine Herzensaffairen nicht kenne?“

Er sah an der eifernden Frau vorüber, als wäre sie gar nicht vorhanden, dann strich er sich über die Stirn als erwachte er aus einem tiefen Schlaf. „Was sollte ich wohl mit meiner Freiheit?“ sagte er leise. „Aber dafür will ich sorgen, daß diejenige, die meine Frau ist, die meinen Namen trägt, in Ehren besteht. Und deshalb – und erst allmählich erstarkte seine Stimme – „deshalb untersage ich dir das unwürdige Getändel mit dem Herrn Lieutenant.“

„Und wenn ich diesen Befehl nicht respektiere? Wenn ich dir sage, daß ich überhaupt gar nichts weiß von einem ,Getändel’? Wenn ich mir verbitte, wie ein Pensionsmädel von dir behandelt zu werden?“

Er schwieg.

„Nun, dann werde ich wohl eingesperrt? Dann darf ich wohl nicht mit am Tische essen? Dann muß ich vielleicht gar hungern? spottete sie und riß und zerrte an den Schleifen des Hütchens, und als sich endlich die Bänder lösten, schleuderte sie das zierliche Ding aus Fliederblüten und Spitzen auf den Tisch und warf sich in einen Sessel, ihren Mann wie ein gereiztes Tier anschauend.

„Dann“, sagte er, „bleiben mir noch andere Mittel und Wege.“

„Gott, wie romantisch! Wohl gar ein Duell?“ rief sie. „Armer Grellert!“ – Aber plötzlich hielt sie inne und ein kaltes, prickelndes Gefühl schlich ihr durch den Körper und sie fühlte, wie die Zunge ihr im Munde schwer ward. Sie dachte daran, wie vor ein paar Wochen die beiden Herren sich im Park im Pistolenschießen übten und wie ihr Mann nach einer Spielkarte schoß, nachdem er gesagt hatte. „Jetzt das Coeur-Aß heraus, und wie thatsächlich das winzige rote Herz aus seiner weißen Umrahmung gerissen wurde. Doch wenn auch – würde er je diese Kunst zu einer männlichen That gebrauchen – Ach, wie sie ihn haßte, wie er ihr zuwider war, der blasse Mensch mit dem stillen Gesicht und den müden, in Leid förmlich versunkenen Augen. Er stand noch immer am Kamin, strich langsam mit der Hand durch den Vollbart, den er jetzt trug und der ihn viel älter erscheinen ließ, und starrte auf dem Teppich umher. – Ein Greis im Anfange der Dreißiger, das Zerrbild eines Mannes ohne Energie, ohne Kraft, sagte sie sich, ihn verächtlich musternd. Früher brauste er wohl noch einmal auf in einem Wutanfall – jetzt? Blasse Renommage, wenn er von anderen Mitteln und Wegen sprach!

Eine lange Pause entstand man hörte das leise Ticken der Uhr auf dem Kamin und das Knistern der seidenen Röcke der jungen Frau. Endlich hielt sie sich nicht länger.

„Nun kannst du auf deinen Lorbeeren ausruhen“ begann sie schneidend, „freue dich, du hast deinen Willen durchgesetzt und mir einmal wieder eine Freude verdorben. An deiner Stelle würde ich jetzt gehen, du schläfst hier sonst ein – du vergißt wohl ganz, daß Heini allein ist –“

„Ich gehe schon,“ erwiderte er gelassen, „Heini ist zwar nicht allein, denn Hedwig sitzt bei ihm, sie kam vorhin und wird auf meine Rückkehr warten. Ich bedauere ferner, daß du um das Konzert gekommen bist, glaube aber, bei näherer Ueberlegung wirst du einsehen, daß ich recht habe. Du bist nun gewarnt.“

„Natürlich,“ bemerkte sie beißend, „recht – wie immer! Und gewarnt bin ich auch –“

Er hörte es nicht mehr, er war schon hinausgegangen. Hedwig Kerkow saß geduldig am Fahrstuhl des Kindes unter den Kastanien, durch deren Laub die Goldstrahlen der Sonne spielten.

„Du siehst so schrecklich blaß aus“, sagte sie, als er ihr wieder gegenüber saß und, die Hand auf den Blondkopf des Kindes gelegt, zerstreut in die Ferne hinausblickte.

„I, das ist deine Einbildung, Hede, übrigens ist’s ja möglich – Tante Gruber ist krank, und das irritiert mich ein wenig; ich bin so leicht jetzt erschreckt, wie eine nervöse alte Jungfer.“ Er lächelte trübe dabei.

Hede sah ihn traurig an „Du hättest mitfahren sollen. Heinz,“ meinte sie, „ich hätte dir den Heini schon gehütet indessen.“

Er wechselte plötzlich die Farbe. „Unsinn!“ sagte er kurz und scharf.

„Du hast recht, Heinz, du bist nervös,“ erklärte die Schwester aufstehend, „und wenn das so weiter geht –“

„Laß es deine Sorge nicht sein!“ lautete die ebenso kurze eigensinnige Antwort.

„Ist denn Toni hinübergefahren?“ fragte Hede, die unartige Antwort überhörend.

„Nein!“

„Ist sie bei Tante Gruber?“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete er ungeduldig.

[223] „Nun, dann leb’ wohl, Heinz – es ist besser, du bleibst allein,“ sagte sie.

Er hielt ihr die Hand hin. „Sei nicht böse, Hede, mich quält vieles so sehr!“

„Wo werd’ ich dir böse sein, Heinz! Ich bin auch gar nicht gewöhnt, daß sich meinetwegen jemand geniert in seinen Launen“, lächelte sie.

Er sprang empor und sah erschreckt in ihr Gesicht, und sie blickte ihn an mit den ruhigen grauen Augen, in denen es nun feucht emporquoll.

„Meine arme Hede,“ sagte er und zog sie an sich.

„Mir fehlt gar nichts, Heinz,“ wehrte sie eifrig, „es geht mir so gut, viel zu gut, Heinz!“

Er nickte. „Ja, ja, nichts als ein bissel Sonne – man hat sich’s so anders vorgestellt, aber, es ist nichts, darüber zu reden, hast recht! Komm, Heini, wir begleiten die Tante durch den Park nach Hause!“

Er erfaßte den Handgriff des Wägelchens und die Geschwister wanderten langsam nebeneinander her durch den einsamen verlassenen Garten. Am Marstallthor trennten sie sich; Hede ging der Oberförsterei zu, Heinz fuhr seinen kleinen Kranken auf kürzestem Wege zum Schlosse empor.

„Bist du böse, Papa?“ fragte das Kind, als er dann stumm am Bettchen saß, nachdem das Mädchen. den Kleinen umgezogen, ihm seine Milch gebracht und ihn sein Gebet hatte sprechen lassen.

„Nein, mein Junge – wie kommst du darauf?“

„Du erzählst heute gar nichts.“

„Ich werde gleich anfangen, Heini, ich dachte mir, du wärest sehr müde.“

„Ja, Papa! Und du auch?“ „Ich auch, Heini“.

„Dann sollst du nicht erzählen, heute nicht, dann morgen abend. Vergiß, bitte, nicht, wo du aufhörtest, Papa – der junge Knappe machte sich gerade auf die Reise, um die schöne Prinzessin zu suchen, und sein Wams war aus blauem Atlas, und seine Rüstung von Silber mit einer goldnen Sonne auf der Brust.“

„Ich vergesse es nicht, Heini.“

„Findet er sie, Papa?“

„Ich hoffe doch, Heini.“

„Ich weiß, wie sie aussieht, Papa!“

„Wirklich?“

„Ja, wie die Dame, die mir gestern früh das Glas hielt mit der Milch – sie war so lieb, und die Augen glänzten so schön, und weinen kann sie auch, wie die Prinzessin.“

Heinz faßte nach der Hand des Kindes, er dachte, es phantasierte, aber die Augen des Kleinen sahen ruhig und klar zu ihm empor in dem Dämmerlicht der rotverschleierten Lampe.

Das Mädchen trat noch einmal herein mit einem Glas Citronenlimonade, die das Kind während der Nacht in kleinen Schlückchen zu trinken liebte.

„Wer war die Dame, die sich gestern im Park mit Heini beschäftigte?“ fragte Heinz.

„Ich habe sie zuerst nicht erkannt“, stotterte verlegen die Person, „aber die Förstersfrau, die ich nachher frug, meinte, es sei Medizinalrats Fräulein gewesen.“

Er nickte kurz und wandte sich zu dem Kinde. „Schlafe, mein liebes Herz,“ sagte er mühsam.

„Sie war so lieb“, versicherte der Kleine nochmals, als das Mädchen sich entfernt hatte, „und sie hat um mich geweint, Papa.“ Dann lag er ganz still, schloß nach einem Weilchen die Augen, und endlich schlief er. –

Es hatte neun Uhr geschlagen, als Heinz aus dem Zimmer schlich, um ihn nicht zu wecken. Er beorderte das Mädchen in die Nebenstube und ging hinüber nach dem Salon seiner Frau. Es war dunkel drinnen, die Fenster standen offen und draußen im Fliedergebüsch schlugen die Nachtigallen. „Bist du hier, Toni?“ fragte er.

Keine Antwort.

Er klopfte an die Thür ihres Schlafzimmers – keine Antwort. Sie wird bei Tante Gruber sein, sagte er sich und pochte eine Treppe tiefer an. Die ältliche Jungfer öffnete mit an die Lippen gelegtem Finger. „Gnä’ Frau haben Chloral genommen“, flüsterte sie, „und sind eben eingeschlafen.“

„Pardon“, sagte Heinz, „ich glaubte, meine Frau sei hier.“ „Frau von Kerkow ist wohl im Park, ich sah sie über den Schloßhof gehen,“ wisperte das Mädchen.

Heinz stutzte, sie war sonst so ängstlich abends. Er dankte, schritt die Treppen hinunter und betrat ebenfalls den Schloßgarten durch die Seitenpforte. Vielleicht fand er sie. Es lag ihm daran, sie noch zu sprechen, er hatte das drückende Gefühl, seit Jahren zu hart gegen sie gewesen zu sein; er durfte sie nicht weiter reizen durch Strenge und Gleichgültigkeit – er gedachte einzulenken, er mußte – es durfte so nicht weiter gehen! Er wollte dies alles, weil er sich selbst schuldig fühlte, weil er mit seiner Gewissenhaftigkeit, seiner peinlichen Pflichttreue nicht Schuld gegen Schuld setzen wollte, weil er einen Halt, eine Rettung in seiner Pflicht zu finden hoffte, Rettung gegen die alte heiße Liebe, die ihn jählings überfallen, seitdem er Aennes Namen wieder gehört, erfahren hatte, daß sie seiner noch gedachte. Sie hatte geweint über sein krankes Kind – warum mußte er das heute auch noch erfahren!

Und er wollte nicht wieder hinaus in die Stürme, aus denen er sich für immer gerettet glaubte, er wollte in der Wüste zu Grunde gehen, die er sich selbst geschaffen, die Toni ihm schuf. Er wollte ihr sagen. Wir gehören ja doch nun einmal zusammen um des Kindes willen laß uns in Gottes Namen Frieden halten nebeneinander! Ich will mich aufraffen aus dem Starrkrampf der letzten Jahre – es geht nicht länger so!

Er stürmte durch die Wege mit großen Schritten dunkel und schwül war die Nacht und die Nachtigallen schlugen lauter als je. In der Lindenallee setzte er sich auf eine Bank, vor ihm im Teich hielten die Frösche Konzert, als wollten sie die Nachtigallen überschreien. Ueber der dunklen Wasserfläche und der schwarzen Masse der Baumgipfel zuckte von Zeit zu Zeit ein fernes Wetterleuchten, die Lindenblüten dufteten stark und süß und der Märchenzauber legte sich wie betäubend um seine Sinne.

Er sagte sich noch ein paarmal, Toni müsse längst wieder droben sein, er wolle hinaufgehen, wolle mit ihr reden und blieb doch regungslos sitzen. Hinter ihm, durch die Allee fuhr im Schritt ein Wagen vorüber, und sich umwendend erkannte er den Hofwagen, mit dem Lieutenant Grellert nach der Kreisstadt gefahren war. Kutscher und Diener schwatzten miteinander, offenbar saß niemand darin, der Offizier hatte sie heimgeschickt, weil er drüben noch Gesellschaft gefunden – richtig, es fand ja ein Ball statt nach dem Konzert. Das hatte Toni nun alles versäumt! Natürlich, es war ja verrückt von ihm, diese Frau mit dem lebenslustigen Sinne zwingen zu wollen an das Siechbett ihres Kindes. Sie hatte die richtige Lebensauffassung! Zum Teufel, man macht es doch nicht besser mit dem ewigen Trübsalblasen, ändert nicht das Geringste und – was schadet’s denn, wenn der kleine Bursche dann und wann mit dem Mädchen allein bleibt? Nichts, gar nichts! – Dumme Sentimentalität ist’s, wenn man die Sachen nicht nehmen will, wie sie einmal liegen, ja ja! – –

Und er blieb sitzen und schalt auf sich und rüttelte sein Herz in der Brust zurecht und mühte sich, ihm etwas einzureden das er selbst nicht glauben wollte, und in diesem Widerstreit war es ihm, als ob plötzlich die Stimme des Kindes laut und deutlich sagte: „Und sie hat um mich geweint, Papa!“

Er sprang empor und schritt plan- und ziellos in den Park hinein, zuerst rasch dahinstürmend, dann langsam, immer langsamer, und plötzlich hielt er inne. Es herrschte tiefe Stille um ihm, die Nachtigallen waren verstummt und die Frösche auch. Er stand im Dunkel eines Baumganges, dicht vor ihm auf einer kleinen Lichtung erblickte er, kaum erkennbar, das geschweifte Dach des Theepavillons, und daraus scholl halblaut und doch deutlich, furchtbar deutlich, die Stimme Tonis!“

„Kurz und gut, ich sage es noch einmal, er hat Verdacht – sei vorsichtig!“

Und ebenso deutlich klang die Antwort „Zum Teufel auch, das ist peinlich!“

Eine Eiseskälte überfiel Heinz, und dabei ein Reiz zum Lachen über sich selbst – den dummen guten anständigen Kerl, der er war.

[224] Und was nun? Was nun? Hineinstürzen in dieses unselige Versteck? Den Buben ins Gesicht schlagen, das Weib am Arm packen und jenem vor die Füße schleudern? –

Er hielt sich an dem Stamme der Weißbuche, neben der er stand – ihm schwindelte, er keuchte und ein Stöhnen rang sich von seinen Lippen. Mit Aufbietung aller Kräfte setzte er einen Fuß vor den andern, und am Pavillon angekommen, lehnte er sich, wieder schwankend, an den roh behauenen Eingangspfosten.

Eine Gestalt trat ihm entgegen. „Grellert!“ stieß er hervor.

„Sie hier, Kerkow?“ fragte die wohlbekannte näselnde Stimme zurück. „Famoser Abend – wollen Sie nicht Platz nehmen?“ Und gleichzeitig strich er ein Zündhölzchen an, das für ein paar Sekunden den kleinen Raum völlig erhellte.

Er war leer, die in der Rückseite befindliche Thür offen.

„Grellert“, sagte Heinz fast heiser, „Sie sind ein Schurke!“

„Herr!“

„Ein Schurke – sage ich!“ – wiederholte Heinz fast schreiend.

„Sie werden von mir hören, Herr Schloßhauptmann!“

Heinz lachte laut und höhnisch und wandte ihm den Rücken.

Er wußte später nie mehr, wie er sich nach Hause gefunden, er erinnerte sich nur, daß er gegen Morgengrauen noch immer in seinen Kleidern neben dem Bettchen des Kindes gesessen und immerfort den Gedanken in seinem Kopfe umhergewälzt hatte, was wird aus ihm, wenn es für mich schlecht ausgeht? Hede ist ja da – natürlich! Aber das arme, in abhängiger Stellung befindliche Mädchen noch mit der Sorge für das Krüppelchen belasten zu wollen das hieße grausam handeln. – Die Mutter würde es einfach vernachlässigen, und als Frau dieses gewissenlosen Bengels? – – Es schüttelte ihn – – nur das nicht! Das an Liebe so gewöhnte Kind durfte nicht verkümmern. Hinterlassen konnte er ihm natürlich nichts, gar nichts, und unter solchen Umständen einen Zweikampf ausfechten, einen mit geschärften Bedingungen? Die Ehre will’s freilich so, ja, ja – ach diese alberne unverständliche Welt! Das beste wäre, er nähme den Revolver und schösse zuerst das jammervolle kleine Geschöpf da und hinterher sich selbst tot. Aber nein, das wäre feige, und außerdem, es geht nicht, denn er hat kein Recht dazu!

Er erhob sich schwerfällig und ging ins Nebenzimmer an seinen Schreibtisch. Dort warf er ein paar Worte auf eine Karte, steckte sie in ein Couvert und adressierte es. Er wollte klingeln und sah auf die Uhr – es war noch viel zu früh, die erste graue Morgendämmerung drang eben durch die Fenster. Ihn fröstelte, er trat an den Liqueurschrank und nahm eine Flasche Cognak und ein Glas heraus, trank und streckte sich dann auf das Ruhebett neben dem Schreibtisch.

Ein paarmal glaubte er, im Nebenzimmer leise Tritte zu hören, aber es mußte Täuschung sein; Toni stand nicht vor zehn Uhr auf, auch konnte sie ja noch keine Ahnung haben. Dann kam eine bleierne Müdigkeit über ihn und er schlief ein.

Mit heftig schmerzendem Kopf erwachte er, taumelte empor und blickte ins Nebenzimmer nach dem Bettchen des Kindes, die großen Augen lugten wach aus dem geduldigen blassen Antlitz verwundert zu ihm herüber. „Papa“ sagte der Kleine, „es ist schon so spät und ich bin hungrig, aber wenn du müde bist, warte ich noch.“

„Nein, mein Herz, nur das Gesicht mit kaltem Wasser waschen, dann öffne ich die Fenster und klingele um dein Frühstück. „Kommst du dann mit mir in den Garten?“

„Ja, das heißt, heute nicht, mein Junge, ich habe nämlich – ich erwarte einen Besuch, aber dann, dann werde ich dich sogar in den Wald fahren, und dort wollen wir den ganzen Tag zusammenbleiben.

Das Kind nickte befriedigt. Als Heinz die Schelle zog, die das Mädchen herbeirufen sollte, fiel sein Blick auf die Uhr, er erschrak – halb elf Uhr vorüber! Grellerts Kartellträger hätte längst da sein müssen.

„Ist niemand hier gewesen, der nach mir fragte?“ forschte er das Mädchen aus.

„Niemand, Herr Schloßhauptmann. Soll ich das Frühstück für Herrn Schloßhauptmann auch hierher bringen?“

„Nein“, ich gehe hinüber. Bedienen Sie Heini heute!“

„Gnä’ Frau sind aber nicht zu Hause.

„Meine Frau? Wo –“

„Wir haben gnä’ Frau schon überall gesucht, und Frau von Gruber schickte schon um acht Uhr nach oben; sie ist kränker geworden, aber gnä’ Frau war nirgends zu finden.

Er war mit ein paar Schritten durch das Nebenzimmer geeilt und hatte die Thüre nach dem Salon aufgerissen. Die ganze Schwüle des gestrigen Tages, gemischt mit dem Geruch, der aus Blumenvasen quillt, die nicht täglich mit frischem Wasser gefüllt wurden, schlug ihm entgegen. Er durchmaß auch dieses Zimmer, gelangte von dort in die Eßstube und musterte den unberührten Frühstückstisch, und dann trat er in Tonis Schlafzimmer. Das Bett war unberührt; in der roten Ampel unter dem Plafond brannte trübe ein Oellämpchen, dem Verlöschen nahe. Vor dem Toilettentisch lagen einzelne zusammengeknüllte Papierballen, die Schübe waren aufgezogen und in demjenigen, welchem die junge Frau ihren Schmuck anzuvertrauen pflegte, steckte der Sicherheitsschlüssel. Er trat näher und öffnete: die roten Juchtenetuis mit dem Namenszug der Besitzerin und der siebenzackigen Krone darüber waren verschwunden, statt dessen lag ein Brief da, an ihn adressiert. Mit der flüchtigen charakterlosen Schrift Tonis war geschrieben:

„Du wirst zugeben, daß es ein Blödsinn wäre, wenn Ihr Euch duelliertet. Ich habe daher Grellert gebeten, mit mir heute bereits abzureisen; in einigen Wochen wäre es ohnehin geschehen, denn so konnte ich nicht weiterleben! Grellerts Onkel ist ein sehr reicher Mann, wir gehen zu ihm nach New York. Er hat keine Kinder und seinen Neffen schon seit längerer Zeit inständig gebeten, herüberzukommen. – Für uns ist gesorgt, und Dir ist auch geholfen. Du bist frei. Ich scheide mit dem beruhigenden Bewußtsein, daß weder Du noch Heini mich vermissen werden. Nach gewisser Zeit werden wir geschieden sein, und dann wirst Du vielleicht auch noch glücklich – ich gönne es Dir.

So leb’ wohl, der Vorhang ist gefallen, das Trauerspiel unserer Ehe zu Ende. Daß es ein wenig plötzlich schloß, ist Schuld des Zufalls, der Dich gestern in den Park führte. Mache keine Thorheiten und versuche nicht, den Vorhang wieder aufzuziehen, dies meine letzte Bitte. Toni.“

Mit dem Briefe in der Hand trat er eine Stunde später an das Bett der alten pensionierten Hofdame. Sie lag mit starren Augen und hochroten Wangen und wand das spitzenbesetzte Tüchlein in den mageren Händen.

„Ach Heinz, Heinz,“ stotterte sie, „ich hätte dich früher warnen sollen! Ich hab’s ja schon längere Zeit gemerkt, aber man will doch so ungern zwischen Eheleute reden.“

„Beruhige dich nur, Tante,“ sagte er beschwichtigend.

„Ich bitte dich, Heinz – was hast du unternommen? Hast du telegraphiert? Sie muß doch wiederkommen, und du mußt dich mit ihm schlagen!“

„Ein fahnenflüchtiger Offizier ist nicht mehr satisfaktionsfähig,“ sagte er hart, „und ein davongelaufenes Weib nehme ich nicht wieder.“

„Du bist verrückt, Heinz – so urteilt der Spießbürger, aber kein Edelmann! Du mußt ihn fordern!“

„Nein – er mich!“ Ich nannte ihn einen Schurken, als solcher geht er nun hinüber. – Es fällt mir nicht ein, einen trojanischen Krieg anzufangen um diese Frau, ich wünsche glückliche Fahrt!“

„Man wird alle Schuld auf dich wälzen!“ schrie sie, „man wird ’sagen –“

„Mögen sie! Was geht übrigens die Menschen an, ob dem Kerkow die Frau davonläuft?“ fuhr er bitter fort. „Es wird schließlich ein jeder begreiflich finden – der Kerl ist ja halb verdreht, nächstens reif für das Irrenhaus! Ein Teil menschenscheuer noch, ein Teil empfindlicher und mutloser wird er wohl noch werden, und wenn das Kind die Augen zuthut – dann –“ er hatte sehr leise gesprochen – „Na, aber bis dahin hält man es aus, muß es aushalten. Guten Morgen, Tante!“

Sie sah ihm nach mit großen angstvollen Augen, wie er in der Thür verschwand, ein Mann, ohne einen Funken Energie, zu nichts mehr fähig!

„Meine Frau ist auf mehrere Woche verreist,“ sagte Heinz Kerkow zu den Dienstleuten.

Um Mittag kam eine Depesche vom Regiment an Lieutenant [226] Grellert, mit dreitägiger Urlaubsbewilligung nach Bremen. Der Unteroffizier meldete es dem Herrn Schloßhauptmann, und auch, daß er vorläufig das Kommando übernommen habe. Heinz nickte stumm – was ging ihn die Reise des Lieutenant Grellert an, was das düpierte Regiment!

Als Heini nach Tische schlief, verschloß er selbst die Läden und die Thüren der Zimmer, die Toni bewohnt hatte, und legte die Schlüssel in seinen Schreibtisch, dann saß er am Fenster und schaute über die kleine Stadt hinweg, die noch nichts ahnte von dem neuen prächtigen Klatschstoff. Welche Lust! Er sah sie bereits zusammensitzen, die Bierphilister am Stammtisch, sah das Stubenmädchen der Frau Oberamtmann in wehender, weißgestärkter Schürze mit Kaffee-Einladungen von Haus zu Haus eilen – so was mußte ja ausführlich besprochen, mußte gefeiert werden! Etwas Interessanteres hatte es seit Menschengedenken nicht gegeben in Breitenfels: dem Schloßhauptmann von Kerkow war die Frau durchgebrannt mit dem Lieutenant der Schloßwache! – Geschieht ihm recht! Geschieht ihm recht!

Er lächelte vor sich hin. Was war aus ihm geworden? Und plötzlich, ohne daß er es selbst wollte, flogen seine Blicke zu dem kleinen Hause hinunter, in dem Aenne May jetzt weilte, und das Lächeln verschwand. Würde auch sie lachen? Er schüttelte den Kopf. Ach, und wenn auch – er brauchte es ja nicht zu sehen, nur den Frieden sollten sie ihm lassen!

Mochten sie alle lachen, mochte die Eine weinen über ihn, ihm war es recht, nur den müden Frieden sollten sie ihm lassen, der ihn in seiner einsamen Stube, in dem leeren Schlosse so wohlig überkam angesichts des schlummernden Kindes – den müden Frieden, der sich wie ein linder Balsam über seine wunde Seele senkte.

[241] Hede Kerkow pochte den folgenden Morgen an das Zimmer des Oberförsters. Auf sein „Herein!“ kam sie über die Schwelle mit blassem verstörten Gesicht. „Herr Oberförster, ich habe eine Bitte,“ begann sie, „dieselbe ist eigentlich unbescheiden, aber verzeihen Sie mir angesichts der großen Verlegenheit, die mich zwingt, sie auszusprechen!“

Der große Mann hatte sich vom Schreibtisch erhoben und schaute betroffen seine Hausdame an, deren feines Gesicht weiß wie eine Kalkwand war und deren Augen tief eingesunken schienen. „Sie haben doch nicht eine Trauernachricht bekommen?“ fragte er, an die Schwester im Irrenhause denkend. „Aber bitte, setzen Sie sich doch, Fräulein Hedwig!“

„Danke!“ sagte sue, „Eine Trauernachricht, ja! Sie wissen, Herr Oberförster, wie gern ich in Ihrem Hause allezeit gewesen bin und daß es mir sehr schwer wird, die Kinder verlassen zu müssen, aber ich muß Sie bitten, mir zu erlauben, daß ich sobald als möglich meine Stellung hier aufgebe – ich muß zu Heinz.“

Der Oberförster, der am vorhergehenden Tage in aller Herrgottsfrühe ausgewandert und erst nach zehn Uhr abends zurückgekehrt war, hatte thatsächlich keine Ahnung von irgend welcher [242] Katastrophe, von der erst im Laufe des gestrigen Abends unbestimmte Gerüchte die Luft zu durchschwirren begannen und die wahrscheinlich erst beim heutigen Frühschoppen genauer den erregten Gemütern in Breitenfels bekannt werden würde. „Fräulein Hedwig, Sie sehen mich außer stande, etwas zu erwidern,“ stotterte er, „was ist denn geschehen?“

Ueber Hede Kerkows Gesicht flackerte die dunkle Röte verletzten Stolzes. Sie setzte ein paarmal zum Sprechen an, dann schwieg sie, und endlich brachte sie kaum hörbar die Worte hervor: „Tante Gruber schreibt mir soeben, daß meinen Bruder ein neues Unglück betroffen hat – seine Frau hat ihn verlassen.“

Er antwortete nicht. Nach einem Weilchen sagte er ruhig: „Die Pflicht gegen den Bruder und sein krankes Kind geht allem vor; bitte, verfügen Sie ganz frei über sich, Fräulein von Kerkow!“

Sie hob den Blick und sah ihn an. Es lag etwas Wunderliches in ihren Augen, aus denen das klare Schmerzenswasser sich Tropfen um Tropfen drängte, etwas Vorwurfsvolles, als thäte ihr die rasche Gewährung der Bitte weh. Er sah es nicht; er hatte den Kopf halb abgewendet und blickte durch die Scheiben auf die Straße.

„Ich danke Ihnen,“ stammelte sie.

„Machen Sie sich keine Sorgen um uns,“ sprach er weiter, „Karoline hat viel gelernt von Ihnen, Agnes ist fast erwachsen, und –“

„Sie werden ja leicht einen Ersatz finden,“ ergänzte sie.

Er antwortete wieder nicht.

„Ich will dem Mädchen die nötigen Anweisungen geben,“ fügte sie mit fester Stimme hinzu, „dann mache ich von Ihrer Erlaubnis Gebrauch und gehe hinauf zu meinem Bruder.“

Sie neigte ernsthaft den Kopf, und schon nach wenigen Minuten stieg sie den Schloßberg empor. Ohne sich bei Frau von Gruber des näheren zu erkundigen, ging sie stracks in die Wohnung ihres Bruders.

Es war Regenwetter hereingebrochen, und er befand sich infolgedessen mit Heini in seinem Erkerzimmer. Das Kind lag auf dem Ruhebett in Decken und Tücher gewickelt, war nervös und ungeduldig; es hatte erfahren, daß die Mutter nie wiederkomme und daß der Vater darum traurig sei. Das genügte, das Gleichgewicht des armen kleinen Kopfes völlig zu zerstören. Das kranke Kerlchen weinte bald plötzlich laut heraus, bald war es unartig, um gleich hinterher mit rührender Stimme um Verzeihung zu bitten, und das trübe Wetter fiel ihm vollends auf die zarten Nerven.

Hedes Anklopfen war überhört worden; Heini schluchzte gerade so laut. Heinz kniete vor dem Lager seines Kindes und redete ihm zu, als plötzlich Hede vor ihnen stand.

„Da bin ich, Heinz,“ sagte sie einfach, „und wenn du mich gebrauchen kannst, bleibe ich gleich hier.“ Sie hielt ihm die Hand hin, er legte die seine hinein, und Heini hörte auf zu weinen. Sprechen thaten die Geschwister kein Wort. Nach einer langen Pause, während welcher sie dem Kleinen immer wieder die herunterfallenden Bausteine aufhob und Heinz im Zimmer auf und ab schritt, fragte er stehen bleibend:

„Kannst du denn gleich so ohne weiteres fort, Hede?“

„Ja!“ sagte sie dumpf.

„Aber es wird dir gewiß schwer?“

„Du bist doch mein Bruder, mein Einziger auf der Welt!“ Sie sah ihn nicht an dabei, erhob sich nach einem Weilchen und ging in die Küche, um Anordnungen zu treffen, und von da zu der kranken Tante Gruber, die sie seit langer Zeit nicht besucht hatte.

Die alte Dame empfing sie seufzend und stöhnend. „Du bleibst jetzt natürlich bei ihm, Hede?“ endete ihr langer Klagenerguß.

„Ja, Tante!“

„Kannst du denn gleich? Du bist doch in einer Art Mietsverhältnis, und solche Leute nützen ihre Macht gern aus –“

„Solche Leute? Welche Leute?“

„Der Oberförster, der Parvenu! Wenn sie weiter nichts Gutes hat, diese fatale Durchbrenngeschichte, das wenigstens hat sie, daß du aus dieser untergeordneten Stellung kommst. Also – er erlaubt in Gnaden, daß du sofort zu Heinz gehst? Alles mögliche!“

In Hedes Augen erstarrte der feuchte Schimmer, aber sie erwiderte kein Wort. „Hast du noch irgend welche Wünsche, Tante?“ fragte sie kühl.

„Nein,“ jammerte die alte Frau aus den weißen Kissen heraus, „nur Heinz sollte vernünftig sein, sollte wenigstens so thun, als ob er rasend wäre über diesen Menschen, diesen Grellert, sollte so thun, als ob seine Forderung ihn nicht mehr erreicht hätte, oder von ihm ignoriert würde. Er blamiert sich ja mit seinem resignierten Stillhalten.“

„Weil er sich nicht geschossen hat mit dem ehrlosen Menschen – dieser Frau wegen?“ fragte das Mädchen mit zuckenden Lippen. „Na, gottlob, Tante, dazu ist er zu vernünftig – er denkt an seinen hilflosen Sohn.“

„Sie hätten ja in die Luft schießen können!“ rief die alte Dame.

Hedwig zuckte die Achseln. „Was kann Heinz dafür, wenn Grellert durchbrennt, ehe noch die Forderung gestellt werden konnte? Mein, Bruder hätte sicher das Seinige gethan, um dieser leider noch immer festgehaltenen Sitte zu genügen, die ich für ein Verbrechen, für ein Gottversuchen ansehe.“

Frau von Gruber warf ihr einen bösen Blick zu. „Das kommt davon, wenn man jahrelang mit Plebejern verkehrt,“ sagte sie, den Kopf zur Seite wendend.

Hedwig ging. Ihr war das Herz sehr schwer, und während sie Anordnungen für ihre Uebersiedlung traf, weinte sie eine stille Thräne um die andere. Sie fand nicht den Mut, noch einmal unten in die Augen der Kinder zu sehen, um Abschied von ihnen zu nehmen, die sie so eilig verließ und die sie so lieb gewonnen hatte. Daß ihr auf so ruhige, sachgemäße Weise das Scheiden erlaubt werden würde, hatte sie nicht gedacht; sie hatte gemeint, wenigstens ein Wort des Bedauerns zu hören. Hinterließ denn ihr Gehen keine Lücke? Galt denn ihr treues Walten als so wesenlos? Sie warf plötzlich den Kopf empor; ein harter, stolzer Zug erschien um ihren Mund – sie hatte wieder einmal die bitterste Erfahrung gemacht, hatte an ein wenig Dankbarkeit geglaubt und – – –

„Gieb mir mein altes Zimmer, in dem ich damals wohnte,“ bat sie Heinz, der eben eintrat. „Und das Kind nehme ich selbstverständlich mit herüber zu mir; dich stört es, du mußt Schlaf haben, Heinz,“

„Das Kind? Nein!“ sagte er ruhig, „Heini bleibt bei mir.“

Sie sah ihn groß an, schluchzte ein paarmal, aber sie schwieg.

„Hede, nimm’s nicht übel,“ bat er.

„Ich bin traurig, daß ich dir nichts nützen kann, Heinz!“

„Du kannst’s, und du sollst jedenfalls hier bleiben, Hede. Du hättest schon immer hier bleiben müssen, es war ja aber leider so – na, du weißt es.“

„Hier sein müssen? Als Müßiggängerin! Das sehe ich nicht ein,“ antwortete sie bitter. Sie kämpfte noch mit sich; Heinz, sah, sie wollte etwas sagen, aber dann wandte sie sich rasch ab und ging hinaus.

Am liebsten wäre sie sofort wieder in die Oberförsterei geflüchtet, allein das litt ihr Stolz nicht. Man würde sie ja gar nicht vermissen! – Die Karoline habe viel von ihr gelernt – die Aelteste sei fast erwachsen – so sagte er ja, der große gelassene Mann. Sie war am Ende schon seit langer Zeit ein überflüssiges Ding gewesen, man hatte sie nur aus Gewohnheit behalten?

Sie ging in die leere, schlecht gelüftete Stube, in der noch nichts daran gemahnte, daß sie wieder hier wohnen sollte, schloß die Thür hinter sich ab und grübelte über ihr armes, inhaltsleeres Dasein, das in seiner ganzen Nacktheit und Oede wieder vor ihr stand, nachdem es ihr ein paar Jahre lang ganz freundlich erschienen war. Alles erborgter Schimmer, den sie für echt genommen! Sie konnte sich nicht erinnern, daß ihr je bitterer zu Mute gewesen – –

Und während die Beteiligten still in dem alten Schloße ihrem Kummer nachhingen, war ganz Breitenfels in Aufregung über das Geschehnis. Die widersprechendsten Gerüchte tauchten auf. Die einen sagten, der Schloßhauptmann habe seine Frau schon seit Jahren schlecht behandelt; die andern, sie sei mit seiner Erlaubnis davongegangen; nur wenige entschuldigten ihn und klagten die Entflohene an, aber sie drangen nicht durch. Die Wohnstube der Frau Medizinalrat war vielleicht die einzige, in der nicht davon gesprochen wurde, obgleich dort auch mehrere Damen beim Nachmittagskaffee saßen. Aenne sah bleich aus und war sehr still, trotz ihres vorgestrigen neuen Triumphes, den sie im Rathaussaal zu Brendenburg errungen hatte. Dafür war Papa May aber noch ganz selig über seinen Liebling. Auch hatte Mama May ihr Herz höher schlagen gefühlt, als sie die schöne Tochter auf dem Podium stehen sah, von nicht enden wollendem [243] Beifall umrauscht. Beinahe so, hatte sie sich vorgestellt, müsse ihr zu Mute sein, wenn Aenne in der bis auf den letzten Platz besetzten Schloßkirche im Atlaskleid und Schleier vor dem Altar stehe. Und heute, ach, da war Mama Mays augenblickliche Begeisterung schon bedeutend herabgestimmt; es war alles so ganz anders gekommen, und nur eine ganz leise Hoffnung blieb noch immer – vielleicht fand sich doch einer, der, leichtsinnig genug, eine Sängerin zur Frau nahm!

Sehr schwach war diese Hoffnung allerdings, denn wenn einer ihrer Söhne mit einer Künstlerin käme – o, sie würde ihn jagen, sie würde ihm den Standpunkt klarmachen! Lieber gleich hängen! Ein Glück würde es ja doch nie. Ach, es ist eine elende Welt! Und die alte Frau sah, während sie in ihrer Kaffeetasse rührte, zu einer üppigen hübschen Dame hinüber, die neben Aenne saß, sehr elegant in marineblauen Foulard mit weißen Tüpfelchen gekleidet, und die so beglückt lächelte, als sei Aennes herrliches Talent ihr, eigenes Verdienst.

„So kommt doch alles einmal an die Sonne,“ sagte Frau May noch zwischen Scherz und Ernst. „Ich hatte bis vorgestern keine Ahnung davon, daß Sie, Fräulein Hochleitner, mit Aenne hinter unserem Rücken verkehrt haben, und ich dachte, ich sähe nicht recht, als Sie beide nach dem Konzert auf einmal sich in den Armen lagen. Was wird man nur noch alles erfahren!“ klagte sie seufzend.

Und Fräulein Hochleitner lachte die ganze Tonleiter hinauf und herab. „Ach, meine beste Frau Rat, es hat mir ja kan’ Ruh’ ’lassen, bis i das Kinderl auf dem Podium g’sehn hab’. Der Direktor von unserm Theater hat g’flucht und g’wettert schon nit mehr schön, aber i hab’ halt auf dem Urlaub b’standen. – Gelt, Annerl, ’s is halt ein altes Versprechen? Ach, und meine beste Frau Rat,“ fuhr sie fort, als die alte Dame nicht aufhörte, sauer dreinzuschauen, „und jetzt, wann i nur dürft’, i erzählet Ihnen gern noch ’was, damit Sie an anders G’sicht kriegeten, zum Beispiel wie i amal so heiser ’word’n bin, so ganz plötzli, daß i kan’ anzigen-Ton rausbracht hab’.’ Dös war a Remasuri, heilige Muttergottes – grad’ am Hochzeitstag vom Kerkow is’ g’wesen.“

Aenne nickte ihr zu und lächelte wieder.

„Und wo’s jetzt so gut ’gangen is, kann i’s ja eing’steh’n, daß i’s war, die Ihr Töchterl g’hetzt und g’stoß’n hat auf die Kunstcarrier’! No, i denk’, da hab’ i da ’was ordentlich’s z’stand ’bracht!“

„Ich sollt’s meinen,“ gab Tante Emilie stolz zu, „denken Sie nur, über acht Tage singen wir in Leipzig im Gewandhaus.“

Fräulein Hochleitner lachte, daß ihre prächtigen Zahnreihen blitzten. „Singen wir im Gewandhaus! I könnt mi totlachen – gelt, das Tanterl meint, wenn sie net dabei is, geht’s nimmer – g’rad’ wie mein Mutterl!“

„Ohne Tante könnte sie freilich nicht reisen,“ brummte Frau Rat, „das Umhervagabondieren gefällt mir überhaupt am wenigsten dabei. Eigentlich kann’s dir doch auch nicht behagen,“ wandte sie sich an ihre Tochter, „bist gar nicht so auferzogen, hast doch wahrhaftig kein Zigeunerblut in dir.“

Aenne stand plötzlich auf und breitete die Arme aus, als wollte sie davonfliegen, aber sie sagte nichts, sie sah nur mit langem Blick über den völlig leeren Schloßplatz, auf den endlos öde der Hegen niederprasselte.

„Ja, zu sehen ist hier freilich nichts,“ seufzte die Rätin, „aber wenn man sein Hauswesen hat und seine Familie, dann ist’s doch schön, überall schön, und wer das mißachtet – na, ich sag’ nur, ich hoffe, sie kriegt noch ihre Strafe.“

Aenne sah betroffen die Mutter an.

„Sie meint die Toni Kerkow,“ erklärte Tante Emilie.

„Ah so!“ sagte Fräulein Hochleitner, „dös soll man wiss’n! Na, meine Meinung is, wenn sich zwei schon nimmer vertrag’n, dann is’s besser, das Weltmeer wimmert zwischen ihnen – frei nach Schiller –“

„Es kommt von der Unzufriedenheit,“ redete Frau Rat weiter, „keiner will mehr die Schranken anerkennen, die ihm gezogen worden sind, und das ist der Geist der heutigen Jugend. Ihr zwei seid auch nicht besser, Sie nicht und meine Aenne nicht – das ist meine Meinung!“

„Na, dös laß i m’r g’fallen,“ lachte Fräulein Hochleitner. „Was fallt Ihnen denn ein, Frau Rat, daß mit so scharfe Fidschipfeil’ auf uns schießen? Wenn i Ihnen auf die verehrten Zecherln ’tret’n sein sollt’, thut’s mir leid, mich können S’ bald los werden; das Annerl aber hat Ihnen doch kein Steinderl in den Weg g’worfen, sollt’ i denken – im Gegenteil–“

„Nehmen Sie’s nicht für ungut, “ murmelte Frau Rat, „Sie haben recht.“ Dann setzte sie die Tassen ineinander und ging hinaus.

„Was hat denn die Mutter nur?“ fragte Aenne die Tante.

„Ach, die alte Geschichte,“ antwortete diese. „Vorhin ist die kleine Agnes von Oberförsters dagewesen, heulend und schreiend. Fräulein von Kerkow ist natürlich stehenden Fußes zum Bruder hinaufgeeilt, und die Kinder drüben sitzen wie die Vögel im Nest, denen die Alte weggefangen ist. Der Papa habe seine Büchse genommen und sei trotz des bösen Wetters in den Wald gegangen, gleich nachdem das Fräulein fort war, und der Junge klage über Halsschmerzen – der Herr Rat soll kommen!“

„Lieber Gott,“ sagte Aenne, „das ist ja alles sehr traurig, aber dafür kann ich doch nicht!“

„Freilich können S’ dafür,“’ bemerkte Fräulein Hochleitner ärgerlich. „Wenn S’ den Wittiber damals g’nommen hätt’n, alsdann wär’ ihm jetzt die Seinige net davon g’laufen. Jessas, kann denn die Frau Rat dös noch net vergess’n? Sieht s’ denn immer noch net ein, daß dös Kind zu ’was Höherem b’stimmt ist?“

„Seien sie nur gut, Liebste,“ beschwichtigte Aenne die Erzürnte. „Die Trennung von mir liegt meiner alten Mutter schon wieder im Sinn und macht sie unwirsch. Ich werd’ einmal mit ihr reden!“ Sie ging die alte Frau suchen und fand sie endlich weinend am Fenster sitzen.

„Mama,“ bat das Mädchen „sei doch gut, laß doch die alten Geschichten; ich möchte so gern noch ein paar friedliche Stunden im Hause verleben! Sieh ’mal, ich kann gar nicht so froh herdenken von draußen, wenn ich dich hier so hab’ weinen sehen.“

„Ja, ja,“ sagte die Mutter, „es hilft ja auch nichts – hast recht. Aber ich –“ und wieder schüttelte sie der Schmerz, „ich verwind’ ’s nicht, ich kann mich nicht hineinfinden in die neumodischen Ansichten, mir ist’s, als müßte sich ’s Herz umdrehen, wenn dich tausend Augen so angaffen. Du bist mir zu gut dazu, und ich schäme mich für dich und bin froh, daß ich’s nicht mit anzusehen brauche, das Bänkelsängerleben.“

„Du bist ungerecht,“ sagte Aenne verletzt.

„Nein, nein’ – ich habe dich nur lieb, ich möchte dich vor allen Enttäuschungen behüten und bewahren, und ich sag’, daß es ein Unglück ist, daß du damals den Günther nicht nahmst, für dich und für ihn! Da sitzen nun die Würmer allein, und er läuft aus Verzweiflung im Wald umher.“

„Sei ’mal vernünftig, Mutter,“ bat Aenne, vor ihr niederknieend. „Ich gebe dir das Versprechen, wenn ich einmal einen Mann lieb haben werde, dann nehme ich ihn – aber nur dann. Und den Günther hatte ich nicht lieb, verstehst du?“

„Doch! Doch! Hast’s nur selbst nicht gewußt. Und die Schlange im Paradiese ist die Hochleitner gewesen, die hat dir dummes Zeug eingeblasen – wahrhaftig, ich könnte ihr dafür etwas anthun!“

„Du armes, kleines, rabiates Mutterl,“ sagte Aenne und streichelte sie. „Ach du! Ich möchte dich so gern beruhigen, aber wie soll ich’s denn beginnen? Ich vermag’s nicht, mir ist das Herz selbst so schwer. Komm, sei gut; wir können auf dieser Welt nicht alle desselben Glückes teilhaftig werden, und wir wollen recht dankbar sein, daß ich solch ein großes, ungewöhnliches habe. Siehst du, ich freue mich so, daß Papa nun wieder ein Glas Wein wird trinken können, seinen geliebten griechischen Wein, den er bisher immer von der Frau Herzogin zu Weihnachten bekam, wie heißt er doch gleich? Richtig – Mavrodaphne! Daß du ferner nicht mehr so zu rechnen brauchst mit der Wirtschaftskasse, daß ich den Brüdern ein wenig helfen kann, das alles wäre mir unmöglich, wenn ich als Frau Günther da nebenan säße, Mutter – nicht wahr?“

„Ja, an andere denkst du!“

„Das ist auch ein Glück.“

„Aber nicht deines!“ rief die alte Frau, von neuem aufschluchzend, und preßte den Kopf des Mädchens in ihren Schoß. „Nicht deines! Und du wirst immer Sehnsucht haben und – und –“ ihre Stimme erstickte in Thränen.

Ach, Aenne verstand die Mutter so gut! „Macht mir’s doch nicht so schwer!“ murmelte sie und drückte sich fester an die Weinende.


[244] Nun war der Sommer vorübergezogen und der Herbst gekommen; ein öder, regennasser, früher Herbst. Verlassener denn je schaute Schloß Breitenfels auf das stille Städtchen herab; wäre nicht das einsame Licht hoch droben im Erkerzimmer so regelmäßig aufgesprüht jeden Abend, nichts hätte mehr daran erinnert, daß es bewohnt sei. Der Herzog hatte in diesem Jahre auch die Jagden abbestellt; er weilte in Cannes mit seinem brustkranken Sohn, und die Patrioten des Herzogtums Breitenfels saßen abends an ihrem Stammtische und redeten von der Zeit, wo sie preußisch werden würden. Sonst war alles beim alten, nur die bejahrte Hofdame war gestorben, an einem der letzten heißen Augusttage hatte sie der Tod ereilt. Nach der üblichen Frist war sie dann mit allem von ihr gewünschten Pomp begraben worden drunten auf dem Kirchhof. Aber nicht da, wo alle bunt durcheinander lagen, wie sie gerade starben, nein, Frau von Gruber hatte ihre letzten Sparpfennige dazu bestimmt, an der Mauer beerdigt zu werden, in welche eine wappengeschmückte Sandsteintafel über dem Hügel eingelassen wurde. Ganz „deplaciert“ wollte sie auch im Tode nicht sein, wenn ihr gleich einst die Familiengruft verkauft worden war mitsamt dem Stammschloß!

Bei dem Begräbnis hatten die Breitenfelser den Schloßhauptmann zum letztenmal gesehen; daß er überhaupt noch lebte, das merkte man nur noch daran, daß seine Lampe dort oben über ihnen brannte. – Auch der Oberförster sah Abend für Abend das Licht. Er saß länger denn je in seiner Stube und ging nicht mehr in der Dämmerung zu seinen Kindern, um sie singen zu hören; sie sangen auch nicht mehr, es war ja niemand da, der ihnen dazu spielte! Mitunter überkam den großen starken Mann eine wahnsinnige Angst und Unruhe, eine Ungeduld, ein Zorn, der ihn ungerecht machte gegen seine Umgebung; gegen sich selbst, so daß er die Mütze von der Wand riß und hinauslief, stundenlang wie sonst auch, nur daß er nicht mit Frieden im Herzen heimkehrte; der Wald hatte seine beruhigende Sprache für ihn verloren.

Mitten aus dem Rauschen, aus dem feierlichen Flüstern glaubte er dann plötzlich eine ruhige, klare Frauenstimme zu hören, wie er sie tausendmal gehört während der letzten Jahre. Und er stierte auf die Wege, als könnte er dort den Abdruck eines schmalen Frauenfußes entdecken, wie er ihn vor seiner Hausthür gefunden an jenem Abend, da sie zu ihm kam, um sein verwaistes Hauswesen zu übernehmen. Und wenn er heimkehrte, müde und abgespannt, dann öffnete er rein mechanisch die Thür der Wohnstube und schaute nach dem Fenstertritt, auf dem eine feine Gestalt sonst gesessen, die Jüngste neben sich – da aber stand der leere Stuhl. Und die Uhr an der Wand tickte auch nicht, und die Blumen am Fenster hingen die Köpfe. In den Ecken oder am Tisch lümmelten müßig die Kinder umher oder balgten sich im Garten, und die Hunde hatten es sich wieder bequem gemacht auf dem Sofa und fuhren scheu mit eingezogener Rute an ihm vorüber, obgleich er nicht daran dachte, sie zu strafen.

Er seufzte nur und nahm der Aeltesten das Buch fort, an dem sie sich einen roten Kopf geschmökert hatte, und hieß sie mit barschen Worten, sich um die Geschwister kümmern. Dann ging er in seine Stube, wo er sich vor seinen Arbeitstisch setzte, aber nichts arbeitete. Er hatte hier so gern geweilt, namentlich zu der Zeit, als er sein Hauswesen in Zucht und Ordnung wußte, und nie hatte er daran gedacht, daß es anders werden könnte, so ein thörichter alter Patron war er gewesen!

Nun war es anders geworden, und der Doktor May hatte zu ihm gesagt, er müsse wieder eine Dame haben; ob seine Frau ihm eine engagieren solle? Die Kinder verkämen ja reinweg!

Nein, nein, er wollte es nicht, er könnte keine andere da sitzen sehen auf dem Platz am Fenster! Es müßte so gehen, es müßte! Ostern würde die Agnes konfirmiert, dann komme ihr auch wohl der Verstand mit dem Amte. –

Merkwürdig, daß Hede Kerkow nie wieder heruntergekommen war! Die Kinder ließ sie sich zwar zuweilen hinaufholen, und dann kamen sie ordentlich gekämmt und ausgeflickt wieder. Er selbst hätte es nicht gemerkt, aber die Karoline sagte es, und die Karoline schickte dann auch höchst ungeniert die zerrissenen Höschen, Röckchen und Strümpfe der wilden Rangen durch Agnes zu Fräulein Kerkow, denn dazu habe sie keine Zeit, behauptete sie: und seit ein paar Tagen stieg das Jüngste jeden Morgen um zehn Uhr hinauf und wurde von Tante Kerkow in der Kunst des Lesens und Rechnens weiter unterrichtet, das heißt, es machte seine Schulaufgaben droben unter ihrer Aufsicht, wie bisher in der Kinderstube unten, nur besser.

Heute war des Oberförsters Geburtstag. Er selbst hatte nicht daran gedacht, aber der Strauß Astern und bunter Waldblätter, der auf dem Kaffeetisch stand, erinnerte ihn daran, und ebenso die feierlichen erwartungsvollen Gesichter der Kinder, deren jedes sein Verschen sagte; Tante Kerkow hatte sie dieselben gelehrt.

Es ward ihm sonderbar zu Mut, und der Dank wollte nicht recht aus der Kehle. Er mußte an die Geschichte mit Aenne denken. – – Einmal in seinem Leben war ein Sturmwind über ihn gebraust, hatte ihn in heißer Leidenschaft geschüttelt und gebeugt, und da – – nein, das würde er nie verwinden, das würde ein wunder Fleck bleiben zeitlebens! Und neben diesen Erinnerungen her lief ein anderes Gefühl, etwa als kühle ein linder Hauch diesen wunden Fleck, daß er ihn zuweilen doch vergessen konnte, und der Hauch ging aus von dem Walten, dem bescheidenen, fast unsichtbaren Walten eines gebildeten, verständnisvollen Wesens, das ein Zufall ihm ins Haus geführt, das wie der gute Geist selber in seinen vier Pfählen geherrscht hatte!

Es war ihm der Gedanke nie gekommen, sie zu fesseln für immer, kam ihm auch heute nicht, er hätte nicht den Mut gehabt, die Hand nach der Edeldame auszustrecken – er verehrte sie andächtig, aus der Ferne, als guten Engel seines Hauses. Und nun, seit sie ihn verlassen, wuchs ihm ein sonderbares, starkes Verlangen in die Seele hinein, daß er nichts denken konnte als das eine: ohne sie geht es gar nicht, ist es kein Leben! Und er sah sie beständig da drüben wieder sitzen am Fenster, die Kinder um sich – es war zum Verzweifeln, rein zum Verzweifeln!

Er lachte über sich und schüttelte den Kopf, daß die Kinder verwundert aufhorchten und sich Mit den Ellbogen stießen ob des Vaters sonderbaren Wesens. Und dann fuhr er aus seinem Brüten empor und strich dem stämmigen Buben über den Kopf. „Nun, was kann ich euch denn heute Gutes thun, damit ihr merkt, daß mich eure Gedichte erfreut haben?“

Sie sahen sich untereinander an und schwiegen.

„Wollt ihr Chokolade und Brezeln? Die Karoline soll sie euch nachmittags bringen.“

Sie schüttelten die Köpfe, und die beiden Jüngsten drängten sich an die Aelteste und der Junge wisperte ihr etwas zu.

„Tante Hede soll wiederkommen, wir haben solche Sehnsucht nach ihr!“ platzte der langaufgeschossene Backfisch endlich los und die Thränen schossen ihm in die blauen Augen. „Wir haben Sehnsucht!“ echoten die beiden anderen, und der Junge erklärte altklug: „’s ist ja gar kein Leben mehr, das hat Karline auch gesagt!“

Der Oberförster stand auf und trat von seinem Häuflein fort, er mochte sie nicht sehen in ihrem kindlichen Jammer. „Tante Hede muß den kleinen Heini jetzt pflegen, der hat keine Mutter mehr,“ sagte er gepreßt.

„Wir haben auch keine Mama,“ rief die Jüngste schmollend.

„Aber ihr seid nicht die Verwandten der ,Tante’; der Heini ist ihr Neffe und ist krank, das müßt ihr bedenken.“

„Wenn sie nicht wieder kommt, werde ich aber auch krank!“ trotzte der Junge.

„Vielleicht schenkt uns die Tante einen Nachmittag und trinkt Kaffee mit uns! Geht alle Drei hinauf und bittet sie darum,“ schlug er vor. Und die Eile, mit der sein Vorschlag ausgeführt wurde, ließ ihn trübe lächeln. Er verfolgte die Kinder, am Fenster stehend, mit seinen Blicken; sie sprangen den Schloßberg hinauf, wie losgelassene Füllen, und er stand da noch, als sie wiederkamen mit hängenden Köpfen. Und er, der Vierzigjährige, hatte Herzklopfen wie ein Gymnasiast.

Sie fingen alle Drei zugleich an zu reden: „Sie kommt nicht, Vater, Tante kann nicht – hier ist ein Brief, Vater!“

„Sie will nicht!“ dachte er niedergeschlagen – aber warum? Er nahm das Schreiben und ging hinüber in seine Stube. Ihre Visitenkarte fiel ihm entgegen, unter zierlich gestochenem Wappen der Name: Hedwig von Kerkow, und dazu geschrieben: „wünscht herzlich Glück zum heutigen Tage!“

Hätte sie doch lieber gar nicht gratuliert! dachte er und das Blut schoß ihm in die Stirn. Er legte das Blättchen auf die Spiegelkonsole und rückte näher zu seinen Büchern und Papieren, um sich in die Arbeit zu vertiefen. Die Aelteste trat [246] nach einer ganzen Weile herein und schlich zu ihm. „Tante Hede sagt, sie wäre selbst gekommen, aber sie kann leider nicht fort; sie hat gerad’ den Diener schicken wollen mit der Karte.“

„So, so!“ nickte er. „Ich kann euch nun nicht helfen, ihr müßt eure Chokolade ohne Tante trinken.“

„Vater, ich glaube, Heini muß sterben,“ begann das Kind von neuem, „Tante Hede sah so blaß aus und war so traurig!“

„Erzählte sie euch das?“

„Nein – ich denke nur so. Und sie hat uns alle geküßt und gesagt, wir sollten sehr artig sein heute.“

„Dann seid es nur auch,“ mahnte der Oberförster. „Zur Chokolade komme ich hinüber, heute nachmittag.“

Das Kind ging. Der Vater warf die Feder fort und starrte vor sich hin. Hatte er ihr eigentlich etwas zuleide gethan? Er grübelte und grübelte, aber er fand nichts. – Sie hatte fort gewollt, und er hatte als ehrlicher bescheidener Mensch seine Wünsche den ihrigen nachgesetzt. Nicht einmal zu sagen hatte er gewagt. „Das geschieht mir zu großem Leid!“ Er hatte einfach gesprochen: „Wenn das so liegt, darf ich Sie nicht zurückhalten.“ Er kam gar nicht darauf, der gute einfache Mensch, daß seine Bescheidenheit mißverstanden werden konnte.

Also er fand nichts, er glaubte nur, sie habe ihren alten Stolz hervorgesucht; nun, da es ihr möglich war, wieder standesgemäß zu leben, und – – na ja die Pflege des kranken Würmchens. – Den Nachmittag vergaß er die festliche Chokolade und mußte erst geholt werden. Und die Kinder mochten das Getränk nicht, denn Karoline hatte es anbrennen lassen, Mariechen warf ihre Tasse um und begoß sich von allen Seiten; es war kalt und ungemütlich im Zimmer und der Junge heulte über Zahnschmerzen. Der Oberförster verlangte Karoline zum Heizen. Die Aelteste ging in die Küche, um diesen Wunsch des Vaters zu melden, die vielgeplagte Karoline aber war schlechter Laune und schimpfte entsetzlich, daß sie vom Aufwaschfaß fort sollte, es sei eine heillose Wirtschaft jetzt im Hause, und sie könne das bald nicht mehr aushalten, und wenn einer Witwer sei und habe Gelegenheit zum Heiraten und er thue es dann nicht, so sei das man – „dumm!“ Und der droben könne ja eine Pflegerin halten für sein krankes Kind. Wenn seine Schwester die Frau Oberförsterin nun schon wäre, dann hätte er sie ja auch nicht können so ganz einfach hier wegholen und hätte sich eine andere suchen müssen. So ’ne Wirtschaft, wie die Wirtschaft jetzt hier sei, das wär’ ja, um auf die Bäume zu klettern!

Der Backfisch kam ganz blaß wieder ins Wohnzimmer. Sie stand zuerst hüstelnd umher, setzte sich dann auf den verlassenen Fensterplatz und betrachtete ihren Vater, der, die eine Hand auf dem Rücken, mit der andern den leise weinenden Jungen führend, auf und ab schritt, als sähe sie ihn in ihrem Leben zum erstenmal.

„Vater,“ sagte sie endlich, „Karoline ist böse auf dich.“

„So? Warum denn?“

„Sie sagt, du hättest Tante Kerkow man heiraten sollen, dann wäre die ganze Ravage nicht.“

Er stand plötzlich still und starrte das Kind an; eine jähe Röte war in sein Gesicht geschossen und er hatte eine heftige Antwort auf der Zunge. Aber er beherrschte sich, ließ den Jungen los und ging mit wuchtigen Schritten aus dem Zimmer.

[261]Einer nach dem andern,“ sagten die Leute in Breitenfels; „von der alten Garde oben im Schloß ist nächstens keiner mehr da!“

Nun war auch der alte Medizinalrat an die Reihe gekommen.

In der Adventszeit hatte er die müden Augen geschlossen. „Ein schöner Tod!“ sagten die Leute auch. Der alte Herr war vormittags noch auf dem Schlosse gewesen bei dem kleinen Kerkow, hatte sich nach dem Mittagsessen auf das Sofa gelegt, und als er gar so lange geschlafen, war die Frau Medizinalrat hinübergekommen, um ihn zu wecken. Aber er schlief so fest, der wackere Mann, daß ihn weder der thränenlose Schrei der Frau, noch der Jammer der jungen Magd aufzuwecken vermochte.

Ein Kollege hatte an die Kinder telegraphiert, und Hede Kerkow war heruntergekommen vom Schloß und die Nacht über bei der ganz gebrochenen alten Frau geblieben. Ob sie denn abkommen könne, hatte der Oberförster sie gefragt, der am andern Morgen erschien, um sich zu erkundigen, ob er irgend etwas thun könne für die alte Frau, und um sich zu entschuldigen, daß er nicht gestern bereits gekommen, er habe jedoch erst heute die Trauerkunde erfahren, da er gestern nicht daheim gewesen sei.

„O ja!“ hatte Hede geantwortet, gleichgültig und kurz.

Sie sahen sich seit langer Zeit zum erstenmal wieder, es war in der Eßstube der Frau Rat, die wie ein Steinbild im Lehnstuhl saß und nur von Zeit zu Zeit fragte. „Wie [262] spät ist es denn?“ Aenne sollte um zwei Uhr auf der Station eintreffen.

Der Oberförster sah Hede Kerkow scheu von der Seite an. Das trübe Licht des Dezembertages zeigte ihm ein ganz verändertes, vergrämtes Gesicht, die heitere wohlthuende Ruhe war verschwunden, es lag etwas Gespanntes darin; auch die Bewegung der Hand – sie strich wie gedankenlos die Rechte der alten Frau, die schlaff über die Lehne des Stuhles hing – war nervös.

In diesem Augenblick erschien das Mädchen und meldete, es könne keinen Wagen auftreiben, um das Fräulein abzuholen; alles sei zur Holzauktion und die feinen Kaleschen hätten Ballfuhren auf den Abend.

„Ich werde es Heinz sagen, Frau Rätin, sein Wagen kann fahren,“ erklärte Hede Kerkow.

„Ach Gott,“ jammerte die alte Frau, „giebt es denn keinen, der sich erbarmt und sie darauf vorbereitet, daß ihr Vater schon tot ist? Sie weiß ja nur, daß er schwer erkrankte!“

„Doch, Frau Rätin, ich will mitfahren,“ Hede nahm ihren Mantel wieder um und ging. –

Heinz lehnte im Sofa und las ein Aktenstück, das Erkenntnis des Gerichtes – seine Ehe war geschieden! Heini, der einen größeren Fahrstuhl bekommen hatte, saß, von Polstern unterstützt, aufrecht und malte mit der linken Hand Buchstaben auf eine Schreibtafel, die rechte konnte der kleine Kerl nicht gebrauchen. Hede trug kurz ihre Bitte vor, und der Bruder bestellte sofort das Anspannen.

„Möchtest du das arme Mädchen nicht abholen?“ fragte Hede, nachdem der Diener gegangen war, „ich fühle mich so abgespannt,“ setzte sie zögernd hinzu. In Wahrheit wollte sie ihn aufrütteln aus seiner Lethargie.

„Fräulein May abholen? Ich? – Nein! eine Frau versteht es besser, derartige Mitteilungen zu machen. – Ich – ich bitte dich, verlange das nicht!“ antwortete er.

Er starrte sein Aktenstück wieder an, verschloß es dann in seinen Schreibtisch, ergriff eine Zeitung und begann zu lesen. So that er immer, wenn er allein zu sein wünschte.

„Verzeih’ mir!“ murmelte sie, strich noch einmal über Heinis Blondhaar und verließ das Zimmer.

Heinz sah sie abfahren vom Fenster aus, aber er dachte kaum noch an den traurigen Zweck dieser Fahrt. Er war ein ganz gebrochener, fast stumpfsinniger Mensch geworden – und das wußte er selbst am besten, er – für den es nur noch ein Lebenswertes auf der Welt gab, das Kind. Von heute an war er ein freier Mann, aber er wußte nichts mehr anzufangen mit dieser Freiheit. Und wenn er auch die Energie noch gehabt hätte – das Kind durfte er doch nicht mit hinausnehmen in das ungewisse Leben, in die weite Welt, wo er einen Platz sich erst suchen mußte, der seinen Neigungen entsprach, aber auch seinen Kräften, seinem Können. Es ist heutzutage wahrhaftig nicht leicht, etwas zu finden, und er hatte ja auch in diesem erzwungenen Müßiggang die Kräfte erlahmen lassen.

Das Kind würde nie gesunden, aber Doktor May hatte noch bei seinem letzten Besuche gestern gesagt, er habe eine Rassekonstitution, der Kleine, er werde leben bleiben, und vielleicht, wenn die chronische Entzündung vorüber, könne man es versuchen, ihn das Gehen an Krücken zu lehren. Und dann hatte er Heinz auf die Schulter geklopft und hinzugefügt. „Er kann Ihnen auch so Freude und Ehre machen, er hat Kopf, er denkt. – Man muß immer auf Ueberraschungen gefaßt sein im Leben. Hätt’ ’s auch nicht geglaubt von meiner Aenne, daß sie ’mal – na – – guten Morgen Herr von Kerkow!“

Heute lag der gute alte Mann dort unten starr und kalt! – Und Aenne kam nach Hause, an sein Totenbett, Aenne, die es zu etwas gebracht hatte im Leben. Heinz aber las, seitdem ihr Name in den Blättern genannt wurde, nie mehr die Rubrik „Kunst und Wissenschaft“ in der Zeitung. Dies junge zarte Mädchen hatte ihn beschämt, aus eigner Kraft hatte sie sich losgerissen von einem Mann, den sie nicht liebte, hatte sich trotzig auf ihre kleinen Füße gestellt mit einer Sicherheit, die staunenswert war. Ebenso arm und aussichtslos wie er, hatte sie es gewagt, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen und – hatte gesiegt; er war tot, lebendig tot! Und dazu bemächtigte sich seiner in dieser Einsamkeit zu zweien – er und das kranke Kind – eine unheimliche Angst. Er dachte beständig an die Schwester im Irrenhause, und dann kamen Stunden, furchtbare Stunden, die er mit sich allein durchkämpfte, denn Hedwig mochte er nicht ängstigen durch den Gedanken, daß auch er –?

Das Mädchen that ihm so leid, aber er verstand sie nicht mehr, und sie nicht ihn. Sie war womöglich noch niedergedrückter als er. Im Anfange hatte sie noch versucht, ihn zu ermuntern, hatte dies und jenes ihm vorgeschlagen. Ohne es zu wissen, bereitete sie ihm damit nur eine unerträgliche Pein. So knüpfte sie einmal ihre Ratschläge an seine dichterischen Neigungen, denen er sich bereits als Kadett hingegeben hatte. Ob er die Verse noch habe, die er zuweilen heimgeschickt, fragte sie ihn. Sie bewahre mehrere davon auf, ob sie es einmal an ein litterarisches Blatt senden dürfe? Sie sei überzeugt, es werde reüssieren.

Er hatte darauf gelacht wie toll, so toll, daß ihm die Thränen in die Augen getreten waren, hatte sie auf die Schulter geklopft und gesagt. „Guter Kerl, gieb dir keine Mühe!“

„Wenn du die Verse gleich illustriertest,“ war ihre schüchterne Einwendung gewesen.

„Weiter nichts? Na, laß nur gut sein, mir thut der Kopf weh vom Lachen!“ Und er sah sie an mit einem Blick, in dem so viel Schmerz und Pein lag, daß sie erschrocken schwieg.

Ach, diese Oede! Diese Wüste, die vor ihm lag, vor ihm, dem Schloßhauptmann von Kerkow! Wenn endlich die Zeit um sein würde und seine Kräfte verbraucht, dann pensionierte man ihn wahrscheinlich mit dreihundert Thalern. – Das einzige, was ihn noch retten könnte, war ein Krieg, aber trotz all dem Revanchegeschrei von drüben und aller sonstigen drohenden Anzeichen – es blieb Friede.

Gott sei Dank, mochte er bleiben! Um einer verpfuschten Existenz aufzuhelfen, dazu waren doch schließlich die Kriege nicht da! Und dann das Kind, und wieder das Kind! Hede besaß solch’ komische Art, mit dem kleinen Menschen umzugehen, der die ganze verbitterte, gleichgültig ironische Art des Vaters angenommen hatte, sie wollte ihn behandeln wie die pausbackigen Oberförsterkinder, die noch an Märchen glaubten. Heini liebte die Märchen nicht, „denn ich weiß besser, daß es keine Zauberer giebt, es geht alles natürlich zu,“ erklärte das fünfjährige Kind. „Es giebt auch keine guten Feen, denn wenn’s solche gäbe, hätte Papa eine zu mir geschickt, die mich gesund machen könnte. Er wollte von Tante Hede „wirkliche Geschichten“, und die Qualen, die der Dauphin von Frankreich erlitten, konnte er immer wieder hören. „Seinen Papa hat man geköpft,“ sagte er, „ich habe meinen Papa, der kleine Ludwig war viel schlimmer dran als ich, Tante Hede, und war doch ein Prinz!“

Die Tante, die aus der gesunden Kinderstube des Oberförsters kam, fror es in dieser Atmosphäre von Krankheit, Resignation und Altklugheit. Und doch, das Kind hatte so rührende Züge! Um seinen Vater nicht zu stören, konnte es stundenlang Schmerzen erleiden, ohne zu klagen, konnte ein Uebelbefinden geradezu verheimlichen. Seitdem Heinz Kerkow von seiner Frau verlassen war und sich gewöhnt hatte, stundenlang in dumpfem Brüten zu verharren, eine Cigarre nach der anderen dabei rauchend, hatte das Kind eine zärtliche Rücksicht für ihn, so, als sei der große Mann der Kranke, der gepflegt und geschont werden müßte.

Warum hast du die Dame nicht abgeholt, Papa?“ fragte er jetzt plötzlich, „und was ist denn das für eine traurige Mitteilung, die du ihr nicht machen willst?“

Heinz kam zu seinem Sohn herüber und faßte dessen Hand. „Mein Junge, du mußt es ja auch wissen,“ sagte er, „dein guter Onkel Doktor ist gestorben. Er war alt und müde und ruht nun aus – das ist der Lauf der Dinge.“

„Der Lauf der Dinge“, sprach Heini nach. „Als Großtante Gruber starb, sagtest du das auch.“

„Ja, Heini, das Leben macht müde; das Alter ist der Abend, und wenn die Nacht kommt, schlafen wir.“

Heini nickte. „Ich bin sehr traurig, Papa, ich hatte ihn lieb.“

[263] „Ich auch, Heini, sehr lieb, und nun kommt seine Tochter, und Tante Hede sagt’s ihr, daß ihr alter Papa schläft.“

„Kennst du die Tochter, Papa?“

Heinz streichelte das Blondköpfchen: „Ja, mein Junge, und du kennst sie auch.“

„Nein, Papa!“

„Doch, Heini!“ Sie hielt im Sommer das Glas Milch, damit du trinken solltest – erinnerst du dich?“

„Ja! Nun wird sie wieder weinen; du hättest hinfahren sollen, Papa.“

„Nein, Heini, ich mag nicht sehen, wenn sie weint.“

„Kannst du sie denn nicht leiden?“

Heinz blieb die Antwort schuldig. – Nach Tische, als der Kleine schlief, stand er wieder am Fenster und wartete auf die Rückkehr des Wagens. Er hatte auch den Schloßgärtner holen lassen und ein paar Palmenzweige bestellt, so schön sie da waren. Dann fiel ihm ein, daß er zum Begräbnis gehen müsse – Begräbnisse boten jetzt die einzige Abwechslung in seinem Leben – und da würde er Aenne sehen. Vielleicht schloß er sich auch erst auf dem Kirchhofe an, vielleicht auch vermißte man ihn gar nicht!

Endlich sah er den Wagen heraufkommen längs der Parkmauer, sah ihn über den Schloßplatz rollen und vor dem Hause des Medizinalrats halten. Eine Gestalt stieg aus und verschwand in der Hausthür, der Wagen wandte um und fuhr langsam den letzten steilen Weg hinan.

Aenne war heimgekommen! Arme Aenne, sie hatte den alten Mann so kindlich geliebt und verehrt!

Hede trat bald darauf in das Zimmer, sie hatte verweinte Augen und gab ihm stumm die Hand.

„Sie läßt dir danken für den Wagen,“ sagte sie endlich. „Wie ist es euch ergangen unterdes? War der Tisch ordentlich besorgt?“

„Ich glaube – ja – es war alles in Ordnung.“

„Dann auf Wiedersehen beim Thee, ich will ein wenig ruhen. Sie ging in ihr Zimmer.

Sie war Aenne zum erstenmal begegnet, und die Erscheinung des jungen Mädchens, der Zauber ihres Wesens hatte sie gleich gefangen genommen wie die angstvolle Frage in den großen feuchten Augen, als sie ihr entgegentrat, wie die schlichte, gefaßte Art, mit der sie die bittere Nachricht aufnahm.

„Meine arme Mutter,“ hatte sie gesagt mit einem Aufschluchzen und dann mit ihrer halb heiseren Stimme zum Kutscher: „Nicht wahr, Sie fahren recht schnell?“ Und während des ganzen Weges nur noch einmal. „Haben Sie meine Mutter gesehen? Bekümmert sich denn jemand um sie? Ach, wäre ich erst daheim!“

„Günther befand sich bei ihr, als ich sie verließ, hatte Hede erwidert, aber sehr gepreßt.

„Ach, das ist gut, das ist gut!“ war die Antwort gewesen, und erst dann kamen die Thränen geflossen.

Ja, was war sie neben diesem Mädchen, sie, die arme Hede Kerkow mit ihren fünfunddreißig Jahren? Er hatte jene geliebt, er liebte sie noch, und sie wunderte sich, daß er andere nicht bemerkte!

Es war etwas wie Ruhe über sie gekommen, die Ruhe, die man einer unabänderlichen Thatsache gegenüber empfindet, ein Strich unter alle ihre thörichten Wünsche und Hoffnungen, die sie sich selbst kaum eingestehen mochte. Nur eines sollte die Vorsehung ihr gewähren – daß sie Heinz dem Leben wieder gewinnen könne.


Den alten Herrn hatte man zur Ruhe bestattet. Schon acht Tage waren seitdem vergangen, die Kinder waren noch vollzählig versammelt um die Mutter, die sich in ihrem Jammer nicht zu finden vermochte in das Leben einer Witwe. Der Lieutenant und der Referendar wollten noch über das Weihnachtsfest bleiben, und es gab ja auch noch manches zu besprechen mit der alten Frau, wozu sich bis jetzt der passende Augenblick nicht gefunden hatte. Angenehmes war es natürlich keineswegs. Tante Emilie, die zwölf Stunden später als Aenne in Breitenfels eintraf, gerade noch recht zum Begräbnis – sie hatte doch die kleine Wohnung erst versorgen müssen auf längeres Fernbleiben – war mit Rat und That um die ganz aus den Fugen gekommene Schwägerin bemüht, trotzdem ihr selbst das Herz um den Goldbruder recht weh that. Die alte Frau klammerte sich krampfhaft an ihre Tochter, und Aenne war so mild und geduldig, so tröstend, wie nur sie sein konnte. Sie schlief neben der Mutter, sie hörte das nächtelange Weinen und Jammern und nahm klaglos die Vorwürfe hin, daß sie gefühllos sei, wenn der Jugendschlaf sie überwältigte unter dem Stöhnen der alten Frau.

Heute fühlte sie sich, die allezeit Aufrechte, die ja doch selber so heißen Schmerz um den Vater empfand, nach einer ganz durchwachten Nacht aber so müde und ruhebedürftig, daß sie hinausschlich in ihr kleines Stübchen und es Tante und Brüdern überließ, mit der Mutter auf ein paar Stunden allein fertig zu werden. Frau Rat war jetzt in ein neues Stadium, in das der Bitterkeit, geraten. „Wär’ ich nur gleich gestorben,“ klagte sie wieder und wieder, „läg’ ich auch nur gleich da drunten, dann hätten meine Kinder doch die große Last nicht, die so ein armes, verlassenes, altes Tier verursacht wie ich es bin!“

Der Lieutenant, der etwas von ihrem Temperament besaß, legte das Wochenblättchen hin, in dem er gelesen, und nervös mit dem Finger seinen Halskragen lockernd, sagte er. „Von uns hat sich noch keiner beklagt, Mutter, noch keiner gesagt, daß du eine Last bist. „Du mußt in deinem Schmerz auch nicht ungerecht werden.“

Es war so in der Dämmerung zwischen vier und sechs Uhr, eine Lampe brannte noch nicht, draußen stöberte der Schnee.

„Hat einer von euch gefragt, Mutter, wo wirst du dein Haupt hinlegen? antwortete sie grollend aus ihrem Lehnstuhl am Ofen. Keiner hat das gethan. Ihr lebt hier so hin, als wäre gar nichts passiert.“

„Wenn wir das thaten,“ lautete die gereizte Antwort, „so geschah es überhaupt nur aus Zartgefühl – wir ehrten deine Trauer. Da du nun aber von selbst darauf zu sprechen kommst, Mama, so können wir das Thema gleich erörtern. Wo ist denn Aenne?“

„Oben!“ antwortete Tante Emilie, „sie schläft ein bißchen, laßt sie doch!“ Aber in diesem Augenblicke klinkte die Stubenthür und die schlanke dunkle Gestalt des jungen Mädchens glitt wie ein Schatten in das Zimmer.

„Na, da bist du.ja!“ sagte der Lieutenant, „wir wollten dich eben rufen; man muß doch ’mal darüber reden, was nun werden soll.“

„Ist Mutter hier?“ fragte sie, „in der Dunkelheit kann ich gar nichts sehen.“

„Wo soll ich denn anders sein?“ stöhnte die alte Frau aus ihrer Ecke heraus.

„Setze dich nur, Aenne,“ eröffnete der Lieutenant die Unterredung, „wir brauchen kein Licht. Es ist eben von Mutter die Frage aufgeworfen worden, was nun werden soll mit euch. In diesem Hause werdet ihr ja leider nicht bleiben können, aber in der Nähe, dächte ich, müßte es doch Wohnungen geben?“

Die Witwe begann bitterlich zu schluchzen.

„Weine doch nicht, Muttel“, tröstete Aenne. „Ein Vierteljahr bleibst du jedenfalls noch hier wohnen, und nachher kommst du selbstverständlich zu mir.“

„Das heißt – du kommst zu Mutter,“ erklärte der Referendar, der bis jetzt geschwiegen hatte.

Aenne antwortete nicht.

„Oder willst du etwa, daß sich Mutter noch auf ihre alten Tage an eine Großstadt und eine vier Treppen hoch gelegene Wohnung gewöhnen soll?“

„Dann nur lieber gleich tot!“ erklärte Frau Rat. „Ach, hätte der Vater mich doch mitgenommen!“

„Aber, Mutter“, bat Aenne, „werde doch nur erst ruhiger, es ist ja doch heute noch nicht nötig, einen Beschluß zu fassen!“

„Ja, ja, ich habe alles vorher gewußt! Selbst die einzige Tochter!“ rief sie laut weinend.

„Mutter,“ sagte jetzt das Mädchen mit fester Stimme, „wenn ich nun verheiratet wäre, würdest du dann auch verlangen, ich sollte hierher nach Breitenfels kommen? Nicht wahr – dann kämest du doch zu mir, ganz selbstverständlich zu mir.“

[266] Die alte Frau hörte einen Augenblick zu weinen auf. „Du bist aber doch noch nicht verheiratet!“ warf sie ein wie ein eigensinniges Kind.

„Aber ich habe meinen Beruf, Mutter, einen Beruf, dem ich Jahre meines Lebens opferte, der mich ernährt und beglückt, an den ich gebunden bin wie an einen Mann.

„Ach so – das geht natürlich vor!“ klang es bitter.

„Aber würdest du denn von Robert oder Walter verlangen, daß sie ihren Beruf aufgeben und hier bei dir bleiben?“

„Blech!“ scholl die Stimme des Referendars aus dem Winkel. Der Lieutenant räusperte sich. „So bist du also auch eine von den Frauenrechtlerinnen geworden, die unser Familienleben verderben?“ sagte er gereizt. „Der Beruf der Frau liegt innerhalb der Familie – die Tochter gehört zur Mutter!“

„Habe ich das bestritten? fragte Aenne. „Bis zu meinem letzten Hauch werde ich ihr gehören, ich kenne keine heiligere Pflicht. Und in dem letzten Brief, den der Vater an mich schrieb, vielleicht unter der Ahnung seines Todes, da steht: ’Nicht wahr, Aenne, du bleibst mit Mutter zusammen?’ Er hätte die Mahnung nicht nötig gehabt, auch ohne sie würde meine Kindesliebe wissen, was sie zu thun hat. Aber ich meine doch, daß diejenige von uns, die nur noch ausruht vom Leben, der andern, die mitten darin steht, wirkt und schafft, die da kämpft um ihre Existenz, sich fügen würde.

„Na also, geh’ doch nur,“ lamentierte die alte Frau, „kannst ja gleich gehen, ich habe es dir sofort angemerkt, daß dir der Boden hier unter den Füßen brennt.“

„Lieber Gott, ich kann doch nichts dafür, daß der Vater uns keine Reichtümer hinterlassen hat,“ sagte das Mädchen.

„Ja, wenn ich recht reich hinterblieben wäre, dann würdest du wohl stillsitzen bei der alten Mutter, aber so ein altes Bettelweib mit fünfhundert Mark Pension – das mag doch allein zusehen, wie es fertig wird!“

„Du hast ganz recht,“ sagte Aenne fest, aber merklich heiser, „eben weil wir arm sind, muß ich hinaus und darf deine fünfhundert Mark nicht noch mit aufessen, sie werden ohnehin kaum für dich langen. Die Stimme erstickte ihr vor Aufregung und sie ging schnell hinaus.

Tante Emiliens zur höchsten Empörung gereiztes Organ scholl hinter ihr her. „Seid ihr denn nur alle ganz von Gott verlassen?“ rief die alte Dame. „Ist denn ein Mädchen, weil es nicht geheiratet hat, gerade nur gut genug, um dahin gestoßen und geschubbt zu werden, wohin es die eigensinnige Frau Mutter und die freundlichen Herren Brüder für gut befinden? Hat sie sich dafür gequält mit ihren Studien, Tag und Nacht, um fortan hier in Breitenfels zu versauern? Glaubt ihr denn nicht, daß sie an ihrem Beruf hängt, oder habt ihr so wenig Verständnis, so wenig Achtung vor der Kunst? Glaubt ihr denn, ihr Egoisten, ihr werdet sie vor Armut und Not bewahren können, wenn sie ihre Kräfte jetzt nicht nutzt – ihr beiden armen Teufel, die ihr selbst nichts habt – die ihr nie gegeben, nur immer genommen habt, auch die sauer verdienten Groschen des armen Mädchens!“

„Bitte, ereifere dich nicht,“ unterbrach der Lieutenant sie kühl, „und werde nicht ausfallend! Wer spricht denn davon, daß Aenne ihr Gelerntes und ihre Kunst nicht ferner verwerten soll? Ihre Konzertreisen kann sie doch von hier aus ebenso gut machen wie von Dresden aus, das ist meine Meinung. „Das kann sie nicht!“ schrie Tante Emilie mit einer Stimme, wie man sie ihr nie zugetraut hätte, „sie muß in der Kunst leben, sie muß Musik hören, gute Musik; sie will weiter streben, weiter lernen, das geht nicht hier, und kurz und gut, ich habe das Kind ausbilden lassen und habe infolgedessen auch ein Wort mitzureden! Aenne geht zurück nach Dresden, und wenn die Mutter vernünftig ist, so folgt sie ihr – wenn nicht, dann bleibt sie allein hier, oder einer von euch quittiert und zieht zu ihr, denn ihr seid ihre Kinder so gut wie Aenne – das habe ich gesagt!“

Frau Rat war still vor Entsetzen, auch die beiden Söhne schwiegen; Walter, der Referendar, murmelte nach einem Weilchen: „Verrückte Weiberwirtschaft!“ Als aber plötzlich das Weinen der Mutter aufs neue begann, da kam er leise herüber zu seinem Bruder und flüsterte ihm zu. „Du, laß uns nur ’mal fortgehen, ich schnappe hier über! Und so konzentrierten sie sich beide rückwärts und gelangten unbemerkt auf die Straße.

Als Frau Rat aus ihrem Weinanfall wieder zu sich kam, stand Aenne neben ihr. „Bitte, Mama, setze dich an den Tisch, es ist ein Brief gekommen – Tante bringt gleich die Lampe“. Und sie nahm freundlich die Hand der Mutter und leitete sie zum Sofa. „Mein gutes, altes Muttel“, sagte sie leise und küßte sie. Aber Frau Rat fand sich zu schwer gekränkk, sie erwiderte den Kuß ihres Kindes nicht.

Ein paar Minuten später war das Zimmer erleuchtet und die alte Frau las den Brief mit dick verweinten Augen. Es war ein Schreiben aus der Herzoglichen Kammer, wonach der Witwe des verstorbenen Medizinalrats May das unentgeltliche Wohnungsrecht in dem Hause, das sie bisher mit ihrem Manne inne gehabt habe, durch des Herzogs Gnade bis an ihr Lebensende verliehen sei.

„Doch einer, der Mitgefühl hat,“ sagte sie, „doch einer!“

Aenne rührte sich nicht. Sie hatte eine Handarbeit genommen und nähte. Nun war ihre Sache ganz verloren, das fühlte sie.

„Ihr freut euch wohl gar nicht?“ fragte die Mutter scharf.

„Ach, Mama,“ antwortete Aenne, „ich kann mir ja denken, wie schwer es sein muß, von einem Ort fortzugehen an dem man so lange Jahre glücklich war! Jetzt – freilich – wirst du hier bleiben?“

„Und du also zu mir kommen?“

Aenne sah sie nur groß an, und plötzlich mußte die Mutter den Blick senken vor diesen stillen, ernsten Mädchenaugen. „Es ist deine Pflicht“, murmelte sie verlegen.

„Ja, Mutter, und sie wird mir leicht werden, denn ich habe dich sehr lieb,“ sagte Aenne herzlich.

„Ich habe keine Kinder gehabt,“ brummte Tante Emilie, „aber so viel verstehe ich denn doch davon, daß Pflichten immer gegenseitig sind.“

„Tante!“ bat Aenne.

„Was hat sie gesagt?“ forschte Frau Rat mißtrauisch.

Das Klingeln der Hausthür enthob Aenne einer Antwort, dann brachte das Dienstmädchen eine Visitenkarte herein. ,Dr. med. Lehmann, praktischer Arzt’, stand darauf.

Frau Rat wußte von ihm nur, daß er sich vor einiger Zeit im Städtchen niedergelassen hatte. Sie sagte dem Mädchen, sie lasse den Herrn Doktor bitten, einzutreten.

Aenne erhob sich, um hinauszugehen, aber die Mutter rief ihr ungeduldig zu, sie solle bleiben. Tante Emilie ließ sich indes nicht halten. Doktor Lehmann trat herein, ein junger, etwas untersetzter Herr, dem die Mensurschramme über der linken Wange gut zu der frischen Art seines Auftretens stand und dem es sichtlich schwer fiel, seinen offenen lebenslustigen Zügen den von der Situation geforderten Ernst zu geben. Nach mehreren Höflichkeiten über den Tod des verehrten Herrn Kollegen rückte er heraus mit dem, was er wollte. Er habe gestern abend vom Rentmeister gehört, daß die verehrte Frau Rat hier wohnen bleibe. Nun komme er, zu fragen, ob vielleicht Frau Rat geneigt sei, ein paar Zimmer an ihn zu vermieten. Sie möge ja entschuldigen, daß er schon jetzt, während der tiefen Trauer, danach frage, indessen der nahe Kündigungstermin treibe ihn dazu, und in der untern Stadt seien bereits mehrere Kollegen ansässig, und Frau Rat wisse auch wohl, daß es einem Anfänger immer recht schwer gemacht werde, und so hoffe er –

Aenne stand plötzlich auf und ging hinaus. Es war ihr peinlich, zu hören, wie seine Bitte abgelehnt wurde, und daß die Mutter ablehnen würde, glaubte sie bestimmt. Sie setzte sich, in ihren Schmerz versunken, in der Küche auf den Stuhl am Herd, auf dem sie schon als kleines Mädchen so gern gesessen hatte, um in die zuckenden, spielenden Flammen zu schauen sie hatte so oft in Dresden von diesem traulichen Plätzchen geträumt. Heute wanderten ihre Gedanken von hier nach Dresden, in ihr liebes kleines Heim unterm Dach, wo sie so viel gelernt hatte, unter anderem auch, wie man sein thörichtes, sehnsüchtiges Herz bezwingt, wie man zufrieden wird. – Fahr’ wohl, du schönes Leben voll Arbeit und frischer Schaffenskraft! Was wird ihre Lehrerin sagen? Was alle die Konzertunternehmer, denen sie sich verpflichtet hatte auf ein Jahr hinaus? Ein Weilchen würde es ja gehen von hier aus, aber dann – dann würde es heißen die May schreitet nicht mehr vorwärts, dann wird sie so langsam verschwinden aus dem Gedächtnis der Arrangeure und des Publikums, und dann [267] fängt die große Oede und Einsamkeit an. Sie würde dann hier Gesangstunden geben, den Töchtern der Oekonomen aus der untern Stadt und von den umliegenden Gütern, die wollen dann Lieder von Abt singen und werden Brahms scheußlich finden und wenn’s Glück gut ist, darf sie bei ein paar Konzerten in der Kreisstadt mitwirken.

Tante Emilie trat zu ihr. „Verliere den Mut nicht, Kind! Man ißt nichts so heiß, wie es gekocht wird.“

Aenne nickte. „Ich hab’ ’s dem Vater versprochen, Tante, und Mutter kann auch nicht immer allein sein, ich dachte nur, sie hätte mich so lieb, daß sie – – aber es ist wahr, es ist ein unbilliges Verlangen von mir gewesen.“

„Laß nur,“ tröstete die Tante, „ich bin alt und bleibe bei ihr, und du bist ein verständiges Kind, du gehst allein ins Leben hinaus. Sie werden sich das alles noch überlegen, die Mutter und die dummen Jungen dazu, die haben’s doch gern genommen, wenn du ihnen was schicktest, und werden’s vermissen.

Aenne schüttelte den Kopf. Nein, Tante, ich will der Mutter den Lebensabend nicht verbittern, es war ja nie nach ihrem Sinn, daß ich hinausging, sie hat immer Kummer um mich gehabt.

„Natürlich, du solltest heiraten und thatest es nicht.“

Aenne seufzte. „Reden wir nicht mehr davon, Tante!“ bat sie.

Nun hörten sie, wie die Stubenthür ging und wie die Mutter den Gast hinausbegleitete. Nach einem Weilchen trat sie in die Küche, es lag auf ihrem Gesicht zum erstenmal wieder ein Ausdruck, der an die thätige wirtschaftliche Frau von früher gemahnte.

„Ich habe die Zimmer vom Vater vermietet,“ sagte sie, „Neujahr zieht er ein, natürlich – vorbehaltlich der Genehmigung der Herzoglichen Kammer.

Aenne erbleichte. „Vaters Zimmer – vermietet?“ stotterte sie, „Vaters Zimmer?“

„Mit den Möbeln – was soll man machen, um durchzukommen?“

Keine der beiden Ueberraschten antwortete; Aenne verstand ihre Mutter nicht. Eben noch der Kampf um ihr Dasein, jetzt das schnelle Preisgeben der Wohnräume des Verstorbenen an einen Fremden – –

„Es ist doch besser, ich habe einen Schutz im Hause,“ fuhr die Rätin fort,„als wenn wir Frauensleute so allein wohnen – und sie schalt zum erstenmal wieder auf das kleine Dienstmädchen, weil der Wasserkessel beinahe leer auf dem Feuer stand. In ihrem Herzen war wieder eine Hoffnung aufgegangen – der Doktor hatte Aenne so bewundernd nachgeblickt, als sie hinausging.

Aenne aber stieg hinauf in ihr Stübchen; sie lehnte die Stirn an die Scheibe und Thränen flossen ihr aus den Augen, so daß das einsame Licht in dem Erkerfenster des Schlosses droben zu allerlei Gestalten verschwamm vor ihren Blicken. Und der dort bei dem Lichte saß – der war noch unglücklicher als sie.

Und auf einmal erfaßte sie ein thörichtes, riesengroßes Verlangen, neben ihm zu sitzen, den Kopf gegen seine Schulter zu legen und unter Thränen zu sagen: „Ach, wir beide, Heinz, wir beide – was ist aus uns geworden!“ Aber dann würde er sie ansehen, so gleichgültig und kalt und fremd wie am Begräbnistage.

Es fror sie plötzlich, die kleine Aenne May, und sie schlich hinunter in die Wohnstube zu Mutter und Geschwistern und saß da mit wehem Kopf und hörte, wie die Brüder es sehr vernünftig fanden, daß Mutter den Doktor als Mieter angenommen hatte.

Und in dieser Nacht weinte die alte Frau nicht, zum erstenmal nicht seit dem Tode ihres Mannes, sie schlief.

[277] Hede Kerkow konnte es nicht lassen, sie trug die kleinen Sächelchen, die sie für die Kinder gearbeitet hatte, am Heiligen Abend in der Dämmerung nach der Oberförsterei hinunter. Sie wußte, der Oberförster war nicht zu Hause, er pflegte an diesem Tage immer noch ’mal einen Gang durchs Revier zu machen, den Wilddieben zum speziellen Vergnügen, die auf einen Festtagsbraten pirschten. Es gab dort ein paar arg verrufene Kerle in der Gegend, die aber, wenn sie dem Oberförster auf der Chaussee begegneten, ganz besonders höflich grüßten und deren Gruß von ihm leutselig erwidert wurde. Der Grüßende dachte dann: Hol’ dich der Teufel! Der Kerl hat die Nase überall – ich wollt’, er fiele in sein eigenes Gewehr! – Und der andere dachte: Warte nur, alter Freund, einmal krieg’ ich dich doch, und wenn du noch so unschuldig daher trottest und – dann gnade dir Gott!

Hede hatte zuweilen durch den alten Knecht des Hauses grausige Geschichten von Wilddiebereien gehört, und als am vergangenen Weihnachtsabend der heimkehrende Oberförster erzählte, daß der „lange Schreiber wieder wildere“ und, vom Förster Roberti verfolgt, auf diesen geschossen habe, da hatte ihr das Herz still gestanden vor Schrecken. „Aber wenn der Schuß nun getroffen hätte? war ihre bange Frage gewesen. Darauf die Antwort. „Je nun, Fräulein von Kerkow, dann hätte man den armen Kerl seiner Frau zur Weihnachtsbescherung tot oder verwundet ins Haus gebracht, und der erste wär’s nicht gewesen, dem es so erging.

Weiter nichts – aber es war gerade genug. Hede Kerkow hatte seither immer Unruhe gehabt, wenn der Oberförster nicht zur rechten Zeit heimkehrte. Es wäre so schrecklich für die armen Kinder gewesen – damit hatte sie ihr klopfendes Herz entschuldigt vor sich selber. Heute ging sie so gegen fünf Uhr hinunter in die Oberförsterei. Sie wollte ganz rasch unter die Kinder ihre kleinen Gaben austeilen und dann in der Schloßkirche die Weihnachtspredigt anhören.

Heinz hatte seinem armen Jungen bereits um vier Uhr einbeschert. Die Augen des kranken Kindes hingen mit anderm Ausdruck an den Lichtern des Baumes wie sonst wohl Kinderaugen, und Heinz? Er war wortkarger gewesen als je und hatte imdunklen Erker gestanden und hinausgeblickt in die Ferne, als ob er dort etwas suchen müßte, so daß Hedwig zum erstenmal der Gedanke aufgestiegen war, ob er Toni doch vielleicht geliebt habe.

Heinz hatte der Schwester auch etwas geschenkt – Geld zu einem Kleide oder Mantel oder dergleichen.

„Nimm’s nicht übel, es ist mir schrecklich, Frauenzimmern Geschenke zu kaufen, ich versteh’ ’s nicht“, hatte er gesagt. Die Gabe von ihr hatte er kaum angesehen, es war ja auch schließlich weiter nichts – ein Bildchen Heinis Köpfchen nach einer Photographie auf Porzellan gemalt. Lieber Gott, eine Künstlerin war sie natürlich nicht, aber sie hatte doch gemeint, er werde sich darüber freuen!

Sie wischte eine Thräne von der Wange, als sie jetzt den Drücker an der Hausthür der Oberförsterei faßte, und im nächsten Augenblick hatte sie wirklich unter dem Jubel der Kinder das eigne Leid vergessen. Als ob das Christkind in eigner Person erschienen sei, so glücklich waren die Kleinen, so [278] umarmten, umschrieen und umtanzten sie die langersehnte, böse, liebe Tante in der alten lieben Wohnstube, in der es gleichwohl nicht die Spur weihnachtlich aussah. Auch Karoline lief herzu und freute sich. „Nee, endlich ’mal – endlich ’mal, Fräulein, und wie wird sich man bloß der Herr freuen, wenn er zurückkommt! Und Sie bleiben doch zum Karpfen? Ich hab’s immer noch nich ’raus mit die Meerrettichsauce.“

Aber die Kinder erklärten, sie ließen die Tante nicht in die Küche, und die Tante müsse helfen den Weihnachtsbaum putzen in der guten Stube, Agnes hätte das thun sollen, aber die Lichter purzelten immer wieder herunter. „Gelt, Tante?“ scholl es, „du bleibst hier?“ und dann umschlangen sie die sechs Aermchen und die glücklichen Kinderaugen lachten sie an, und was wurde ihr alles versprochen wenn sie bliebe!

„Das Schönste, was ich bekomme, gebe ich dir,“ versicherte der Junge, „zur Hälfte wenigstens,“ setzte er geschwind hinzu. Und klein Mariechen erklärte: „ich nehme Vater das Seifenfleckel wieder fort und schenke es dir, wenn du bleibst. Und ihr? Ihr liefen die dummen Rührungsthränen aus den Augen, und sie sagte nun: „Kommt rasch, ich putze den Baum, – dableiben kann ich aber nicht, denkt doch an den armen kleinen Heini!“ Im Salon zündete sie die Lampe an, auf welcher der Staub fingerdick lag, und schürte das Feuer, denn noch war es längst nicht warm, dann machte sie sich mit fieberhafter Eile über den Baum her. Die Kleinen standen mit glühenden Gesichtern und sahen zu, Agnes reichte das Konfekt und die Wachslichter. Als er hergerichtet war, holte Hedwig ein Tuch und wischte den Staub so hastig, als thäte sie etwas Verbotenes, bei dem sie sich um Gottes willen nicht abfassen lassen dürfte; in zitternder Hast legte sie dann ihre kleinen Geschenke unter den Baum, nachdem sie vorher die Kinder hinausgesperrt hatte, und wie ein Wirbelwind war sie plötzlich in der Küche und quirlte die Sahne zur Karpfensauce.

„Wann kommt der Herr zurück?“ fragte sie dabei.

„Ach, das kann spät werden,“ meinte der alte Knecht, „er wollte ins Buchroder Revier und ist hingeritten.“

Hede warf einen Blick auf die Uhr, es war noch nicht halb Sechs. „Ich muß um sechs Uhr fort, Karoline, muß noch in die Kirche,“ sagte sie. „Merk’ auf – vor dem Anrichten thust du den geriebenen Meerrettich in die Sahne, das ist alles.“

„Ach, Fräulein, warten Sie doch noch einen einzigen Augenblick. Ich hab’ so’n nötigen Gang,“ bettelte das Mädchen „nachher sind die Läden alle zu und ich möchte so gern noch einen Shawl kaufen für meinen Fritz und kann die Kinder doch nicht allein lassen!“

„Ja, aber, liebe Karoline, dann rasch!“ Und Hede setzte sich ganz nervös auf den Küchenstuhl „Bitte, rasch, Karoline!“ wiederholte sie.

„Aber wie ein Hase laufe ich,“ rief diese, nahm den flanellgefütterten Kattunmantel und stürzte hinaus, als ob es brennte.

Draußen sagte sie vor sich hin, indem sie ihre Eile mäßigte „Na, warten Se man een beten, bis der Herr Oberförster nach Hause kommt – ick hab’ kein’ Eil’ Und als sie nach einer längeren Weile zurückkehrte, saß Fräulein von Kerkow noch da und sah mit gefurchter Stirn vor sich hin und hatte gar nicht gemerkt, daß Karoline eine geschlagene halbe Stunde fortgewesen war.

„Es ist noch viel Zeit bis zur Kirche,“ sagte das Mädchen, „ich danke auch schön, Fräulein von Kerkow. Ein Paar Strümpfe habe ich auch noch rasch gekauft für den Fritz.“

Hede erhob sich. „Holen Sie mir Hut und Mantel, Karoline, ich will jetzt gehen, den Kindern sage ich nicht Gute Nacht, sie fangen sonst wieder an zu quälen.“

„Herrjeh! Ja, ja,“ meinte das Mädchen, „ich wundere mich überhaupt, daß sie so still sind. Sie werden wohl am Fenster stehen und auf den Vater passen. – Fräulein, ich gehe gleich und hole den Mantel, will nur erst ’mal nach dem Feuer sehen. Und sie ergriff einen Armvoll Holz und schob es bedächtig, Stück für Stück, unter den Herd.

Da klingelte es. Hede Kerkow aber verharrte noch regungslos auf dem nämlichen Flecke. Natürlich war er es. Der Knecht hinkte über den Flur ihm entgegen, Karoline aber begann eine vorwurfsvolle Rede:

„Und das wäre doch ’mal ’ne Upmunterung gewesen vor den armen Mann, der so wie so nichts nich auf der Welt hat. Bleiben Sie doch man dies einzige Mal da, Fräulein, es ist ja doch Weihnachten und die Bälger sind doch rein vom Bändel los vor Vergnügen!“

Hede Kerkow stand da, wie wenn man sie beim Stehlen ertappt hätte, und wartete auf den Augenblick, wo die Thür zu des Oberförsters Zimmer gehen sollte, um dann unbemerkt zu entwischen. Aber da drangen schon die Stimmen der Kinder aus dem Hausflur herüber die den Vater mit der Jubelbotschaft empfingen: „Die Tante ist da, Vater! Um fünf Uhr ist sie gekommen! Sie will nicht hier bleiben, aber du läßt sie nicht fort – gelt, Vater?“ Und dann lief Karoline zur Küchenthür, riß sie auf und schrie „Hier ist die Tante!“

Hede Kerkow sah ein, daß sie gefangen war. Sie wollte wenigstens einen ehrenvollen Rückzug antreten, und deshalb ging sie ruhig dem Oberförster entgegen, der da inmitten seiner Kinder noch in Flausch und Mütze stand, auf denen die Schneeflocken lagen wie auf den Weihnachtsmännern in den Spielwarenläden der Eisflimmer.

„Ich will nicht lange stören,“ sagte sie freundlich, „ich möchte zur Kirche gehen. Es freut mich, daß ich Ihnen noch ein frohes Fest wünschen kann.“

„Danke, Fräulein von Kerkow! Es thut mir nur leid, daß Sie mir nicht die Freude machen wollen, den Heiligen Abend mit uns zu verleben. Er nahm die Mütze ab und setzte sie seinem Jungen auf, dann zog er den Flausch aus und warf ihn Agnes über den Arm. „Einen Augenblick aber treten Sie doch wohl ein!“ bat er, „sonst muß ich wahrlich denken, daß Sie gehen, weil ich komme.“ Und als die Kinder eilfertig die Sachen fortschleppten, wandte er sich der Wohnstube zu.

Da rief Agnes zurück: „Dort darfst du nicht ’rein, Vater, dort liegen ja unsere Geschenke für dich!“

Nun machte er gehorsam kehrt und schritt nach seiner Stube. „Ich bitte, hier vorlieb zu nehmen,“ sagte er.

Einen Augenblick zögerte sie, dann folgte sie ihm. Er ging zum Schränkchen, auf dem die Lampe stand, zündete sie an, trug sie auf den Tisch und bat Hede, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

„Es ist noch ebenso hier, wie Sie sehen,“ sagte er und lächelte ein wenig melancholisch. Und dann saß er ihr gegenüber, starrte auf die verblichene Tischdecke, mit deren Fransen er spielte, und schwieg. Und Hede schwieg auch, und beiden klopfte laut das Herz. Von draußen schollen noch einmal die Stimmen der Kinder herein, dann ward es ganz still.

Karoline hatte sie in die Küche gerufen „die Bälger,“ wie sie sich ausdrückte, und da sagte sie: „Nu hört ’mal zu! Wir gehen alle in die Kirche – den großen Christbaum am Altar, den müssen wir sehen. Unterdes baut Vater auf und Tante hilft ihm. Karoline war auf einmal Diplomatin geworden. Jetzt oder nie! dachte sie. Und im Umsehen war sie fertig mit ihrer Schar und zog zur Hausthür hinaus, nachdem sie über die „ollen Karpen“, die noch lustig im Faß plätscherten, ein Brett gedeckt hatte. „Und achten Sie aufs Feuer, David,“ sagte sie zu dem alten Knecht, „und wenn der Herr uns sucht – wir sind man bloß ein bißchen in die Schloßkirche gegangen.“

Unter dem Geläut der Glocken stiegen sie den Schloßberg hinan und traten in das Gotteshaus, in dem es heute so feierlich war wie nie. Die großen Kronleuchter brannten und die Jungen aus der Realschule sangen

„O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!“

Es hatten sich viele Leute dort versammelt, nur Tante Hedes Platz im Nachbargestühl, der dem Herrn Schloßhauptmann zugehörte, just unter der herzoglichen Empore, war leer. Karoline verwandte kein Auge von dem kleinen Thürchen, das in dieses Betstübchen führte, aber es blieb geschlossen, kein Fräulein von Kerkow kam über die Schwelle, und auch der Herr Schloßhauptmann fehlte.

Der Prediger trat auf die Kanzel, und die drei Blondköpfe vor Karoline lauschten mit großen gläubigen Kinderaugen, und [279] das arme Dienstmädchen hinter ihnen hatte unter ihrem großen Tuchmantel die Arbeitshände gefaltet und hielt einen Gottesdienst für sich. Sie betete: „Lieber Gott, ich will ja nichts für mich, ich bin ja soweit zufrieden, aber mach’s doch richtig mit denen da drunten. Gut sind sie sich, das ist sicher, und der Mann wird ja noch ganz quatsch so allein in dem ollen großen Hause, von die Kinder gar nich zu reden, die verwildern ganz und gar. Ich kann doch nich ewig da bleiben, denn Fritze hat nun die Wildhüterstelle und will doch auch ’ne warme Suppe haben abends, wenn er nach Hause kommt, und Ostern will er nu mal partuh heiraten. Wenn er aber nich heiratet, denn wird’s nichts, ich kann ihn doch nich sitzen lassen mit ’n neues Mädchen, die nich aus und nich ein weiß, und Agnes ist doch ma in der Wirtschaft ’ne richtige Null! Mach’s richtig, lieber Gott, schenk’ dem Mann die Frau und den Kindern die Mutter zum heiligen Christ! Amen!

Der Prediger sprach endlich auch sein „Amen!“ Jubelnd erscholl der alte Weihnachtsgesang „Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich“, durch die Kirche, und Karoline nahm Mariechen bei der Hand, die Großen gingen voran, so schoben sie sich durch die Menge aus dem Portal auf den Schloßhof hinaus.

Gottlob, das Betstübchen war leer geblieben!

„Der Vater ist in seiner Stube,“ rief Agnes, „siehst du, Karoline, der hat ’s Weihnachten vergessen!“

„Wart’ doch ab, du,“ brummte das Mädchen, „und lauf’ ’mal nicht so! Herr Jesses, du wirst noch fallen, bei die Glätte! Aber sie selber hatte eine Art Geschwindmarsch eingeschlagen, und jetzt lief sie förmlich um die Wette mit den Kindern dem Hause zu. „Willst du wohl, dummer Bengel! Wir gehen über den Hof,“ rief sie, und so kamen sie wieder durch die Hinterthür, der alte Knecht saß am Küchenherd und schlief.

„’n abend!“ schrie Karoline ihm in die Ohren, „hat der Herr nicht gerufen? „Nee, ich hab’ nichts gehört.“

„Ist er fortgegangen?“

„Is mich nich bewußt.“

„Weil du slapen hast, oller Dooskopp“, erklärte Karoline, „dat Füer is och ut. Nu seid ihr ganz still, wandte sie sich an die Kinder, „ich denk’ mir, der Vater is schon in der guten Stube beim Christkind – ich will ’mal nachsehen.“

Und damit ging dies drollige, gute, dummdreiste Menschenkind in die Schlafstube des Oberförsters, hob den Vorhang vor dem Thürfenster und lugte in ihres Herrn Zimmer. Sie hätte beinahe einen Juchzer ausgestoßen, aber sie besann sich noch, biß sich auf den Finger und focht mit den Armen wie toll in der Luft herum, vor Wonne über das, was sie sah. Dann schlüpfte sie leise davon – „Gott sei Lob und Dank!“

„Kinders,“ sagte sie mit verschmitztem Lachen, „ihr müßt heut’ noch warten, Vater hat noch keine Zeit, aber dafür kriegt ihr auch ganz was Apartes zum Heiligen Christ. Die Kinder machten erwartungsvolle Gesichter und fügten sich, vorläufig interessierte sie die Zubereitung der Karpfen. Aber das Wasser brodelte längst auf dem Herde und noch immer war eine Totenstille im Hause. Da riß Karoline die Geduld.

„Nu kommt, Kinders – was zu doll is, is zu doll! Es soll doch einer über so’n bißchen Liebesglück nich seine leibhaftigen Würmer am heiligen Weihnachtsabend vergessen!“

Und umringt von ihnen, schritt sie zur Thür der Stube des Herrn Oberförsters und klopfte mit hartem Finger, und Hermann donnerte mit den Fäusten dagegen.

„Vater! Vater!“ schrieen die Mädchen, „es ist beinah’ Acht!“

„Herein!“ scholl es, und da stürmten sie hinein, und mit Ausnahme von Karoline, die ja nicht mehr überrascht werden konnte, blieben sie mit offenem Mund und starren Augen stehen. Da saß der Vater auf dem Sofa und neben ihm ganz rot, ganz verweint und doch lächelnd, ihre Hand in des Vaters Hand, ihren Kopf an seiner Schulter, die Tante – die Tante Hede. Und Karoline flüsterte dem Mariechen etwas ins Ohr und verschwand dann, die Thür hinter sich zuziehend. Das Kind stand noch einen Augenblick, dann lief es zu Hede. die es lachend und weinend auf den Schoß hob.

„Ist’s wahr, daß du meine Mama wirst?“

„Ja! Ja! Kommt her!“ rief der Oberförster. „Die Tante will es, sie will bei uns bleiben – das schenke ich euch zu Weihnachten, Kinder, eine neue Mama, eine Mutter! Und er stand auf und hob seinen Jungen empor und setzte ihn neben Hedwig, und dann zog er seine Aelteste heran. „Dir hat sie am meisten gefehlt, Große, freust du dich denn auch?“

Das Kind aber barg den Kopf an des Vaters Brust und fing an zu weinen.

„Ich hab’ mir’s doch schon zum Geburtstag gewünscht“, sagte sie.

„Und nun hört! Heute abend bringt das Christkind euch nichts, ich will Tante Hede hinaufbegleiten sie muß ihrem Bruder erzählen, daß sie eure Mutter werden will. Aber morgen, dann zünden wir beide euch den Baum an. Ihr werdet nachher recht vergnügt und artig zu Bette gehen und euch auf morgen freuen.

In Anbetracht der neuen Mama wurde die hinausgeschobene Christbescherung genehmigt, und nach einigen Minuten gingen Oberförster Günther und Hede Kerkow nebeneinander durch die Dunkelheit der heiligen Nacht. Droben im Erker brannte das einsame Lichtlein wie immer, im Doktorhause war alles dunkel, nur über ihnen flammten die Sterne, diese ewigen Weihnachtslichter. Er hatte ihre Hand genommen und atmete hörbar.

„Hede, sagte er gepreßt, „mir ist, als habest du Schweres zu überstehen heute – dein Bruder –“

„Sei ohne Sorgen – er braucht mich nicht,“ antwortete sie. Aber auch ihr klopfte das Herz.

Dann nahmen sie Abschied für heute abend. „Ich danke dir! Ich danke dir,“ sagte er leise, „mögest du es nie bereuen!“

„Ich danke dir“, antwortete sie hell und fröhlich. Du weißt nicht, du weißt ja nicht, wie arm und heimatlos ich war, wie reich ich jetzt bin wie lieb ich dich habe!“

Er wollte sie an sich ziehen, aber sie hielt ihn zurück. „Mehr als du mich!“ setzte sie leise hinzu, „viel mehr!“

„Nein!“ sagte er.

„Wirklich?“

„Ja, Hedwig! Ich habe dir ja alles gebeichtet, du vermagst dir nicht vorzustellen wie ich mich nach dir gesehnt habe, all die Zeit her.“

„Aber –?“ Sie wandte den Kopf und sah bang zu dem dunklen Hause hinunter, in dem sie Aenne wußte.

„Das? Das ist ausgekämpft, Hede, und jetzt ist’s klar in meiner Seele, und so ruhig, so tief innerlich froh und friedlich fühle ich mich.“

„Leb’wohl“, flüsterte sie gerührt, „auf morgen! Leb’ wohl!“

Sie sahen sich ein Weilchen in die Augen, dann zog er sie an sich und küßte sie.

Heinz, der sonst kaum sah und hörte, ob die Schwester im Zimmer sei oder nicht, vermißte sie heute. Vielleicht waren die Kerzen des Weihnachtsbaumes schuld daran, daß er die Zusammengehörigkeit mit ihr wieder fühlte, die Erinnerung an die süße, gemeinsam verlebte Kinderzeit! Er wartete, zuerst ungeduldig, dann ward er unruhig, einigemal pochte er an die Thüre ihres Zimmers – vergebens.

Wundern konnte er sich nicht, wenn sie eine wärmere Atmosphäre aufsuchte als die, welche hier herrschte, indes heute, heute am Weihnachtsabend? Und wo mochte sie sein? Vielleicht bei Mays? Aber es sah ihr gar nicht ähnlich, sich an solchen Festtagen in intime Familienkreise zu drängen. Möglicherweise auch hatte sie ein paar Arme, denen sie bescherte. Er erinnerte sich, daß sie immer nähte und strickte in letzter Zeit, wenn er sie sah. Es konnte auch sein daß sie bei ihren ehemaligen Pfleglingen sich befand, lieber Gott, warum auch nicht, wenn’s nur nicht gerade heute gewesen wäre!

Das alte Schloß war so spukhaft still an diesem Abend. Das Dienstmädchen saß vermutlich beim Punsch in der Dienerstube, die im Souterrain lag.

Eine Viertelstunde lang hatte das mächtige Geläute der Schloßkirche die Zimmer durchtönt, und ihn hatte es unterhalten, die Kirchgänger den Berg hinaufsteigen zu sehen. Heini war [280] schrecklich müde vom Bilderbesehen. Heinz hatte ihm, da anderes Spielzeug dem Kinde nicht zusagte, ein ganzes Dutzend der heiß ersehnten Bilderbücher geschenkt. Nun sollte er ihm etwas erzählen und konnte doch vor Unruhe kaum still sitzen. Im Auf- und Abgehen sprach er, wie unter einem inneren Zwange stehend, von den Weihnachten seiner Kinderjahre, wie Otti und Hede ihn, den Kadetten, vom Bahnhofe abgeholt hätten nach Hause, wo Berge von Kuchen ihn erwarteten, und wie sie alle Drei so gar nicht gewußt hätten, was anfangen, bis zu dem heiß ersehnten Glockenzeichen.

„Warum ist Tante Otti nicht bei uns?“ fragte Heini.

„Sie ist krank.“

„Was fehlt ihr denn?“

„Das verstehst du nicht, mein Liebling.“

Der Kleine schwieg und Heinz dachte weiter an die Zeiten, wo er sich so wohl gefühlt hatte unter den Verhätschlungen seiner Schwestern, besonders Hede die war gerade zu erfinderisch gewesen in Liebesbeweisen. Wie hatten sie beide miteinander getollt, gelacht, wie ernsthaft hatte sie davon gesprochen, ihm dereinst die Frau auszusuchen, und mit welch rührender Bereitwilligkeit gab sie ihm die paar Groschen ihres Taschengeldes, wenn Ende des Monats nichts mehr in seinem Portemonnaie war! Und jetzt – jetzt redeten sie kaum miteinander, und am Weihnachtsabend war sie nicht daheim – –.

Es war seine Schuld, das fühlte er deutlich. Er war im Unrecht! Er stößt da das beste, was er, nächst seinem Kinde, noch im Leben hat, mutwillig von sich. – – Wenn sie nachher kommt, dann will er sie umfassen und sie bitten, Geduld mit ihm zu haben, will sie bitten, ihm zu helfen, das Leben weiterzutragen. Er will ihr alles gestehen, wie und warum er gelitten, wie er gearbeitet, wie er den Mut zu weiterem Schaffen verloren. Er will sich an ihr, an dem treuen Schwesterherzen wieder aufrichten. Er ist so weich gestimmt wie einst vor Jahren, wo sein Kinderauge in den Glanz des Weihnachtsbaumes schaute.

„Möchtest du, daß Tante Hede bald kommt?“ unterbricht Heini des Vaters Gedanken.

„Gern, Heini, und weißt du, dann wollen wir Tante bitten, daß sie abends immer bei uns bleibt.“

„Ja, Papa! Warum thatest du das nicht schon lange?“

Heinz wurde verlegen. „Tante hatte Weihnachtsarbeiten,“ sagte er unsicher.

„Sieh ’mal, sie hat dich gemalt; und hat dir die hübsche Bluse genäht; aber nun wollen wir sie bitten, daß sie bei uns bleibt, und dann lesen wir und spielen Halma, und das Pianino schieben wir hierherein und Tante singt uns Lieder vor – möchtest du das?“

„Freilich, Papa!“ antwortete der Kleine und seine Augen glänzten. Und dann klopfte es plötzlich und gleich darauf trat Hede ein.

Heinz erwiderte ihren „Guten Abend!“ nicht, er sah sie nur groß an, erstaunt, befremdet. So hatte sie ausgesehen vor fünfzehn Jahren, so rosig, so jung, so hübsch. Eine Strähne der dunklen Scheitelhaare hatte sich gelockert und hing ihr über die Stirn, die Lippen, die sonst einen so herben Zug hatten, ließen nun im halb verlegenen Lächeln die weißen Zähne durchblitzen – wie ein Wunder erschien sie ihm.

„Heinz! bist du böse?“ fragte sie und ging zu ihm hinüber und erfaßte seinen Arm.

Er schüttelte den Kopf.

„Hast du auf mich gewartet?“

„Ja!“ sagte das Kind anstatt des Vaters, „sehr haben wir gewartet, und wir wollten dich um etwas bitten.“

Sie blickte von einem zum andern und ihr Lächeln erstarb.

„Wir wollten dich bitten, Tante, daß du jetzt immer abends bei uns bleibst. Es ist nicht schön wenn du drüben allein sitzest, sagt Papa, und das Klavier schieben wir auch hierher.

Hede antwortete nicht, sie sah nur fragend auf Heinz, auch er hatte eine Frage in seinen Augen, und auf einmal färbte ein Purpurrot ihr Gesicht.

„Heinz,“ begann sie endlich, zu ihm tretend und die Hand auf seine Schulter legend, „Heinz, ich muß dir eine Mitteilung machen. Sieh, Heinz – ich – du weißt ja wie arm ich bin an einem bißchen eignen Glückes – oder, du weißt es nicht, nein – du weißt es ja nicht! Und da hat mich der Zufall, oder die Not – wie du willst – in das Haus getrieben, wo ich nun doch noch – nicht ein bißchen – nein, ein ganzes Uebermaß von Glück finden sollte. – Heinz, ich habe es genommen, als es mir entgegengebracht wurde heute, ich konnte es ja nehmen, ich bin frei, ganz frei, denn du – du brauchst mich nicht – ich hab ’s gemerkt während des halben Jahres meines Hierseins. Und so bin ich jetzt Günthers Braut.

Er war sehr blaß geworden, er trat auch unwillkürlich einen Schritt von ihr fort, so daß ihre Hand von seiner Schulter sank. Dann aber, als er in ihre Augen sah, ihre erschreckten, ängstlich erweiterten Augen, faßte er nach ihrer Rechten.

„Du hast recht gethan,“ sagte er gepreßt, „sehr recht, ich gratuliere dir, Hede, von ganzem Herzen!“

„Er will morgen bei dir anfragen, um – –“ „Laß doch!“ murmelte er, sie unterbrechend. „Du bist doch dein eigner Herr, Kind. Aber – natürlich ist er mir willkommen, sehr willkommen – selbstverständlich! Und wenn ich dir sonst irgendwie nützlich sein kann, Hede, du weißt ja – du hast recht gethan sehr recht! Er hielt ihr die Hand hin. „Ich bin müde, ich habe ein wenig Kopfweh, schlaf’ wohl und träume glücklich! Gute Nacht, Hede!“

Sie ging ohne ein Wort, ganz erschüttert, hinaus. „Will die Tante nicht hier bleiben, Papa?“ fragte Heini nach einer Weile, der nicht verstanden hatte, was die Unterhaltung bedeutete.

„Nein, Heini,“ sagte er und die ganze schneidende Bitterkeit seiner Seele brach aus den Worten, „nein, Heini, sie hat die kleinen Günthers lieber als uns, sie will ihre Mama werden.“ Zum zweitenmal war er zu spät gekommen mit seinen guten Vorsätzen. Und er küßte seinen Jungen – der wenigstens blieb ihm.

Die Nachtigallen sangen wieder im Park von Breitenfels; sie waren zahlreicher gekommen als je, denn nichts störte sie mehr in diesen verlassenen Fürstengärten. Im Frühjahr haben die Herrschaften mit dem kranken Erbprinzen herkommen wollen, aber die Aerzte waren dagegen gewesen. Die Luft sei zu herb, die Lage zu hoch für seine kranken Lungen. So hatte man denn eine Villa gemietet in Badenweiler und hoffte dort auf ein Wunder. In Breitenfels blieben die Läden geschlossen und die Möbel verhängt, die Schloßwache gähnte auf ihrem Posten die paar Beamten gähnten in den Bureaus wie die wenigen Bediensteten ebenfalls, und auch die zwei Braunen im Stalle gähnten auf ihre Weise, und dabei standen sie sich die Beine steif, wie der Kutscher versicherte, denn der Herr Schloßhauptmann scheine ganz und gar vergessen zu haben, daß er über die Equipage verfügen könne. Das letzte Mal waren sie in Geschirr gegangen, als Ostern die Schwester mit dem Herrn Oberförster Hochzeit gemacht hatte.

War auch eine Hochzeit gewesen! Um zehn Uhr früh getraut in der Kirche in Gegenwart des Herrn Schloßhauptmanns und des Rentmeisters, keine Seele sonst, dann stehenden Fußes droben im Zimmer des ersteren ein Glas Champagner, ein belegtes Brötchen, und das junge Paar stieg in den Wagen um nach der neuen Heimat zu fahren. Der Oberförster war nämlich zu Neujahr plötzlich nach Wolfsrode, einem einsamen Jagdschloß inmitten ausgedehnter Waldungen, versetzt, nicht allzuweit von der Residenz, und drunten in der Oberförsterei saß ein anderer, ein neugebackener, eben verheirateter Oberförster, der sich und sein junges Eheglück förmlich vergrub in dem großen Hause, und den die Breitenfelser ebensowenig zu Gesicht bekamen wie den Schloßhauptmann droben.

Im Doktorhause wohnte der neue Arzt. Er hatte wirklich nicht zu bereuen, dort eingezogen zu sein, der Herr Doktor Lehmann. Nicht nur, daß es auf der ganzen Gotteswelt keine sauberere freundlichere Wohnung gab mit so ausgezeichnetem Kaffee und stets frischer Butter mit einer so mütterlich freundlichen Wirtin, die es verstand, die alte Kundschaft ihres verstorbenen Gatten dem jungen Nachfolger zuzuführen – nein, es war da auch noch ein besonderer Anziehungspunkt, ein schönes schlankes Mädchen, dessen große braune Augen mit einem fesselnden Ausdruck von Schwermut und Sehnsucht in die Welt schauten.

[282] Wenn der Herr Doktor von seiner Landpraxis heimkehrte, durch den lenzgrünen Schloßgarten fuhr und das kleine Haus vor sich sah, hinter dessen spiegelnden Scheiben der Mädchenkopf sichtbar wurde, dann ward es ihm wieder zu Mute, als sei er noch einmal siebzehn Jahre alt und laufe als schüchterner Primaner einher, und er hatte ebensolches Herzklopfen wie zur Zeit seiner ersten Liebe.

Und er, der ein bißchen sehr flott gewesen war, der sich groß gethan hatte auf der Universität im Punkte der Weiberverachtung, er machte die lächerlichsten Manöver, um einen Blick Aennes zu erhaschen, und da dies immer mißlang, so klammerte er sich mit seinen Wünschen an die Mutter und huldigte ihr in einer so ehrerbietigen Weise, daß er der Frau Medizinalrat als Inbegriff aller männlichen Tugend und Vollkommenheit erscheinen mußte, und daß sie jeden Abend, so ähnlich wie Karoline während der Weihnachtspredigt, betete. „Lieber Gott, laß es doch etwas werden!“

Aenne war recht still geworden und recht blaß, die Unthätigkeit drückte sie zu Boden. Sie hatte in der Zeit der tiefen Trauer auch nicht singen dürfen, nur ein einziges Mal widerstand sie nicht, und da war Frau Rat so fassungslos und erschüttert gewesen von der Pietätlosigkeit der Tochter, daß Aenne den Deckel des Instruments nicht wieder geöffnet hatte.

Tante Emilie litt mit ihrem Liebling, ja sie war ein paarmal auf Leben und Tod mit der kurzsichtigen Schwägerin zusammengeraten. Aber, mein Gott, wer kämpft gegen tief eingewurzelte Vorurteile! In der Trauerzeit durfte man nicht singen, was sollten die Leute denken! So behauptete Frau Rätin.

Aenne klagte nicht, sie machte auch keinerlei Versuche mehr, die Mutter zu überreden. Sie ging im Hause umher, wie wenn sie nie fortgewesen wäre, nie da draußen in der Welt Triumphe erlebt hätte. Aber Tante Emilie sah es und fühlte, wie das Kind seelisch und körperlich litt. Und als es Frühling wurde, da verlor Aenne alle Fassung. „Könnt’ ich nur wenigstens alle Tage eine Stunde lang singen, so recht all meinen Kummer hinaussingen,“ schrieb sie an Fräulein Hochleitner, „es würde mich beruhigen und ermutigen, aber bei Mutter ist Singen identisch mit Jubilieren. Und so lebe ich denn weiter zwischen Nähtisch und Kochherd und mehr oder weniger großen Wäsche und die Jahre meiner Freiheit kommen mir vor wie ein schöner, schöner Traum, aus dem ich schmerzlich erwacht bin. Das einzige, was mir noch blieb, sind meine Spaziergänge, und mitunter laufe ich stundenlang in den Wald hinein, und wenn ich an ein Lieblingsplätzchen komme, ich habe eins auf einer tannenumstandenen Lichtung, dann singe ich und der Frühlingswind nimmt mir die Töne von den Lippen fort, und die dumme Thräne, die ich dabei weine, die trocknet er auch. – –

Mitten in eine Gardinenwäsche hinein – die duftigen Schleier flatterten bläulich weiß auf der Leine im Garten der Frau Rat – kam eine Aenderung. Tante Emilie kehrte von einem Ausgange heim, und den Kopf zwischen ein paar nassen Vorhängen durchsteckend, winkte sie dem Mädchen. Aenne, die im großen Gartenhut aufhängen half, ließ das Stück, das sie eben über die Leine schlagen wollte, wieder in den Korb fallen, kam herüber und folgte der Tante in deren eigenes Stübchen. Zu ihrer Verwunderung fühlte sie, wie die alte Frau ihr einen Schlüssel in die Hand drückte, und den Kopf wegwendend, sagte dieselbe. „Da, mein altes Herze – da – ich konnt’s nicht länger mit ansehen.“

„Was ist denn das?“ fragte Aenne.

„Der Schlüssel zu deinem Musikzimmer“, war die stolze Antwort.

„Aber, Tantchen, sag’ nur – ich verstehe dich gar nicht –.“ „Na, das ist ganz einfach! Ich habe der Förstersfrau auf dem Luisenschlößchen eine Stube abgemietet, sie darf ja vermieten, ob’s nun Sommerfrischler sind oder du es bist, das ist egal. Und aus Brendenburg ist heute früh ein Klavier gekommen: ich hab’s freilich nur geliehen und – na, ich konnt’s nicht mehr mit ansehen, Kind, es ist ja schlimmer als hungern und dürsten, was du leidest! Die Noten sind auch schon unterwegs von Dresden. Und nun schweig’ still gegen Mutter, sonst ist’s aus mit der Herrlichkeit – die Verantwortung übernehme ich.“

Aenne hätte am liebsten aufgeschrieen vor Entzücken, aber sie fiel nur stumm der alten Frau um den Hals – „Du Liebste! du Beste, wie soll ich dir danken! Nachher laufe ich hin – o Gott, welch’ ein wundervoller Gedanke, du Goldtante!“

Wie ein Wind war sie unten und hing ihre Wäsche fertig auf, dann wieder nach oben – das Hauskleid aus, ein anderes an, den Schlüssel in die Tasche! Und den Hut in der Hand ging’s aus der Thür und mit Geschwindschritt über den Schloßplatz, zur Marstallpforte hinein, am Teich vorüber den Berg hinauf! Atemlos klopfte sie oben an die Stube des Försters, eine schmucke Frau öffnete und lachte. „Ja, ja, Fräulein, hier können Sie singen, soviel Sie wollen, hier hört’s keiner und stört Sie keiner, und ich freue mich, ich hör’ zu von weitem! Sie wies auf eine Thür im Hintergrunde des Hausflurs, und als Aenne sie öffnete, da fiel ihr Blick zunächs auf ein Pianino, das schräg ins Zimmer hinein stand, in den Leuchtertüllen steckte statt der Kerzen ein paar Fliedersträuße und auf den wenigen Möbeln des förderlichen Putzzimmers prangten auch überall Blumen. Die Wände waren zart gelblich getüncht, die gewölbte Decke ebenfalls und durch die klaren Scheiben der Fenster brach ein grünlich goldenes gedämpftes Licht, denn dicht vor ihnen wehten Buchenzweige mit hellgrünen köstlichen Blättern, wie sie der Mai bringt.

Eine ganz feierliche, wahrhaft poetische Stimmung überkam das junge Mädchen in diesem einsamen Gemach. Die Förstersfrau war gegangen, aber sie stand außen vor der Thür und lauschte. Und nun zogen Klänge hinaus, süße, wunderbar zu Herzen gehende Klänge, daß sie unwillkürlich die Hände faltete. Ja, das war schön! Das mochte sie leiden, das klang anders, als wenn ihr Mann zur Harmonika brummte!

Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht.
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Drum armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden. –“

Dann ihre Lieblinge, Brahms’ wunderbar ergreifende Lieder „Feldeinsamkeit“, „Von ewiger Liebe“, und Lied auf Lied, ein paar Stunden lang. Wie ein Verschmachteter nicht enden kann zu trinken, so sang sie bis in die rotgoldene Abenddämmerung hinein, und zum Schluß ihr altes trauriges Lieblingslied.

„0 du purpurner Glanz der flutenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain,
Wie färbst du mit lodernder Rosenwonne
Das blasse Antlitz der Liebsten mein! –“

Nun saß sie, die Hände in den Schoß gelegt, und dachte an ihren traurigen kurzen Liebestraum, an Heinz.

„0 Sonne, o Liebe, wie kalt ohne euch!“

Sie hatte ihn nicht wiedergesehen seit dem Begräbnis ihres Vaters, und er hatte ihr nicht die Hand gedrückt wie den andern allen, er war plötzlich verschwunden gewesen.

Die Leute sagten, er sei hochmütig. Frau May nannte ihn „verrückt“, er wisse ja kaum, ob er grüßen solle oder nicht, wenn er mal, was selten genug geschah, über den Platz an ihren Fenstern vorbeiging. Ehemals, da wären sie gut genug für ihn gewesen! Gottlob, an den dachte Aenne nicht mehr.

Doktor Lehmann zuckte einfach die Schultern, wenn die Rede auf Heinz kam, er war jetzt Arzt bei dem kleinen Heini, und Frau Rat interessierte sich brennend für die alten Patienten ihres seligen Mannes, aber so zuvorkommend der Doktor auch sonst war, hierüber schwieg er wie ein Grab. Heinz lebte da oben mit seinem Kinde, weiter wußte Aenne nichts.

Sie stand endlich auf, schloß das Fenster und das Klavier und schickte sich zum Heimweg an. Herrgott, drei Stunden hatte sie hier versäumt, und drunten wartete die Mutter und die Wäsche! Sie reichte der Frau Försterin, die ihr vor der Thüre entgegenkam, die Hand, rief ein „Auf Wiedersehen!“ und lief davon wie gejagt.

[293] Bei Frau Rat war bös Wetter; heute ist der Donnerstag, der Tag, an dem ein für allemal Doktor Lehmann der Abendgast ist, und den hatte Aenne vergessen können! Die Frau Rat, die aus Aennes Verhalten gegen den Doktor bisher durchaus nicht weder für noch gegen ihn herauszulesen vermocht hatte, mußte diese Nichtachtung durchweg als schlechtes Zeichen auffassen und das Barometer ihrer Laune war rapid gefallen.

„Fange mir nur um Gotteswillen nicht wieder das Umherstrolchen in den Wäldern an! Du bist kein Backfisch mehr!“ So ward sie empfangen.

Aenne erwiderte: „Solange werde ich nicht wieder ausbleiben, aber meine Spaziergänge, die lasse ich mir nicht nehmen. Du weißt, Vater hielt immer so sehr darauf!“ Sie ward sehr rot, als sie das sagte, denn sie schämte sich ihrer Lüge und beeilte sich, durch doppelte Freundlichkeit alles wieder gutzumachen; sie war sogar heute gesprächig dem Doktor gegenüber, und Frau Rat war zu Mute wie einem Fisch, der vom trockenen Ufer wieder ins klare, kühle Wasser gelangt ist.

Man sprach über allerhand Alltagsdinge, wozu der Geruch der frisch abgenommenen Wäsche, der bis ins Eßzimmer gedrungen war, gut paßte. Es gab für die Damen Thee, den Frau Rat drei- bis viermal aufzubrühen pflegte, und für den Doktor goldklares [294] schäumendes Bier, ferner Soleier, Radieschen und Mettwurst, und das stand alles auf blendend weißem Tischtuch, und die beiden alten Damen hatten so blendend weiße Häubchen, und das junge Mädchen heute so rosenrote Wangen und blitzende Augen, daß einem heiratslustigen jungen Doktor, der ja nach der Meinung aller älteren Damen durchaus eine Frau haben muß, da unverheiratete Aerzte zu genierlich sind – daß einem solchen wohl das Herz aufgehen konnte, zumal wenn er so viel Sinn für Gemütlichkeit und häusliches Leben hatte wie Doktor Lehmann. Geld besaß sie freilich nicht, aber sie war herzig, und er durfte ja immerhin ’mal ein nettes kleines Vermögen erwarten, er konnte sich den Luxus erlauben, aus Liebe zu heiraten. Der Alte würde brummen – na, schadete nichts, er mußte sich ja aussöhnen, wenn er das Mädchen sah!

„Sie waren doch heute auf dem Schloß?“ fragte Frau Rat. Er zuckte heute nicht die Schultern, sondern erwiderte. „Ja, ich war auf dem Schloß.“

„Bei Kerkow?“

„Ja, bei Kerkow.“

„Um den Jungen?“

„Um den Jungen.“

„Steht’s schlecht?“

Jetzt hielt er das Achselzucken für angebracht. „Na, prosit, Frau Medizinalrat!“ sagte er, sein Glas ergreifend.

„Prosit!“ nickte Frau Rat, ihn ein bißchen schief ansehend, und dachte: warte – später will ich dir das Achselzucken schon abgewöhnen! „Ich glaubte nur,“ fügte sie hinzu, „weil Sie so eilig geholt wurden.“

Das kleine Dienstmädchen erschien plötzlich und rief Frau Rätin hinaus; nach einem Weilchen wurde auch Tante Emilie hinaus beordert und dann hörte man draußen etwas wie Schelten und Jammern. Aenne saß derweil höflich bei ihrem Gast, der sie mit seinen runden dunklen Augen durch den Kneifer in stiller Bewunderung betrachtete.

„Wollen Sie mir nicht verraten, wie es dem armen Kleinen droben geht?“ fragte das junge Mädchen jetzt.

„Ach, Fräulein Aenne, das ist ein Trauerspiel,“ gab er zur Antwort, „der Junge macht mir schon genug Sorge, aber der Vater noch mehr.“

„Ist Herr von Kerkow krank?“ fragte Aenne scheinbar obenhin, aber das Herz klopfte ihr mächtig.

„Vollständige Abulie.“

„Was ist das?“

„Das ist eine Seelenkrankheit, Fräulein Aenne.“

Sie wechselte plötzlich die Farbe. „Wie äußert sich das Leiden?“ fragte sie.

„Das ist Willenlosigkeit in höchster Form, Gleichgültigkeit, Melancholie.“

„Um Gottes willen, so helfen Sie ihm doch, Herr Doktor!“ stieß sie hervor.

„Ich?“ Er lachte kurz auf. „Wissen Sie, der hört überhaupt nicht zu, wenn ich ihm etwas sage – da müssen andere Einflüsse kommen als der meine. In eine Nervenheilanstalt mit ihm und dort rücksichtslos ihm klar machen, was er für ein Jammermensch geworden ist, das wäre noch das einzige! Uebrigens, ein Wunder ist’s nicht! Sieben Jahre und mehr Schloßhauptmann von Breitenfels – der Teufel! Ich wäre schon früher übergeschnappt. Und dann alle die sauberen Geschichten nebenher, die davongelaufene Frau, das krüppelhafte Kind, und immer in den himmelhohen, einsamen Zimmern, um die der Wind heult und von denen man meilenweit in die Welt hinaussieht, in die Welt, in der es Arbeit, Lust und Kampf und, mit einem Worte, Leben giebt! Und hier festgeschmiedet sitzen als Nichtsthuer, bewußter Nichtsthuer, denn er weiß ja was diese Stellung bedeutet, und dazu Geist im Kopfe und Blut in den Adern! – – Na, jetzt ist’s zu spät, jetzt rappelt er sich nicht mehr allein heraus, und eine Hand, die ihm helfen könnte, hat er nicht. Neulich sagte ich ihm ’mal: „Zum Donnerwetter, Herr, werfen Sie doch dem Durchlauchtigsten seinen Schloßhauptmann’ vor die Füße, scheren Sie sich ins Leben hinaus, meinetwegen als Eisenbahnschaffner, und suchen Sie andere Eindrücke, sonst gehen Sie zu Grunde!’ Was meinen Sie, was er antwortete? Nichts antwortete er, sieht nur an mir vorüber auf das Kinderbett, als ob das unglückliche Kerlchen nicht irgendwo in einer Familie untergebracht werden könnte, zum Beispiel bei der verheirateten Schwester. Aber darin ist er so unvernünftig wie eine herzkranke Mutter. Na, mich hat er ja nicht konsultiert für seine Person, und ich trage keine Verantwortung! Und nun lassen wir das Thema, Fräulein Aenne, es paßt nicht hinein in diese Gemütlichkeit! – Sehen Sie doch nur, wie der Mond durch die Birnbaumzweige guckt und durchs Fenster glustert, so daß der Storm ein Gedicht’ darüber machen könnte, wenn er noch lebte! Und dann hier – wir beide am Eßtisch – so haben gewiß Ihr Herr Vater und Ihre Frau Mutter zusammengesessen in dieser Stube, als sie jung verheiratet waren. Es ist einfach rührend, famos, und ich –“

In diesem Augenblick kam Frau Rat mit einer Glasschüssel, in welcher etwas Hellgelbes bibberte und zitterte, und hinter ihr Tante Emilie mit einem Kännchen voll Himbeersaft zurück, und Frau Rat entschuldigte sich mit riesigem Wortschwall wegen ihrer langen Abwesenheit; das erzdumme Mädchen habe vorwitzigerweise den Flammeri stürzen wollen, und natürlich sei er zusammengefallen. Sie sah dabei verstohlen vom Doktor, dessen Augen glänzten, zu Aenne hinüber, die stumm und blaß auf ihrem Stuhle saß. Jedenfalls – die Präliminarien einer Liebeserklärung waren erfolgt. Herrgott, wenn’s doch zum Abschluß käme, aber bald – bald!

Nach dem Essen ging man ein wenig im Garten umher. Frau Rat prüfte die kleinen grünen Früchte der Stachelbeersträucher und dachte, daß sie nächstens ein Kompott davon geben könne, mit Omelette, und der Doktor hielt sich neben Aenne und knüpfte allerlei drollige Betrachtungen an über die verwehten weißen Blütenblättchen der Obstbäume, die wie frisch gefallener Schnee auf den Wegen und dem Rasengrund lagen; Aenne hörte es kaum, sie sah nur immer Heinz vor sich. Frau Rat machte sich weit entfernt von ihnen im Garten etwas zu schaffen und ärgerte sich wütend über Tante Emilie, die den beiden jungen Leuten nachging und weder das Husten noch das Rufen der Rätin zu hören schien.

„Dummheit ist doch ’ne Gottesgabe,“ murmelte sie erbost, „sie stört möglicherweise gerad’ den Augenblick, wo das Kind sagen will: ’Sprechen Sie mit meiner Mutter!’ Sieht’s nicht gerade so aus? Er, der wie ein Buch redet, und sie mit gesenktem Kopf! O, du lieber Himmel, nun ist sie schon ganz in ihrer Nähe. – Emilie! Emilie!“ schrie sie mit voller Kraft, „komm’ doch ’mal eben her, ich sitze hier fest – mein Kleid sitzt fest an den Stachelbeeren!

Aber natürlich, ihr ging heute alles überquer – anstatt der alten Tante Emilie, die ja doch nicht mehr so laufen konnte, kam Aenne eilends daher, das Rot des Erschreckens auf dem Gesicht. „Was ist denn, Mütterchen?“

„Bin schon losgekommen,“ brummte die schwer enttäuschte Frau, „kannst wieder gehen.“

„Mutter,“ sagte das schöne Mädchen und preßte die Hand gegen ihre Schläfe, „unterhalte du deinen Freund ein wenig, ich habe Kopfweh und möchte hinaufgehen.“

Frau Rat wollte schon eine schmetternde Rede loslassen, des Inhalts, daß man sich beherrschen müsse, da sah sie das bleiche, leidende Antlitz der Tochter, das völlig verändert erschien.

„Na ja, das kommt vom Umherrennen draußen, hast dich wahrscheinlich nach deiner Gewohnheit stundenlang auf den feuchten Boden gesetzt. Geh’ nur, wenn’s schlimmer werden sollte – der Doktor ist ja im Hause!“

Tante Emilie und der Doktor, die eben den Gang herauf kamen, sahen die schlanke, dunkle Gestalt Aennes gerade noch im Hausflur verschwinden. Nun hätte Frau Rat den Doktor gern ein wenig allein gesprochen, und Tante Emilie wegzubringen, war ja so leicht.

„Sieh’ doch nach, Emilie,“ bat sie, „ob sie’s etwa im Halse hat?“ Und dann fragte sie den jungen Arzt, ob er schon das neue Riesenvergißmeinnicht gesehen habe. – „Nein? O, das müssen Sie sehen, bei dem Mondschein ist’s hell genug.“

Er war bis oben vollgefüllt von Hoffnungen, Wünschen, Zukunftsplänen – ein Funke, und die Bombe mußte platzen, und da Frau Rat diesen Funken schlug, prasselte das Bekenntnis des kleinen, dicken Doktors mit einer Leidenschaft empor, die selbst Frau Rat überraschte. Seine Beteuerungen, daß er Aenne geradezu „wahnsinnig“ liebe, seine verschiedenen Versicherungen auf [295] Ehrenwort, daß er die Wahrheit sage, flogen wie Funken vor den Ohren der Frau Rat umher. Nie, nie habe er geahnt, daß ein Mädchen ihn so bezaubern könne, gestand er.

Frau Rat konnte, ohne ihn abzukühlen, die Zurückhaltende spielen; sie sagte, Aenne sei ganz arm.

„Zu Tode will ich mich schinden für sie!“ schwur er.

Und sie habe auch so eigene Ideen, der Herr Doktor wisse ja wohl, daß sie nur der Mutter zuliebe ihre Künstlerlaufbahn aufgegeben habe, die ihr Großes verheißen.

Jawohl, das wisse er, und es sei gar nicht seine Absicht, das schöne Geschöpf zu seiner Haushälterin zu machen, und so ganz arm sei er doch schließlich auch nicht, sein Vater habe ein Gut in der besten Lage der Magdeburger Börde, nichts als Weizenboden – prima! Aenne könne allein ihren Neigungen leben, er werde sich nur nach ihr richten.

„Lieber Herr Doktor, Sie wissen, wie ich Sie schätze,“ sagte Frau Rat gerührt, „an mir soll’s nicht fehlen – versuchen Sie Ihr Glück bei Aenne!“

Er stand still und putzte den Kneifer wieder, und die runden, kurzsichtigen Augen sahen wie hilfesuchend umher. „Ja, verehrte Frau Rat, das ist eben eine verfluchte – pardon – eine schwierige Geschichte“, stotterte er – „Fräulein Aenne versteht mich – glaube ich – absichtlich nicht. Ich – Sie können denken, ein Korb ist kein angenehmes Ereignis im Leben eines Mannes, und ich möchte, bevor ich eine Erklärung riskiere, Gewißheit haben, erhört zu werden. Ich hatte zu hoffen gewagt, daß Sie, verehrte Frau Rat, als Mutter doch einigen Einfluß – Sie kennen den Wunsch, das Streben meines Lebens, in Ihre Hände lege ich mein Geschick – sprechen Sie mit Fräulein Aenne, erbarmen Sie sich über einen Menschen, dem, hol’s der Kuckuck – die Angst vor einem Abfall den Mut nimmt, selbst eine Entscheidung herbeizuführen aber bald, thun Sie es bald!“

„Haben Sie vorhin denn nicht von Ihren Wünschen zu Aenne gesprochen, Herr Doktor?“

„Massenhaft!“ antwortete er. „Aber, ich bemerkte schon, sie will nicht verstehen.“

„Ich werde mit ihr sprechen,“ erklärte Frau Rat.

Als sie in das Schlafzimmer trat, das sie mit Aenne teilte – Frau Rat behauptete, vor Angst sterben zu müssen, wenn sie allein schlafe – erhob sich Tante Emilie von dem Stuhl, auf dem sie an Aennes Bette gesessen, und legte den Finger an die Lippen. „Eben ist sie eingeschlafen, wecke sie nicht auf!“ Und Frau Rat beugte sich über ihr Kind und erkannte beim Schein des Mondes, daß Aenne geweint hatte.

Sie hat ihn doch wohl verstanden, dachte sie und ging so leise schlafen, daß Aenne, wenn sie wirklich geschlafen hätte, thatsächlich nicht aufgewacht sein würde. Und dann schlief die alte Dame ein und träumte von Brautschleiern, Myrten und weißem Atlas – ach, wenn’s doch May noch miterleben könnte! Einmal in der Nacht aber erwachte sie und sah Aenne aufrecht am Bette sitzen, die Arme um die Kniee geschlungen, starrte das Mädchen in das Dämmern des kleinen Gemachs, unbeweglich, als sei sie aus Stein gehauen. Eine Weile beobachtete die Mutter ihr Kind, dann meinte sie, die Stunde sei vielleicht gekommen, wo eine Aussprache möglich sei. Aber bei der leisesten Bewegung, die sie machte, legte Aenne sich zurück.

„Aenne!“ sagte halblaut Frau Rat, aber sie erhielt keine Antwort. Sie kann ihre dumme Singerei nicht aus dem Kopfe bringen, dachte die Mutter, man darf nicht zu früh reden.

Frau Rat schlief endlich auch wieder ein, und als sie früh erwachte, schlug es fünf Uhr. Ihr erster Blick ging hinüber zu Aennes Lagerstatt – sie war leer. „Es ist die Möglichkeit,“ seufzte die alte Dame, „sie wird alle Tage wunderlicher, was ist das für ein närrisches Mädchen! Wenn ich’s nicht aus der Aehnlichkeit mit der Mayschen Sippe wüßte, ich könnte meinen, Zigeuner hätten mir das Kind vertauscht.“

Die Nacht würde Aenne nie vergessen, solange sie lebte, das wußte sie genau. Viel Schweres hatte sie durchgemacht in ihrem jungen Leben, sie hatte es ertragen, daß der Mann, den sie liebte und von dem sie sich geliebt glaubte, urplötzlich sich von ihr abwandte, einer andern zu, die er noch tags zuvor verspottet hatte. Sie war mit ihrem tief verletzten Herzen, ihrem gekränkten Stolz, ihrem Trotz in eines andern Arme geflüchtet und hatte mit Entsetzen alle die Konsequenzen über sich ergehen lassen, die dieser verzweifelte Schritt mit sich brachte. Sie hatte es ertragen müssen, einen guten Menschen, der sie liebte, gekränkt und unglücklich zu sehen – ihretwegen, weil sie ihm ihr Wort nicht halten konnte, sie hatte die Kämpfe mit ihren Eltern bestanden um ihrer Selbständigkeit willen, um ihre Kunst, sie hatte den Vater verloren und ihren Beruf, der sie hinweg hob über die Misere des Lebens, der Mutter zuliebe aufgegeben, sie hatte sich gegrämt um den Mann, den sie unglücklich wußte, aber die Kunde von ihm, die ihr gestern geworden, das war das allerschwerste!

Mit vollen Flammen schlug ihre alte heiße Liebe für ihn, den sie nie vergessen konnte, wieder empor, und nichts weiter als das eine beherrschte sie: er darf nicht untergehen, er darf nicht, Heinz Kerkow, der Gespiele ihrer Kinderzeit, ihre erste, einzige Liebe, der frische, lustige Mensch – es kann nicht sein, es darf nicht sein! Sie rief ihren alten Trotz zu Hilfe gegen das, was sie fortreißen wollte, was sie hintrieb zu ihm. – Was geht’s dich an? Er hat dich mit Füßen getreten, dich und die Liebe! Es half nichts. – Er darf nicht so enden, er darf nicht, man muß ihn retten – aber wie? Und immer deutlicher, immer bewußter ward es: du kannst es, du mußt es! Geh’ zu ihm, rede ihn an mit dem alten treuen, kameradschaftlichen Ton der Vergangenheit!

Und wieder bäumte sich ihr trotziges Herz auf. Nein! Nein! Er könnte ja denken, ich wollte aufs neue um seine Liebe betteln, denn er ist jetzt frei.- Nein, lieber tot! – Aber es ließ ihr keine Ruhe. Geh’ zu ihm, er braucht eines Freundes Hand! Wenn ein Wildfremder am Rande eines Abgrundes ginge, ohne die Gefahr zu kennen, du würdest ihn zurückreißen, Aenne, und den Mann, dem doch deine ganze Seele gehört, den willst du verkommen lassen?

Aber, er kann dich ja suchen! sagte das trotzige Herz.

Nein, nein! Du weißt ja, er ist krank, er ist wie eine Pflanze, der ein Wurm an der Wurzel nagt, nicht mehr fähig, einen frischen Trieb zu treiben, einen rettenden Gedanken zu fassen. Er kann nicht mehr handeln – handle du!

Mein Gott, aber wie denn? Schreiben? Der Doktor hatte ihr erzählt, Heinz öffne die Briefe gar nicht mehr, die er bekomme, ausgenommen etwa die dienstlichen Schreiben. – Nein, sie muß ihn sehen, ihm in den Weg treten, muß zu ihm sprechen!

Was denn aber? Das wußte sie noch nicht. Der Zufall würde ihr helfen, irgend ein Wort würde sie finden, das ihm zu Herzen geht, gar nicht ’mal viele brauchten es zu sein!

Tatsächlich schlief sie nicht einen Augenblick in dieser Nacht, und als der Tag anbrach, stahl sie sich aus dem Schlafzimmer und lief in den Garten. Er lag schon im vollsten Sonnenschein und der Tau funkelte auf allen Blättern und Gräsern. Sie vergaß ganz, daß sie im Morgenanzug war, einem alten, schwarz und weiß gemusterten Kattunkleidchen, dessen Rock ein klein wenig zu kurz geworden, und dessen Bluse mit dem Matrosenkragen ihrer prächtigen Gestalt ein wenig kindlich ließ. Sie hatte nur flüchtig die Haare geordnet, sie hingen ihr in zwei schweren Flechten herunter, wie Aenne sie zu jener Zeit noch gern trug, als sie mit Heinz und Tante Emilie ihre Waldspaziergänge machte. Unter dem Kate-Greenaway-Hut, der auch ein altes Inventarstück war, guckten ihre Augen ins Leere hinaus, auf ihrem Gesicht wechselten Röte und Blässe, und ihre Füße wandelten längst außerhalb des Gartens den Waldweg hinter der Domäne entlang, der zum Luisenschlößchen führte. Dort stand die Frau Försterin schon vor der Thür und sah ihr ganz verwundert entgegen.

„Hätt’ Sie beinahe gar nicht erkannt, Fräulein May!“ rief sie, „das kleidet Sie ja wie ein Backfischchen! Schönen guten Morgen! Wollen Sie so zeitig schon singen?“

Aenne stutzte. „Ja!“ sagte sie dann nach kurzem Besinnen, „wenn’s nicht stört, Frau Försterin?“

„I Gott bewahre! Mein Mann ist längst im Walde, und meine alte. Schwiegermutter – sie ist zwar krank, aber sie hört’s nicht, die ist stocktaub.

Und Aenne eilte zu ihrem Klavier, und wenn’s auch nur Uebungen waren, die Töne beruhigten sie wie ein betäubendes, schmerzlinderndes Mittel. Sie hatte schon eine ganze Weile gespielt, da klopfte es und die junge Förstersfrau trat ein.

„Jetzt kommt der Herr Schloßhauptmann mit seinem Jungen [296] über den Platz,“ meldete sie wichtig, „der Kleine trinkt hier Ziegenmilch. Wollt’s Ihnen nur sagen, Fräulein; gelt – es stört Sie doch nicht? Dieses Zimmer betreten sie wohl kaum.“

Aenne stand hastig auf; sie fühlte ihr Herz bis in den Hals empor schlagen. „Doch,“ stieß sie hervor, „es stört mich! – Kann ich noch fortgehen, ohne – –?“

„Da sind sie schon!“ flüsterte die Frau. „Bleiben Sie nur ruhig hier, Fräulein; lange halten sie sich ja nicht auf. Wenn der Kleine seine Milch getrunken hat, fahren sie weiter in den Wald.“

„Lassen Sie niemand hier herein!“ forderte Aenne.

„Nein doch! Nein doch!“ beruhigte die Försterin, ganz verwundert das junge, so blaß gewordene Mädchen betrachtend. Und als jetzt eine schwache Kinderstimme ihren Namen rief, sprang sie zur Thür, schlüpfte hinaus und Aenne hörte, wie der Schlüssel von außen herumgedreht und abgezogen wurde.

Zitternd saß das Mädchen vor dem Klavier und horchte auf jedes Wort, das von draußen zu ihr hereinscholl.

„Treten Sie gefälligst in unser Wohnzimmer, Herr Schloßhauptmann, in der guten Stube ist gescheuert, noch ganz naß die Dielen, und draußen zieht’s ein wenig, der Wind kommt von Osten,“ sagte die Försterin.

Jetzt wurde das Wägelchen fortgeschoben, und nun waren sie nebenan, von Aenne nur durch eine dünne Thür geschieden, vor welche man allerdings einen Vertikow gestellt hatte, der dem Klavier hatte weichen müssen. Aber als sei es in derselben Stube mit ihr, so deutlich klang jedes Wort der redseligen Frau in Aennes Ohr. Unbeweglich verharrte das Mädchen, und dabei befiel sie in der unmittelbaren Nähe des Mannes, um dessen trostloses Geschick sie während der letzten Nacht nicht die Augen geschlossen, zu dessen Rettung sie Plan auf Plan entworfen hatte, ein Gefühl der lähmendsten Niedergeschlagenheit.

Plötzlich zuckte sie empor – das war seine Stimme gewesen! Sie that ihr beinahe körperlich weh, und sie griff unwillkürlich nach dem Herzen.

„Will’s denn gar nicht schmecken heut’, Heini? Bitte, trinke, mein Liebling!“

„Ich kann heute nicht, Papa, ich bin so satt und der Kopf thut mir weh!“

„Und hast noch nichts genossen heute,“ sprach jetzt Heinz wieder.

„Quälen Sie ihn doch nicht, Herr Schloßhauptmann,“ wandte die Förstersfrau mitleidig ein.

Dann hörte Aenne rasche Schritte durch den Flur kommen, ein energisches Klopfen an die Thür nebenan, und die wohlbekannte schneidige Stimme des Doktor Lehmann scholl herüber:

„Servus, junge Frau! Ach, und da sind ja auch die Herrschaften vom Schloß – Morgen, Herr von Kerkow! Morgen, mein Kleiner! Na, wie schaut’s aus? Das lobe ich mir, da kann ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, muß ohnehin über Land! Zur geehrten Schwiegermutter komme ich also nachher, Frau Försterin, und jetzt dürfen Sie uns ruhig etwas verlassen. meine Beste. Setzen Sie der alten Frau unterdes eine frische Haube auf und öffnen Sie die Fenster, ich liebe es, wenn meine Patienten möglichst hübsch aussehen und in guter, reiner Luft atmen.“

Unter hellem Auflachen schien die also Aufgeforderte das Zimmer zu verlassen, denn die Thür ging und ein Weilchen war es totenstill nebenan.

Dann wieder des Doktors Stimme, der in den Flur hinaus rief: „He! Junge Frau, holen Sie ’mal den kleinen Mann hier und fahren Sie ihn ein wenig auf und ab vor dem Hause!“ Und kaum war das Rollen des Wägelchens verklungen auf den Steinfliesen des Flurs, als die laute Stimme des Arztes schon wieder erklang: „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Herr von Kerkow, daß das Kind sich in den letzten Tagen erheblich verändert hat. Es geht so nicht länger, der Knabe muß in andere Lebensbedingungen – – fahren Sie nicht so auf, mein Herr! Ich weiß ja, daß Sie alles mögliche thun für die Pflege des Kleinen, aber in der Atmosphäre von Resignation, in der Sie so langsam absterben, muß das zarte Kind bald vergehen. Mich aber interessiert das Kerlchen – als Arzt, wissen Sie – und ich möchte Ihnen daher den Vorschlag machen – vertrauen Sie ihn mir einmal an auf ein paar Monate – – wie beliebt?“

Heinz hatte irgend etwas gemurmelt.

„Allerdings – ’ne Frau habe ich nicht, nein, das ist richtig! Die haben Sie aber auch nicht, Herr von Kerkow. Mein Vorzug liegt eben darin, daß ich Arzt bin, daß solche Krankheitsfälle mein besonderes Interesse von jeher erweckt haben, und daß ich auch einigermaßen in der Lage war, Erfahrungen zu sammeln über die Behandlung derartiger Leiden. In unserem Stadtkrankenhause, zum Beispiel, bin ich längere Zeit der ordinierende Arzt der Kinderstation gewesen, und übrigens würde ich auch selbstredend für weibliche Hilfe sorgen; Schwester Viktoria ist eine vorzügliche Pflegerin. Und dann vergessen Sie nicht, daß ich im Mayschen Hause wohne, Verehrter, und daß sich die Frau Medizinalrätin brennend für meinen Plan interessiert, der darin besteht, daß ich in nicht zu ferner Zeit eine Heilanstalt für rhachitische Kinder zu errichten gedenke. Endlich giebt es da noch ein gewisses Fräulein May, das sich gestern erst mit wahrhaft himmlischem Mitleid nach dem Kinde erkundigte; ich bin überzeugt, sie würde manche Stunde für den armen kleinen Kerl übrig haben, denn das Mädchen hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist überhaupt – alle Donnerwetter, aber das gehört nicht hierher, ich meine nur – –“

Aenne hatte sich erhoben; sie stand zitternd mit vorgeneigtem Kopfe, in den Augen ein glückliches Leuchten. Der liebe Gott selbst schien ihr Vorhaben fördern zu wollen.

„Ich danke Ihnen,“ scholl da Heinz Kerkows Stimme, „ich falle nicht gern Fremden zur Last, und außerdem wüßte ich thatsächlich nicht, wie Fräulein May dazu kommen sollte, sich um das elende fremde Wurm zu kümmern.“

„Wie sie dazu kommen sollte? Herr, wie kommt denn überhaupt der eine Mensch dazu, dem andern zu helfen? Weil’s drin liegt im Menschenherzen, weil so ein goldenes Gemüt wie dem Mädel seins gar nicht anders handeln kann – verstehen Sie?“ schrie der Doktor ärgerlich. „Aber wie Sie wollen, Verehrtester, wie Sie wollen! Es ist Ihr Junge, lassen Sie ihn in Gottes Namen zu Grunde gehen – ich hab’s gut gemeint! ’n Morgen, Herr von Kerkow!“

Nun eilende Schritte, ein hastiges Thürschlagen, draußen das Rufen nach der Frau Försterin, und dann ward es still.

Aenne war wieder auf den Stuhl zurückgesunken, das Gesicht erblaßt, die Hände im Schoß gefaltet. Diese Worte von Heinz, diese paar Worte, mit der schneidenden, hochmütigen Betonung gesprochen, hatten sie getroffen wie ein kalter Strahl, hatten all den Trotz in ihr wachgerüttelt, den Liebe und Mitleid zur Ruhe geschmeichelt in ihrem Herzen. Wer so sprechen kann, hat nie geliebt, und sie, sie war drauf und dran gewesen, sich einer schroffen Zurückweisung auszusetzen in ihrer grenzenlos opfermütigen Liebe für ihn und sein Kind. Ihr Kopf bog sich plötzlich in den Nacken zurück – Thörin, Närrin, die sie war!

Sie klappte den Deckel des Instrumentes zu, nahm ihren Hut und drückte auf die Klinke. Ach, man hatte sie ja eingeschlossen! Sie runzelte die Stirn und blickte ungeduldig im Zimmer umher. Klopfen wollte sie nicht, sie wußte nicht genau, ob der Herr Schloßhauptmann von Kerkow vielleicht noch im Zimmer nebenan saß. Aber sie wäre für ihr Leben gern aus diesem Hause geflohen. Da fiel ihr Blick auf das offene Fenster. Mit einem anmutigen Schwung saß sie plötzlich auf der Fensterbank und ließ ihre schlanke Gestalt ins Freie gleiten, es war ja ein so niedriges Parterre. Hochatmend stand sie unter den Tannen; mit einem kleinen Umweg durch den Wald konnte sie ungesehen entwischen. Aber Aenne hatte vergessen, daß dieser Pfad wieder in den breiten Gang einmündete, der direkt zum Luisenschlößchen führte, und so prallte sie beim Hinaustreten aus seinem tiefen Blätterschatten plötzlich mit dem Herrn Doktor Lehmann zusammen, der, seinen Stock im Kreise schwingend, den Hut im Nacken, eilig daherkam, dessen ärgerlicher Gesichtsausdruck aber bei dem Anblick des geliebten Mädchens dem verklärtesten Lächeln wich.

„Alle Hagel – Fräulein Aenne!“ stammelte er, den Strohhut schwenkend, „das muß ein schöner Tag werden, wenn einem schon in aller Herrgottsfrühe so etwas in den Weg läuft – Gestatten doch, daß ich mit Ihnen gehe? Muß nämlich jetzt nach Hause, Sprechstunde fängt an, und leben will der Mensch auch, das heißt – Kaffeetrinken. Haben Sie schon gefrühstückt?“

„Nein!“ antwortetet das junge Mädchen kurz.

„Thun wir’s zusammen in Ihrem Garten?“ bettelte er. „Herrgott, das wär eine Idee! Wie ist’s denn, thut der Kopf [298] noch weh? Haben Sie gut geschlafen? Hat Ihre Frau Mutter schon mit Ihnen – ich wollte sagen, haben Sie Ihre Frau Mutter schon gesprochen?“ verbesserte er sich, rot werdend.

„Ich schlief gestern abend schon, als sie kam, und sie heute früh noch, als ich ging, Herr Doktor.“

„So, so! Sie wollte Ihnen etwas erzählen, glaube ich, stotterte er. Na, das braucht aber nicht gleich heute früh zu sein, erst frühstücken wir zusammen und, Fräulein Aenne, wenn meine Sprechstunde vorbei ist, sagen Sie mir vielleicht – –“

Sie blickte ihn halb verwundert, halb zerstreut an. „Was denn?“

„Ich meine, wie Ihnen das gefallen hat – die Geschichte, das Märchen – das – was Ihre Mutter Ihnen erzählen will –“

Sie hörte ohne Interesse auf seine Worte, sie antwortete auch nicht, sie dachte schon wieder an die bitteren Worte von Heinz Kerkow. Und genau so zerstreut schritt sie ihm voran in die Hausthür und bot der am Fenster entzückt aufschauenden Rätin einen Guten Morgen. Ja, ganz entzückt war die Frau Rat, weil sie die beiden so zusammen hatte kommen sehen. Die Aenne mit der hohen Röte innerer Scham auf dem Antlitz schien ihr so bräutlich, so selig, und nun wollte gar der Doktor im Garten frühstücken mit der Aenne – es konnte nicht anders sein, sie waren einig, die beiden, gottlob, sie waren einig!

Aber die erregte Frau hatte den Mut nicht, sich Gewißheit zu verschaffen. Sie lugte nur hinter den Gardinen hervor auf das junge Paar und beobachtete die Augen des Doktors, die nicht von dem jungen Mädchen ließen. Das saß abgewandt, in halber Verlegenheit und warf den Hühnern Brocken zu über den Drahtzaun hinüber. Als der Doktor sich erhob, um sein Sprechzimmer aufzusuchen – es wartete bereits ein Häuflein Patienten – da litt es die Mutter nicht länger, sie nahm die Schüssel Spinat und ein Messer und setzte sich zu Aenne, und mit zitternden Fingern die Blätter verlesend, begann sie. „Du, Aenne –“

Das Mädchen fuhr herum wie eine, die aus dem Schlaf erwacht. „Was willst du, Mutter?“

„Ich – der Rätin stockte plötzlich der Atem. „Ach, du wirst’s wohl schon wissen, du Schlaukopf – gelt?“

„Was denn, Mutter?“ „Hat dir der Doktor nichts gesagt?“ Aenne mußte sich erst besinnen „Ach so – ja – du wollest mir etwas erzählen. Was ist’s denn?“

„Weiter hat er dir keine Andeutung gemacht?“ Aenne schüttelte den Kopf.

Die Rätin seufzte. „So sind nun die Männer,“ dachte sie. „Wenn ich man bloß wüßte, wie ich es anfangen sollte, die Sache so zur Sprache zu bringen, daß es Aennes Herz rührt.“

„Er ist doch eigentlich eine Seele von einem Menschen,“ begann sie laut, „der Doktor! Was, Aenne?“

„Ich kenne ihn zu wenig, aber ich glaube, er ist wirklich ein guter Mensch,“ gab Aenne zu. Und plötzlich erinnerte sie sich, wie sie eben erst ein begeistertes Lob aus seinem Munde erlauscht hatte, und die Röte der Bestürzung stieg ihr purpurn in die Wangen.

„Warum wirst du denn so rot?“ lachte die Rätin. „Du ahnst wohl schon, was ich dir sagen soll? Na, ich merk’s ja, du weißt, daß der arme Kerl bis über die Ohren in dich verschossen ist, und –“

„Aber, Mutter!“ rief Aenne, doch ein Weiteres kam nicht über ihre Lippen, nur in die Augen drängte sich ein heißes Erschrecken über diese neue Werbung. „Du mußt nicht scherzen mit solchen Dingen, Mutter,“ setzte sie stotternd hinzu.

„Da sei Gott vor!“ rief die alte Dame eifrig und stolz. „Es ist Wahrheit, Kind, so wahr wie ich hier vor dir sitze. Ich hab’s auch lange schon gemerkt, und gestern abend bat er mich, ich sollte für ihn sprechen bei dir, ihn macht so die Liebe rein zum blöden Jungen! Nein, mein Aenneken, es ist wahr!“ beteuerte sie nochmals, „er will dich heiraten und – das hast du ja auch lange gemerkt schon, du Schlaukopf, du!“

„Und du hast ihm Hoffnung gemacht?“ fragte das Mädchen und stand hochaufgerichtet vor der Mutter.

„Warum denn nicht? Worauf sollen wir denn noch warten, Kind? Denke doch nur – Vermögen, ein tüchtiger Arzt, die ganze Praxis des seligen Vaters hat er, und gut ist er dir, rein närrisch – ich dächte doch – –“

„Mutter,“ stieß Aenne hervor, „du durftest ihn nicht ermutigen, du hattest kein Recht dazu!“

Frau Rat stellte die Schüssel hin und warf das Messer hinein. „Ich kann mir doch nicht denken, daß du so, gelind gesagt, so unvernünftig bist, Aenne,“ stotterte sie. „Komm ’mal her und laß uns beide ein ruhiges Wort darüber reden“ und sie zog die Tochter an der Hand tiefer in den Garten, „komm in die Laube da unten, dort hört uns niemand!“

Aenne ließ sich ziehen, aber sie zitterte am ganzen Körper. Nun war sie wieder mitten hinein geschleudert in den Kampf sollte er denn niemals enden? Und nun drückte die Mutter sie auf die graugestrichene Lattenbank und blieb vor ihr stehen, mit mühsam zusammengehaltener Ruhe und Sanftmut.

„Bedenke doch, ich bin Witwe und du bist ein armes Mädchen,“ begann sie so leise und gütig, wie sie nie gesprochen. „Es mag dich vielleicht keine übergroße Liebe zu ihm drängen, jedenfalls aber darfst du ihm deine Achtung nicht versagen; du mußt seine Rechtschaffenheit und seinen Fleiß anerkennen, das ist gar nicht anders möglich. Du bist nun auch in dem Alter, wo man diese Eigenschaften zu schätzen weiß, denn was aus den vielgepriesenen Liebesheiraten wird, das kannst du recht deutlich an den Kerkows sehen. Der sogenannte Beruf eines Mädchens als Sängerin, als Lehrerin oder dergleichen ist ja doch eben nur ein Notbehelf für solche, die keinen Mann bekommen, und kurz und gut, liebes Kind, es wäre eine wahrhafte Sünde, eine wahre Vermessenheit, wolltest du dies Glück nicht annehmen, denn wenn du da draußen auch wirklich ’mal den Wind dir um die Nase hast wehen lassen – um zu ermessen, wie schwer das Leben ist für ein einsames Frauenzimmer, dazu hat dir, gottlob! bis jetzt jede Gelegenheit gefehlt. Und nun begann sie zu schluchzen, und weil sie ihr Taschentuch vergessen hatte einzustecken, nahm sie den Schürzenzipfel vor die Augen.

Ueber Aennes gesenktem Haupt ergoß sich dieser Redestrom mit niederschmetternder Gewalt, um so wirkungsvoller, als er in ungewöhnlich sanfter Weise zum Ausdruck gebracht wurde. Ach, und diesmal, fühlte sie, würde ihr die alte weinende Frau die Weigerung nicht wieder vergeben. Und sie mußte sich doch wieder hineinstürzen in Sturm und Wetter, sie mußte Nein! Sagen.

Sie stand auf. „Komm nur, Mutter, ich werde dem Doktor die Gründe meiner Weigerung selbst auseinandersetzen, will dir das Schwere nicht zumuten oder – ich schreibe ihm.“

„Du willst nicht?“ schrie die Rätin, alle Sanftmut über Bord werfend.

„Ich kann nicht, Mutter! Sei gut, ich bitte dich! Ich habe dich so sehr lieb, aber verlange nicht, daß ich unglücklich werde!“ Mit diesen Worten schritt sie an der Mutter vorüber, und entschlossen, diese Angelegenheit so rasch als möglich zu Ende zu bringen, lenkte sie ihre Schritte direkt in des Doktors Vorzimmer.

Als sie eintrat, saß dort nur noch ein altes Mütterchen aus den Bergen droben und wartete auf ihren „Ollen“, der zum Doktor gefahren war, weil er’s so arg auf der Brust hatte, wie sie Aenne mitteilungsbedürftig erzählte, und der „Neue“ solle der „ollen“ Müller-Lorenzen so gut auf die Beine geholfen haben, solle ein ganz Kluger sein, der würde jawohl auch ihren Gottlieb kurieren können.

Dann endlich kam der „Olle“ herausgehüstelt und des Doktors Auge traf auf Aenne, die mit ernstem blassen Gesicht neben dem Instrumentenschrank stand. Sein Herz hörte beinahe auf zu schlagen – das sah keiner bräutlichen Ergebung gleich, nicht dem Benehmen eines Mädchens, das liebt.

„Sie wollen mich sprechen?“ stotterte er.

„Ja, Herr Doktor, aber lange soll’s nicht dauern; ich weiß ja, Sie sind beschäftigt!“

Sie trat in das ihr so liebe Gemach, in welches sie so oft geschlüpft war, um dem Vater ein herzliches Wort zu sagen, ihm einen Kuß zu geben oder die kleinen Kümmernisse ihres jungen Lebens anzuvertrauen. Wo war er geblieben, der allezeit freundliche Mann, der treue, liebe Beschützer ihrer Jugend? Es war ihr, als fühlte sie in diesem Augenblick erst, wie furchtbar verlassen sie in der Welt stehe, wie sie auch nicht ein Herz ihr eigen nenne, das sie und ihr Handeln verstände.

Der junge Arzt wies auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch, aber er brachte die übliche Fragen „Nun, wo fehlt’s denn?“ angesichts dieses Besuches nicht über die Lippen, er wartete mit [299] den Fingern auf der Tischplatte trommelnd, recht blassen Gesichts auf ihre Mitteilung.

„Mutter hat mir das Märchen erzählt, Herr Doktor,“ begann sie, „vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen sagen muß, daß es nie zur Wahrheit werden kann. Ich bin sehr unglücklich darüber, daß ich Ihnen vielleicht weh thue, ich will Ihnen aber auch den Grund meiner Weigerung sagen – sehen Sie, ich habe einen andern lieb und werde ihn nie vergessen können – das Drum und Dran erlassen Sie mir wohl! Sie aber haben Anspruch auf eine Braut, die nicht nur Ihre Frau wird, sondern deren ganzes Herz Sie auch ausfüllen. Und nun bitte ich Sie um eines, Herr Doktor, um Ihre Freundschaft, wenn Sie mir dieselbe später einmal schenken können. Ich weiß es, Sie sind ein guter, kluger Mensch, und Sie verstehen meine Weigerung.

Sie hielt ihm die Hand hin, zögernd erfaßte er sie und drückte einen unbeholfenen Kuß auf dieselbe, dann trat er rasch von ihr fort ans Fenster und sprach kein Wort.

Aenne blieb noch ein paar Minuten, ihn traurig ansehend. „Machen Sie es der Mutter nicht zu schwer,“ bat sie, dann verließ sie die Stube. Und dort innen blieb einer, der setzte sich plötzlich wie todmüde an den Arbeitstisch, legte die Stirn in die Hand, und ein echter, großer Schmerz um die verlorene liebste Hoffnung seines Lebens schüttelte ihn.

Sie liebte einen andern, den sie nie vergessen konnte! Da war freilich nichts zu wollen! Da war kein Hoffen möglich!

Wer mochte es nur sein, der Glückliche? Und warum kam er nicht und riß sie an sein Herz? Was mußte er für ein Kamel sein, der so ein Mädchen harren und warten läßt, Jahr auf Jahr! dachte neidisch der arme Doktor. Vielleicht weiß es dieser Kerl nicht einmal, räsonnierte er weiter, vielleicht hat er gar ’ne Frau, die er in einer dummen Stunde genommen – möglich. Armes Kind! Ach, Aenne, du gute, reizende, ehrliche Aenne – und das ist nun das Ende der Geschichte meiner schier närrischen Liebe zu dir, und wir sollen auch womöglich noch ganz freundschaftlich weiter miteinander verkehren! Der Teufel mag dein Freund sein – ich kann’s nicht!

Nach einem Weilchen saß er in dem offenen Wagen und fuhr über die Berge nach dem einsamen Hüttenwerk, wo die typhuskranke Frau eines Beamten seiner wartete, und der Kutscher, der den allezeit gesprächige, leutseligen Herrn zu unterhalten gedachte und heute keinerlei Antwort erhielt auf seine Bemerkungen, wandte sich verwundert nach seinem schweigenden Fahrgast um. „Jesses, Herr Doktor, Se hebbe woll ’nen Schnuppen? Ihnen thränen ja de Oogen ordentlich!“

„Ja freilich, einen eklichen Schnupfen“, gab er zu, „Gott weiß, wo ich ihn mir geholt habe!“

„Na, darnach werd’s klar im Koppe“, tröstete der Alte gutmütig.

„Das thut auch not!“ pflichtete seufzend der junge Arzt bei.

[309] Als Doktor Lehmann gegen Abend nach Hause zurückkehrte und Frau Rat ihr tiefgekränktes Herz ihm gegenüber auszuschütten gedachte, war bereits der brave Bote vom Schloße da, der den Herrn Doktor hinaufholen sollte.

„Komme gleich! Was ist denn los?“ fragte er. Und dann gab er dem Kutscher, der ihn hergebracht, einen Zettel an Schwester Viktoria. „Sie fahren erst noch ’mal hinaus, Dillge, eine Pflegerin, die ihre Sache versteht, muß hin zu Faktors noch in dieser Nacht, sonst kriege ich die Frau nicht durch, und das hier in der Apotheke besorgen Sie, während sich die Schwester zur Fahrt rüstet. Auf drei Wochen soll sie sich einrichten, ihre Kranken besuche ich schon und schaffe Hilfe, wo es not thut, das sind alles nur Bagatellen. – Na, und Sie sagen Herrn von Kerkow, daß ich in zehn Minuten oben sein werde, wandte er sich an den Diener vom Schlosse.

Frau Rat saß am Fenster, Aenne war im Garten und Tante Emilie lag mit Kopfschmerzen zu Bett, es herrschte eine ungewohnte Stille im ganzen Hause. Die Mutter hatte seit dem Augenblick, wo sie erfuhr, daß ihr Kind den Doktor endgültig abgewiesen, kein Wort mit Aenne geredet, hatte sich vielmehr einige Stunden lang eingeschlossen und war erst vor wenigen Minuten wieder zum Vorschein gekommen. Sie und Aenne waren fertig miteinander, und es würde am besten sein, wenn der Trotzkopf wieder nach Dresden ginge! Morgen, wenn sie, Frau Rat, erst ruhiger geworden, wollte sie es der Tochter vorschlagen.

Das junge Mädchen schritt währenddem langsam im Garten auf und ab. Sie dachte schon nicht mehr an den kleinen dicken Doktor, sie kämpfte noch immer mit ihrem Herzen, dem durch die Worte von Heinz so bitter weh geschehen war. Wie käme denn Fräulein May dazu, sich um ein fremdes Kind zu kümmern? [310] Dieses eine Wort „fremd“ hatte mit einem Schlage alle frühere Zusammengehörigkeit verleugnet und war die Bestätigung, daß sie ihm nie, nie mehr gewesen war als – eine flüchtige Spielerei! – –

Und über der Welt, die so viel herbes Leid in sich barg, so viel Enttäuschung, wehte an diesem Abend der Duft des blauen Flieders geradezu berauschend, und auf die Berge und Wälder, auf Schloß und Städtchen goß der Mond seine Silberstrahlen und ließ die blühenden Apfelbäume in leuchtendem Weiß erscheinen. Aus dem Garten der Oberförsterei klang Zitherspiel und der Gesang einer Frauenstimme, das mochte die junge Frau Oberförsterin sein. Sie waren glückliche Menschen, die beiden, die dort wohnten, und in einer Stimmung, wie sie für solchen Abend paßte.

Aenne stand still und lauschte ein Weilchen, dann kehrten ihre Gedanken mit zwingender Gewalt immer wieder zu Heinz zurück. Was mochte nur droben auf dem Schlosse geschehen sein? Der Bote hatte des Doktors Erscheinen so dringend gefordert. Ob der Kleine kränker geworden?

Sie lachte plötzlich kurz auf – was ging das „fremde“ Kind sie an!

Sie wanderte wieder auf und ab in dem Mittelweg, der vom Hause an durch die Länge des Gartens bis zur Jasminlaube führte. Eben näherte sie sich wieder dem Hause, da stürmte der Doktor zur Vorderthür herein.

„Fräulein Aenne,“ scholl seine Stimme im Flur, „Fräulein Aenne!“

Sie blieb erschrocken stehen; was wollte er von ihr heute?

Nun trat er bereits in die Gartenthür. „Ach, da sind Sie ja! Können Sie es über sich gewinnen, solch zudringlichem Burschen wie mir einen Gefallen zu thun? Wie ich Sie kenne, sind Sie nicht kleinlich, also – vergessen Sie ’mal, was heute geschehen, ein paar Stunden lang, helfen Sie mir als barmherzige Schwester! Da droben, der Heini, das elende Tierchen, muß operiert werden, Halsabsceß mit Erstickungsgefahr, höchste Eisenbahn – verstehen Sie! Kerkow steht vor der Thatsache wie ein Gelähmter, ist zu nichts zu gebrauchen, und Schwester Viktoria ist soeben fort von Breitenfels, nach dem Hüttenwerck da oben – – Binden Sie ein Tuch um und kommen Sie, unterwegs werde ich Ihnen sagen, was Sie zu thun haben, zimperlich sind Sie ja nicht, und es handelt sich um Leben und Tod! Eilen Sie, ich bin gleich wieder hier mit meinen Instrumenten, nehmen Sie auch eine Schürze mit – –“

Aennes Kopf bog sich in den Nacken zurück. Was geht mich das „fremde“ Kind an? wollte sie rufen, aber es würgte sie etwas in der Kehle, etwas, das mächtiger war als der Schmerz ihres verletzten Herzens, als ihr gedrückter Stolz.

„Sie wollen wohl nicht?“ rief er zurückkehrend mit dem Saffiankästchen unter dem Arm. „Das dürfen Sie mir nicht anthun, ich fordere diesen ersten Freundschaftsbeweis von Ihnen im Namen der Menschlichkeit!“

Aber sie schritt schon neben ihm durch den Flur.

„Wissen Sie,“ sprach der Doktor weiter im Gehen, „dem Wurm wäre geholfen, thäte er die Augen zu, aber der Kerkow, weiß Gott, der Mensch thut dann irgend etwas, das nachher nicht wieder gutgemacht werden kann!“

Sie schritten in möglichster Eile den Schloßberg hinan, nachdem Aenne noch dem Mädchen eine Bestellung an ihre Mutter zugerufen hatte. Und die Mutter saß am Fenster und sah die zwei Menschen, von denen sie glaubte, daß sie nie wieder ein Wort zusammen reden würden, einträchtig nebeneinander über den Platz gehen und im Dämmer der Mondnacht verschwinden.

Was sollte das nun wieder heißen?

Droben im Schloß stand Heinz von Kerkow und starrte auf das Bettchen seines Lieblings, der sich in schweren Qualen wand. So rasch hatte die tückische Krankheit sich entwickelt, daß nur noch eine Operation Rettung bringen konnte. Sein Einziger, sein Letztes, sein Liebstes war dem Tode geweiht – –.

Ihm war so dumpf zu Mut, daß er die Größe dieses neuen Unglücks noch gar nicht voll ermaß. Er hatte die Anordnung des Arztes kaum recht verstanden – warmes Wasser, einen Tisch, frische Leinentücher, hellbrennende Lampen – –. Das Dienstmädchen, die knochige Person, die soeben noch auf dem Korridor von dem jungen Arzt zu der Würde eines dreifachen Kamels erhoben worden war, weil sie gar so ungeschickt das wimmernde Kind emporgehoben hatte, schleppte mit zitternden Händen im Nebenzimmer alles zusammen, was Doktor Lehmann gefordert hatte, und Heinz starrte auf diese Vorbereitungen, als gälten sie einem fremden, nicht seinem Kind, seinem einzigen.

Und dann ging die Thür plötzlich auf und hinter dem Arzt kam eine schlanke, dunkle Gestalt über die Schwelle, und ein Paar Augen, ein Paar lieber trauriger Mädchenaugen suchten das Bettchen des Kindes. Heinz trat betroffen einige Schritte zurück und faßte nach dem Tische, und da kam sie schon herüber zu ihm und sagte mit einer Stimme, der man anhörte, wie schwer das Sprechen ihr wurde. „Erlauben Sie, bitte, Herr von Kerkow, daß ich, in Ermangelung anderer weiblicher Hilfe, dem Herrn Doktor ein paar Handreichungen thun darf – ich will gewiß ebenso sorgsam sein, als wäre es mir“ – – „kein fremdes Kind“ hatte das trotzige Herz ihr zugeflüstert, aber ihre Lippen stockten angesichts dieses zusammengebrochenen Menschen, der vor ihr stand, und wie vor Frost schlugen ihr die Zähne zusammen.

„Ich danke Ihnen,“ stammelte er, „ich danke Ihnen.“

„Wollen Sie die Freundlichkeit haben, uns zu verlassen, Herr Schloßhauptmann,“ befahl jetzt Doktor Lehmann, „ich werde Sie benachrichtigen, sobald Sie wiederkommen dürfen. Ich liebe nicht,“ betonte er, als Heinz zögerte, „wenn Angehörige bei einer Operation zugegen sind – hier ist nur fremde Hilfe am Platz.“

Und dann führte er kurzer Hand den Schloßhauptmann hinaus, und Heinz saß am Fenster des Zimmers, das einst seine Schwester bewohnt hatte, die Hände über dem Knie gefaltet, unbeweglich. Würde es sterben, das Kind, der kleine liebe Gefährte seiner einsamen Tage? „Ein letzter Versuch“, hatte der Arzt gesagt – furchtbares Wort! Und war es auch ein armes Krüppelchen für ihn bedeutete das Kind alles – alles! Denn nachher, dann – – er wollte nicht weiter denken.

Und die Minuten schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen, bis man ihn rief, und als dies endlich geschah, als der Arzt ihn holte, da trat er auf den Zehen in das nur dämmernd erhellte Krankenzimmer; am Bettchen des Kindes, das eingeschlummert schien, saß Aenne May, und den Finger an die Lippe legend, forderte sie ihn stumm zum Schweigen auf.

„Sie bleibt hier die Nacht,“ erklärte der Arzt, „und morgen auch, bis eine Schwester aus Brendenburg kommt. Ich gehe nur hinunter und ziehe mich um, dann komme ich zurück. Sie haben wohl ein Zimmer und ein Bett für mich, ich möchte für alle Fälle zur Hand sein während der nächsten Stunden. Sie, Herr von Kerkow, können sich legen, wenn Sie wollen, oder, falls Sie in der Nähe bleiben wollen – im Nebenzimmer ist wohl ein Stuhl, ein Sofa – nur äußerste Ruhe, bitte, äußerste Ruhe!“

Heinz ging gehorsam in die angrenzende Stube und warf sich in einen Sessel, von dem aus er das Bettchen des Kindes beobachten konnte. Es war totenstill in den hohen Räumen, das Flämmchen des Nachtlichtes warf seinen zuckenden Schein über die schlanke Gestalt, die in dem Fauteuil zu Füßen des Bettes wachte, den Kopf zurückgebogen gegen die Lehne, das schöne Gesicht nach oben gerichtet, unbeweglich, mit großen offenen Augen. Dann und wann richteten sich diese dunklen Augen mit einem unendlich weichen Ausdruck von Besorgnis auf das schlummernde Kind, aber immer wieder starrte sie empor zur Decke in schmerzlichem Sinnen.

Das war Aenne May, die neben dem Bette seines Kindes wachte! Ist das ein Traum? Hat sie wirklich sich seines Kindes erbarmt?

In der lautlosen Stille, die in den Zimmern herrschte, nur unterbrochen durch den Glockenschlag der Schloßkirche, sah Heinz einen Augenblick die Gestalt des Arztes, der zurückgekehrt war und sich flüsternd zu Aenne hinabbeugte, dann fiel ihm ein, wie der junge Doktor am Morgen mit begeisterten Worten den Charakter Aennes geschildert hatte, und er empfand plötzlich ein lebhaftes Unbehagen das seinen Höhepunkt erreichte, als er sich der Andeutungen erinnerte, welche die Frau Försterin ihm heute früh machte, nachdem der Arzt ihn verlassen, droben, auf dem Luisenschlößchen. „Die Leute sagen ja, er wird Fräulein May heiraten“. – Er lächelte bitter. Sie war das erste Glück, das ihm unter den Fingern zerrann, und dann weiter, ein Schlag nach dem andern, und jetzt der letzte – sein Kind wird sterben! So saß er in dumpfer Verzweiflung – wie lange? Er wußte es nicht.

Die Mädchengestalt hatte sich noch immer nicht gerührt, [311] nun sah er, wie sie plötzlich an dem Bettchen niederkniete, wie sie vorsichtig das Kind berührte, dann hastig aufstand, ihren Platz verließ und an das Nebenzimmer klopfte. Im nächsten Augenblick war der Arzt da mit einer brennenden Kerze, die er Aenne zu halten gab, während er sich über das Kind beugte, dann richtete er sich empor und blickte dem jungen Mädchen in die Augen, dazu ein Zucken der Schultern eine Handbewegung, die Heinz jäh emporfahren ließ. Wie hingeweht stand er plötzlich auf der andern Seite des Lagers, leichenblaß, mit verzerrtem Gesicht.

„Was ist’s mit Heini?“ fragte er mühsam.

„Herr von Kerkow,“ antwortete der Arzt erschüttert, „er ist hinübergeschlummert, der Kleine, ohne Kampf, ohne Schmerz.“ Er trat neben den Mann, der, wie verständnislos, die stille kleine Gestalt mit seinen Blicken umfaßte, und legte die Hand auf seine Schulter. „Ich weiß, was das heißt für Sie, Herr von Kerkow,“ sagte er, „aber ich weiß auch, wieviel Schmerz und Erdenelend dem armen Kinde erspart sind. – Denken Sie nicht an sich, gönnen sie ihm die Ruhe. Sein Leben war ein Leidensweg.“

Aenne stand blaß, mit niedergeschlagenen Augen, sie fand keine Worte für das, was sie bewegte. Heinz Kerkow aber wandte sich kurz um und ging ins Nebenzimmer, dessen Thür hinter ihm zufiel.

Die beiden Zurückbleibenden sahen sich fragend an. „Wir dürfen ihn nicht allein lassen, Fräulein Aenne,“ flüsterte der Arzt. „Gott im Himmel“, fuhr er fort, „der arme kleine Kerl ist erlöst, aber wenn dieser Mann weiter nichts hat auf der Welt! Er lebte ja nur für das Kind – glauben Sie mir, Fräulein, er ist imstande und macht ein Ende – mit sich!“

„Was soll man thun?“ fragte sie dagegen und preßte die Hände zusammen in furchtbarer Angst.

Doktor Lehmann ergriff plötzlich ihre Hand und führte sie in eine der tiefen Fensternischen. Dort öffnete er beide Flügel, so daß die im Mondlicht schimmernde weite Ferne vor ihnen sich aufthat und der würzige Duft der Frühlingsnacht hereinwehte in das Sterbezimmer, zugleich mit den Liedern der Nachtigallen, die in dem Fliedergebüsch des Schloßberges zu singen begannen.

So standen sie schweigend, und eine ganze Weile verstrich, ehe der Mann zu reden vermochte, und Aenne fühlte, wie seine Rechte zitterte, die er mit festem Druck um die ihrige gelegt hatte.

„Fräulein Aenne,“ begann er endlich mit mühsam beherrschter Bewegung, „wenn ich nun wüßte, wer der Mann ist, den Sie nie vergessen können!“

Sie entriß ihm hastig die Hand, ihre Augen blitzten ihn durch die Thränen zornig an. „Herr Doktor!“ sagte sie, tief verletzt.

„Vergeben Sie mir, Aenne; Ihre Mutter selbst hat es mir verraten im grenzenlosen Zorn und in der Bitternis um einen zerschellten Lieblingsplan. ‚Auf das Schloß haben Sie sie gebracht!‘ rief sie mir zu, als ich vorhin unten war, ‚nun, das haben Sie klug gemacht, sie zu dem zu führen um deswillen sie jeden andern verschmähte!‘ Es fehlte nicht viel, sie hätte mich einen Dummkopf gescholten. Sie aber, Aenne, werden zu stolz sein, das zu leugnen. Es gehe mich nichts, an werden Sie vielleicht sagen – schön! Das weiß ich! Aber sehen Sie, Fräulein Aenne, wenn man als Arzt nur anders könnte, als an das Wohl und Wehe seiner Patienten zu denken, selbst wenn einem – dämlichen Kerl, der man ist, das Herz sich umkehrt! Ich meine nämlich, Fräulein Aenne, da Sie ihn nun doch einmal lieben mit jener großen Liebe, deren nur ein Frauenherz fähig ist, so erbarmen Sie sich auch über ihn, dann retten sie den Mann vom Untergang!“

Sie stand, den Rücken ihm zugewendet, aber er sah, wie sie zitterte, wie sie sich mühte, ihrer Erregung Herr zu werden. „Was soll ich thun?“ stieß sie endlich hervor, ohne sich umzuwenden.

„Das fragen Sie mich doch nicht, Aenne? Wann hätte wohl je ein Mann das rechte getroffen in solchen Fällen? Das kann nur einzig das Weib, das liebt. Sie wissen, was ihm fehlt – Freiheit, Arbeit, neuer Lebensmut, Energie – – Na, natürlich wissen Sie es, Aenne! Nehmen Sie sich seiner an, stellen Sie den grundguten, edlen Menschen wieder auf seine eigenen Beine, das kann eine liebende Frau, gewiß kann sie das – wie? das ist Ihre Sache. Und nun guten Morgen, liebe Aenne, ich möchte ein wenig ruhen, ehe ich andere Patienten besuche. Sie wissen von Ihrem Papa her: Wenn der Totenschein ausgestellt ist, ist der Arzt überflüssig.“

Er nickte ihr zu mit seltsam zuckendem Gesicht, suchte Hut und Stock und verließ das Zimmer.

Aenne verharrte regungslos, die Hände um das Fensterkreuz geschlungen, hinter ihr schlief der Kleine den ewigen Schlaf. Es war so still, so furchtbar still, sie meinte, ihr eigenes Herz pochen zu hören. „Gott, erbarme dich,“ betete sie „laß mich den rechten Weg finden, ihm zu helfen!“

Im Nebenzimmer schritt Heinz Kerkow auf und ab. Ihm war zu Mut wie einem Schiffbrüchigen mitten auf dem weiten Ocean, keine rettende Planke, nichts wie Oede rings, entsetzliche lähmende Oede; es lohnt nicht mehr, mit den Wellen zu kämpfen, die Kraft ist erlahmt. Untersinken, Frieden finden dort unten, nur nicht weiter ringen müssen in dieser Hoffnungslosigkeit. – Sterben – –

Aenne hörte dieses ruhelose Wandern wohl eine Stunde lang, dann ward es still nebenan, ein Schrank wurde geöffnet, ein paar Kästen auf- und zugeschoben und nun – sie barg ihre schlanke Gestalt dicht hinter dem Fenstervorhang, nur ihr Kopf beugte sich vor mit angstvollen spähenden Augen – nun öffnete sich die Thür nach dem Sterbezimmer. Heinz trat auf die Schwelle und blickte sich um. Als er das Zimmer verlassen sah, kam er herein, ging festen Schrittes zu der Thür, die auf den Korridor mündete, verschloß diese und kehrte zu dem Bettchen seines toten Knaben zurück. Einige Augenblicke stand er und betrachtete finster die kleine Leiche, dann griff er in die Brusttasche, kniete vor dem Bette nieder und hob den Revolver.

In diesem Augenblick flog es wie ein Schatten an seinem Auge vorüber, eine kleine energische Hand drückte kraftvoll seinen Arm herab und eine klare Frauenstimme sagte: „Seit wann bist du ein Feigling, Heinz Kerkow?“

– – – – – – – – – – – – – – –

Beim ersten Morgensonnenstrahl kehrte Aenne zurück in ihr Heim. Das Haus war noch verschlossen, ebenso die Läden, nur in des Doktors Zimmer stand ein Fenster geöffnet, und sein Gesicht tauchte hinter den Gardinen auf, als Aenne seinen Namen rief und ihn bat, die Hausthüre aufzuschließen.

„Wie ist er denn? Sprachen Sie ihn noch? Wie trägt er es?“ forschte er leise, als sie eintrat.

„Wie ein Mann,“ antwortete Aenne, und sie drückte die Hand des jungen Arztes im Vorbeigehen.

Weiter erfuhren auch weder Tante Emilie noch die Mutter etwas über den Schloßhauptmann von Kerkow, überhaupt niemand. Dagegen erfuhr Aenne etwas anderes, nichts mehr und nichts weniger, als daß sie die rückhaltlose Erlaubnis habe, ihrem Berufe wieder nachzugehen und zwar in Begleitung der Tante Emilie. Und als letztere sich erbot, doch lieber bei der Schwägerin bleiben zu wollen, hörte sie die Antwort: „Danke! Ich habe schon an Lieschen Weidner telegraphiert, sie kommt ganz zu mir – als Tochter. Ihr könnt ja nun völlig leben, wie ihr wollt in Dresden, braucht euch meinetwegen nicht zu sorgen!“

Im übrigen hüllte sich Frau Rat in Schweigen, und selbst der Doktor existierte augenblicklich nicht für sie, denn dieser Mensch war das undankbarste Geschöpf, das je in ihrer Nähe gelebt! Anstatt anzuerkennen, wie sehr sie beflissen gewesen, seine Wünsche zu fördern, hatte er sie angedonnert. ‚Wie, Frau Rat, sie wußten, daß das Herz Ihrer Tochter nicht mehr frei ist, und wollten sie trotzdem überreden, mich zu heiraten? Haben Sie denn eine Ahnung, hochverehrte Frau Rat, daß das – geradezu gesagt – perfide gegen mich, ja, gegen mich, gehandelt ist?‘ So drehte dieser kratzbürstige Mensch auf einmal die Geschichte um, als Lohn für ihre mütterliche Gesinnung. Hätte sie nur einen andern Mieter in Aussicht, dieser Doktor sollte schon dran glauben, leider aber waren die zahlungsfähigen Junggesellen in Breitenfels sehr rar!

Die alte Dame packte mit undurchdringlichem Gesicht Aennes Sachen ein, fügte fast mehr als sie entbehren konnte an Leinenzeug dazu, wie jemand, der nur um Gottes willen reichlich und vollgemessen giebt, damit er dereinst nicht Vorwürfe zu erdulden braucht. Und als am Begräbnistage Heinis Aenne und Tante Emilie vom Kirchhofe zurückkehrten, war nicht nur alles aufs gewissenhafteste geordnet und eingepackt, es lag auch ein Couvert neben Aennes Tasse, das einen Tausendmarkschein enthielt. Dein mütterliches ’Erbe’ stand darauf geschrieben, mit großen Buchstaben.

[312] „Aber, Mama?“ sagte Aenne peinlich erregt, „warum denn das?“

„Nimm es nur, dann ist zwischen uns alles erledigt! Du kannst nun thun und lassen, was du willst, und bist keiner Seele eine Verantwortung schuldig, ich möchte sie auch nicht tragen, diese Verantwortlichkeit – du hast es so gewollt! Ich kann nur noch den lieben Gott bitten, daß er dich’s nie bereuen läßt, den Weg gegangen zu sein, der dir der rechte schien.“

Am folgenden Vormittage reiste Aenne ab, unversöhnt mit der alten, nach deren Meinung so schwer gekränkten Frau. Die Thränen rannen über ihr blasses Gesichtchen – die Augen der Mutter blieben trocken. Sie würde sich hüten, dem trotzigen Ding zu zeigen, daß ihr das Herz beinahe brach! – Der Doktor war vor Tau und Tag schon über Land gefahren. Abschiednehmen galt ihm im allgemeinen schon für etwas Schreckliches, in diesem Falle dünkte es ihm unmöglich.

Der Wagen rollte an dem Schloßgarten vorüber. Aenne schaute noch einmal hinauf zu dem Erker, unwillkürlich, obgleich nichts dort zu sehen war als herabgelassene Vorhänge. Das Licht würde dort oben nicht mehr flimmern abends, der Schloßhauptmann von Breitenfels war gestern, gleich nach dem Begräbnis, zum Herzog gereist, um seine Entlassung zu erbitten.

Tante Emilie wußte es. „Was er wohl anfangen wird?“ fragte sie, zu Aenne gewendet.

„Ich habe keine Ahnung, Tante.“

„Es sind doch alle Berufsklassen so überfüllt, und er ist so gar nicht mehr gewohnt, zu arbeiten –“

Aennes aufleuchtende Augen trafen sie plötzlich, und ein stolzes Lächeln ließen einen Augenblick ihre Zähne aufblitzen. „Der Heinz Kerkow? Um den ist mir nicht bange Tante Emilie.“

„Was sagst du?“ stotterte die alte Frau.

Aber Aenne schwieg und sah ernst in die Ferne hinaus, in deren Dunst die Türme der Stadt schimmerten, von welcher aus die Eisenbahn sie entführen sollte, der Arbeit, der ungewissen Zukunft entgegen. Barg diese Zukunft auch ein Glück für sie? Ach, hoffentlich! Hoffentlich!

[336] In einem Zimmer des vierten Stockwerkes in einem Miethause der Christianstraße zu Dresden saß Tante Emilie und wartete auf Aenne, die aus der Musikschule heimkommen mußte. Die alte Dame war heute noch ungeduldiger, als wenn sonst die fünfte Stunde schlug, denn der Postbote hatte ein kleines Paket abgegeben, und außerdem war ein Brief gekommen vom Doktor Lehmann aus Breitenfels. Aenne korrespondierte nämlich mit ihm ganz regelmäßig; jede Woche langte solch ein Schreiben an.

Ja, vier Jahre waren vergangen, seitdem Frau Rat ihrer einzigen Tochter die Erlaubnis zum „Wandeln“ ihrer eigenen Wege gleichsam aufgedrungen hatte, und wahrlich, leichte Wege waren es nicht gewesen. Die alte halsstarrige Frau in dem fernen Bergstädtchen ahnte gar nicht, wie sehr das Herz ihres Kindes sich um sie sorgte und bangte, wie es litt unter der stets verweigerten Annahme seines Besuches. Ein einziges Mal in all der Zeit war Aenne nach Breitenfels gereist, damals, als eine böse Influenza Frau Rat auf das Krankenlager geworfen, und da hatte Aenne sie gehegt und gepflegt mit dem Doktor um die Wette, hatte ihr jede mögliche Stärkung verschafft, hatte mit tausend guten Worten um ihre Gunst geworben; als aber die alte Frau wieder in ihrem Lehnstuhl am Fenster sitzen konnte, merkte Aenne, daß ihr noch nicht vergeben war, und sie reiste niedergeschlagen wieder nach Dresden, um in der Arbeit, in der Kunst, ihr Leid zu vergessen.

Mit dem Doktor hatte sie das Abkommen getroffen, von ihm wöchentlich über das Befinden der Mutter unterrichtet zu werden, und daß er gern an sie schrieb, dafür sprachen die herzlichen und doch respektvollen Briefe, in denen zwischen jeder Zeile die Versicherung zu lesen war, daß er sie nie vergessen werde trotz allem und allem. Geheiratet hatte er noch nicht, aber Aenne hoffte, daß er die kleine blonde Cousine, die jetzt Tochterstelle bei der Frau Rat vertrat und die ihn heimlich mit aller Inbrunst einer ersten Liebe im Herzen trug, doch noch heimführen werde. „Zureden darf man freilich nicht,“ hatte Aenne zu Tante Emilie gesagt, „ich habe es erfahren, was daraus entstehen kann. Laß nur, er kommt von selber zu dem Entschluß!“

„Er wartet ja doch noch immer auf dich,“ pflegte dann die alte Dame zu erwidern, „armer Mensch!“

Aenne wußte ja zur Genüge, was Warten heißt, Warten in Qual und Ungewißheit, ohne jede Nachricht, ohne Lebenszeichen von dem, auf den man wartet. Sie selbst wollte es so, sie hatte mit einem einzigen Wort eine Annäherung des geliebten Mannes abgelehnt, hatte den Mut gehabt, mit scharfem Messer in seine kranke Seele zu schneiden, damit sie gesunde.

„Ich kann mich nicht an Sie binden, Herr von Kerkow, ich bin selbst schwach und bedarf eines starken Armes, auf den ich mich stützen möchte. Es würde ein trostloses Wandern sein, wollte ich mich jetzt an Sie hängen. Aber, wenn Sie einst wiederkommen wollen als ein Mann der Arbeit, der auf eigenen Füßen steht, in welcher Stellung es auch sei, dann will ich Ihnen folgen. – Bis dahin leben Sie wohl!“

Und ohne ein Wort der Erwiderung hatte er sich daraufhin trotzig abgewandt. Sie begriff heute nicht mehr, wie sie damals so sprechen konnte, so klar, so kalt und entschieden. Sie wußte, es war ein va-banque-Spiel – alles oder nichts! – der letzte Versuch, den Mann aufzurütteln aus seiner Apathie. Ob es gelingen würde? Wer konnte das wissen! Es war gut, daß sie mit Arbeit förmlich überhäuft wurde, denn in jeder müßigen Stunde trat sein Bild vor ihre Augen, das Bild, wie er am Bette des toten Kindes die Arme nach ihr ausstreckte. „Wenn du mich zwingst, zu leben, so bleibe bei mir, Aenne!“

Da, da hatte sie jene Worte gesprochen. Sie wußte jetzt nur, daß er seinen Dienst aufgegeben hatte und hinausgezogen war in das Leben. Wohin? Keine Kunde war ihr gekommen, aber tief in ihrem Herzen, da lebte die Hoffnung. Und wunderbar, je längere Zeit verging, um so größer und leuchtender wuchsen ihr die Schwingen, um so seltener kamen die Stunden des Zweifels, um so bestimmter erwartete sie sein Kommen. Ein glänzendes Bühnenengagement hatte sie wiederum abgewiesen, in dem sicheren Gefühl, Heinz würde sie nicht gern auf den Brettern sehen. Es begriff sie niemand, sie gab sich auch keine Mühe, ihren Entschluß zu erklären. Sie unterrichtete, sie sang in Konzerten und Kirchen, immer von neuem alles begeisternd mit ihrer herrlichen Stimme, ihrer anmutigen Erscheinung. Sie war schlanker geworden und bleicher; sie lebte ja auch gar so wunderlich dahin mit der alten Tante droben im vierten Stock erzählten sich die Menschen. Besuche nahm sie nie an, und was sie nur zu erübrigen vermochte, schleppte sie auf die Sparkasse, sie war nahe daran, zu den Geizhälsen von Profession gezählt zu werden. Aber sie ließ sich gar nicht beirren, und wenn sie in ihrer einfachen weißen Seidenrobe auf dem Podium stand etwas anderes als weiße Seide trug sie nie – so jubelte ihr alles zu und bestürmte sie um eine „Zugabe“, und Aenne bewies, daß sie nicht geizig sei, sie sang drei, vier Lieder über das Programm hinaus.

Von dem Innenleben des Mädchens wußte aber auch Tante Emilie nichts. Sie glaubte, Aenne lebe nur ihrer Kunst und habe den unseligen Liebestraum mit dem ehemaligen Schloßhauptmann von Kerkow längst vergessen. Daß sich das Mädchen noch verheiraten werde, glaubte sie nicht. Warum sollte sie auch? Es war so behaglich hier, Aenne schien so glücklich in ihrem Beruf, und die kleine Häuslichkeit hielt sie, die Tante Emilie, so blitzblank und sauber – ihretwegen konnte es so fortgehen ohne Ende. Nur heute, heute war sie in Unruhe, denn der Brief des Doktors trug den Poststempel Berlin, eine schier unglaubliche Thatsache. Das Paketchen kümmerte die alte Dame nicht, jedenfalls ’mal wieder das Autographenalbum eines Backfischs.

Endlich wurde draußen die Korridorthür geöffnet und im nächsten Augenblick trat Aenne in das Zimmer, ein bißchen müde und abgespannt zwar, aber doch das alte liebe Lächeln um den Mund. „Guten Abend, Tantchen! Wie früh es jetzt schon dunkel wird, und ist erst Ende September!“ sagte sie. Und ein Päckchen Noten auf den dazu bestimmten Schrank legend, setzte sie hinzu: „Ist Nachricht da von Breitenfels?“

„Dort liegt der Brief vom Doktor, Kind, wundere dich nicht, er ist aus Berlin – was in aller Welt will der in Berlin?

Aenne machte verwunderte Augen, setzte sich aber erst recht behaglich in den Lehnstuhl am Fenster, vor welchem die Blumen der alten Dame im frischen Herbstwinde nickten, und nahm die Tasse Thee, die jene ihr brachte. „Ach, siehst du,“ sagte sie herzlich, die runzlige Hand streichelnd, „das ist die schönste Stunde des Tages, so wohlig und traulich, und heute brauche ich nicht ’mal wieder fortzugehen, Tantchen, denn die Konzertprobe im Gewerbhaussaal fällt aus, ich darf nach Herzenslust faulenzen. Aber nun zeig’ ’mal den Brief von unserm Freund her – wahrhaftig, aus Berlin! Und das Paket? Ach, was wird in dem Paket sein – natürlich ein Album, in dem ich mich verewigen soll! Uebrigens, Tantchen, denke dir, Fräulein Hochleitner hat sich in New York verheiratet, mir erzählte es eben eine frühere Schülerin von ihr. Nun aber, was will der Herr Doktor? Dann las sie den Brief still für sich.

„Meine liebe, sehr verehrte Freundin!

Wie kommt denn der nach Berlin? werden Sie sagen, wenn Sie droben in der Ecke den Namen der Reichshauptstadt lesen. Ja, das raten Sie nur ’mal! Des Landes bin ich nicht verwiesen, auf die Brautfahrt habe ich mich auch nicht begeben, denn das bekannte Citat: ‚Willst du immer weiter schweifen etc.?‘ scheint ganz extra für mich erfunden zu sein. Ich könnte Ihnen nun vorlügen, daß der Kaiser mich zu allerhöchst seinem Leibarzt ernannt habe, oder daß ich von einem hiesigen Millionenonkel als Reisedoktor engagiert worden bin, fürchte aber, Fräulein Aennes klare Augen würden finster blicken, und sie sagte dann zu sich selbst ,Er kann doch die Faxen nicht lassen, Gott weiß, was dahinter steckt!’

Drum also heraus mit der Wahrheit, das heißt – erst zur Hauptsache! Mein Rapport über das Befinden Ihrer Frau Mutter war bereits vorgestern fällig, mich hielten indes allerlei Reisevorbereitungen vom Schreiben ab, und außerdem nahm [338] Frau Rat ein so eminentes Interesse an meiner Ausfahrt, daß sie mir faktisch die Zeit nicht gönnte, an Sie, Fräulein Aenne, zu schreiben. Und nun zu des Pudels Kern! Ihre Frau Mutter befindet sich gut, und es sollte mich nicht wundern, wenn sie eines Tages urplötzlich in leibhaftiger Person in dem Stübchen meiner lieben Freundin erschiene, um – – Ja, nun werden Sie ungläubig lächeln. Aber sehen Sie, Fräulein Aenne, Ihre verehrte Frau Mutter glaubt mir ganz einfach nicht, daß ich nach Berlin reise. Sie denkt – das geht aus ihrem ganzen Benehmen hervor – sie denkt: Gelt, der Doktor reist nach Dresden und holt sich die Braut, als welche Sie gemeint sind. Diese fixe Idee ist chronisch bei ihr, und nichts dagegen zu thun. Ich vermute, sie ist mit allerhand Schlichen hinter unsern harmlosen Briefwechsel gekommen, und ihre Kombinationen gelten ihr als Thatsachen.

Ja, Fräulein Aenne, es ist zum Lachen, wenn ich aber mitlachen soll, so kann ich’s nicht hindern, daß ich dabei eine Grimasse schneide, wie die Kinder es thun, die das Weinen unterdrücken wollen. Jedenfalls wissen wir beide, daß Mutter May sich irrt, ich darf wohl sagen – leider irrt, aber eines anderen zu überzeugen war sie partout nicht. Sie ließ sich ganz genau von mir beschreiben, wie man es macht, um nach Dresden zu gelangen, und ich wette, die eilige Citation der Schneiderin hing mit diesem ihrem Phantasiegespinst aufs engste zusammen. Also halten Sie sich bereit, einen abermaligen Sturm der Enttäuschung à conto meiner Reise über sich hinbrausen zu lassen.

Ich bin unschuldig diesmal; ich bin nach Berlin gereist, um in der Charité eine neue, höchst interessante Heilmethode der Diphtherie kennenzulernen und zugleich mir das neue Krankenheim eines Kollegen in Charlottenburg anzusehen, nach dessen Muster ich das meinige in Breitenfels bauen will. Ja, Fräulein Aenne, ich habe die Idee der Anlage einer Kinderheilanstalt aufgegeben, um mich der Nervenheilkunde zuzuwenden, und eine Klinik für Nervenkranke soll es werden.

Steht dieses Haus, dann führe ich auch die Braut heim. Ihnen will ich es anvertrauen – sie ist ein vernünftiges, gutes, kleines Mädchen, ist Ihre Cousine, und was dann ja doch die Hauptsache, sie will mich, so verwunderlich es auch bleibt! Wir beabsichtigen keine lange Verlobung, schon deshalb, um nicht Ihre Frau Mutter zu irritieren und um das Gerede der Leute zu vermeiden, die sich die geehrten Mäuler zerreden würden über das Brautpaar unter einem Dach. Zu Ostern mag dann die Bombe platzen, das heißt, mögen die Verlobungsanzeigen in die Welt gehen, dann am nächsten Sonntag die Verkündigung von der Kanzel, drei Wochen später die Hochzeit! Aber seien Sie nicht böse, Sie lade ich nicht ein, Aenne!

Nun aber habe ich ordentlich gebeichtet, liebe Freundin. Leben Sie wohl! Mein Weg fuhrt mich zwar an Dresdens Nähe vorbei, aber – ich habe wenig Zeit übrig, und dann, nun den anderen Grund kennen Sie – das Herz thut mir immer noch ein wenig weh in Ihrer Nähe.

Leben Sie wohl! Ich wünsche, ich hörte einmal von Ihnen, daß Sie glücklich geworden sind – Sie wissen, was ich meine.

Immer Ihr treu ergebener     
Dr. Lehmann.“          

Die alte Dame hatte, während Aenne las, Hut und Mantel angelegt, ein Körbchen an den Arm genommen und wartete nur noch auf Mitteilung über den Inhalt des Schreibens, bevor sie ging, für den morgenden Tag einzukaufen.

Aenne sah sie freundlich an. „Mutter ist wohlauf,“ sagte sie, „und er ist studienhalber auf ein paar Tage nach Berlin gereist.

„Kommt er nicht ’mal hierher?“ fragte Tante Emilie.

„Nein, Tante, er hat keine Zeit. Willst du jetzt gehen? Ich hätte dich gern begleitet, aber ich bin ein wenig müde, und wenn auch die Probe ausfällt, durchsingen möchte ich meine Partie doch noch einmal.

„Nun, dann auf Wiedersehen“ nickte die alte Frau. Damit trippelte sie hinaus, und nun war Aenne allein. Sie hielt den Brief des jungen Arztes noch in der Hand, aber ihr Kopf ruhte an dem Polster des hohen altmodische Lehnstuhles, und ihr Blick schweifte über Dächer und Baumgipfel fort bis zu den fernen Höhenzügen, die im Duft des sinkenden Abends verschwammen. Sie seufzte und schüttelte unmerklich den Kopf, seit ein paar Tagen quälten sie plötzlich Zweifel und bange Ahnungen. Wenn ihm bis jetzt nichts gelang, gelingt’s wohl nimmermehr – sie hätte ihn doch nicht ohne eine Hoffnung auf die Zukunft hinausgehen lassen sollen – –!

Wenn sonst dieser quälende Gedanke kam, dann hatte sie ihn noch immer mit dem alten frischen Mut in die Flucht geschlagen, heute wollte ihr das nicht mehr gelingen. Herrgott, innerhalb vier Jahren kein Lebenszeichen! Wenn jemand das wüßte, er würde sie belächeln ob ihres standhaften Wartens. Aber, wachsen denn auch Aemter und Anstellungen gleich Pilzen im Walde für jemand, der sich die nötigen Vorkenntnisse erst erringen muß, und sei es für das geringste Metier, sei es für ein Handwerk?

Nein! Nein! Und nun fing sie wieder an zu überlegen, an welche Küste der Sturm des Schicksals ihn wohl verschlagen haben mochte. Ach, vielleicht war er untergegangen, hatte es nicht vermocht, mit seinen schwachen Kräften das Boot zu steuern? Dann lächelte sie – ach, der Heinz Kerkow, einer von denen, die nur zu wollen brauchen, um ein Ziel zu erreichen, der nur nötig gehabt hatte, wieder wollen zu lernen, der ging nicht unter, der nicht, trotz allem und allem! Und wenn ihn weiter nichts aufrecht hielt, sein trotziges Herz hielt ihn über Wasser! Sie wußte, daß er ihr beweisen würde, kein Feigling, kein Schwächling zu sein. Und während sie dieses dachte, mit Wangen, die tief gerötet waren vor innerer Erregung, hatten ihre Finger den Bindfaden des kleinen Paketes angeknüpft, das graue Papier entfernt, und nun nahm sie aus seiner weißer Umhüllung ein Buch heraus. Auf dem einfachen braunen Kalikoband stand mit großen goldenen Buchstaben quer über dem Vorderdeckel:

„Im Kampf um das Lebensglück“.

Sie hob das Buch näher empor, schlug es auf und las das Titelblatt „Im Kampf um das Lebensglück“. Wahrheitsgetreue Skizzen von einem Schiffbrüchigen. Zehntes Tausend.

Wer schickte ihr denn das Buch mit dem seltsamen Titel? Sie wandte ein zweites Blatt um, und plötzlich stand das Herz ihr still vor großem freudigen Schreck.

Verse! Die alte energische Handschrift, die sie aus den wenigen Zeilen die er einst an sie geschrieben, genau, ach so genau kannte! Sie war aufgesprungen in mächtiger Erregung, sie blickte in ihrem Stübchen umher, als könnte sie es nicht fassen, und dann sank sie wieder zurück in den Stuhl und versuchte zu lesen. Aber die Hände zitterten ihr so, daß sie das Buch nicht zu halten vermochte, sie legte es auf die Fensterbank und beugte sich tief auf die Blätter und im letzten Tagesschein las sie mit überströmenden Augen ….

Aennes Kopf lag plötzlich auf dem Buche, sie weinte, weinte seit langer Zeit zum erstenmal wieder – vor Glück. Dann saß sie, das Buch an sich gepreßt, und ließ die Dunkelheit ihr heißes Gesicht verschleiern. Diese Stunde wog alle die langen traurigen Jahre des Wartens auf, in ihrem Ueberschwang von Hoffnung und Seligkeit. Sie dachte nicht darüber nach, was aus ihm geworden. Sie fragte nicht. wann kommt er? Sie war wie berauscht.

Tante Emilie fand sie noch im Dunklen. „Aber, Kind, was soll denn das heißen?“

Und dann beleuchtete die herbeigeholte Lampe ein erglühendes Gesicht und Augen, die in einem Schimmer erstrahlten, wie die alte Frau sie nur einmal gesehen vor Jahren, damals als Aenne auf den Schloßball ging, kurz bevor s.ie sich mit Günther so Hals über Kopf verlobte.

„Kind,“ fragte die Tante, „ist dir denn etwas geschehen? Aber Aenne schüttelte den Kopf. „Nichts, Tante nur gelesen habe ich etwas und muß auch weiter lesen.“

Und sie setzte sich zum Tisch und fuhr fort in der Lektüre des Buches, und als Tante Emilie doch zum Abendessen mahnte, wurde das Mädchen zum erstenmal in ihrem Leben ungeduldig. Die alte Frau zog es ganz gekränkt vor, ihr Schlafzimmerchen aufzusuchen und die lesetolle, unbegreifliche Aenne allein zu lassen.

Und das Mädchen las und las. Es waren Schilderungen aus Heinz’ eigenem Leben, aus denen Aenne mit pochendem Herzen erfuhr, daß er gleich ihr in der Kunst den verlorenen Herzensfrieden wieder zu finden gesucht hatte. Und wie frühzeitig, schon in Breitenfels hatte er den Grund zu seinem jetzigen Erfolge gelegt! Wie unrecht, wie bitter unrecht hatte sie ihm [339] damals gethan, als sie dem Schwergeprüften gesagt hatte, er solle zu ihr wiederkommen als ein Mann der Arbeit! Er war ein solcher aus eigener Kraft schon gewesen ehe ihn das seelische Siechtum befiel. Aber sie konnte die Thränen trocknen, denn was nun folgte, war die Schilderung eines rüstigen und erfolgreichen Schaffens. Da Heinz der Liebe, die sein Glück bedeutete, sicher war, arbeitete er mit Lust und Freude, und es gelang ihm dann auch, in der Redaktion einer angesehenen Zeitschrift eine sichere und geachtete Lebensstellung zu erringen. Nun stand er auf eigenen Füßen und jetzt wollte er kommen, sie zu fragen, ob sie ihm nun folgen wolle.

Es war in der ersten Morgendämmerung, als Aenne vor Tante Emiliens Bett stand und mit blassem Gesicht und leuchtenden Augen sagte: „Heute mußt du früher aufstehen, Tantchen, heute kommt mein Bräutigam!“

Die gute alte Seele fuhr ganz verstört empor, sie dachte, das Mädchen phantasiere. „Kind! Ach, du Barmherziger, ich hab’ dir’s ja schon gestern angesehen, als du aus dem Konservatorium kamst!“

Da erzählte ihr Aenne die Geschichte des kleinen Pakets und Tante Emilie mußte nun glauben, obgleich ihr’s schier unglaublich dünkte. Und wie rasch konnte sie aus den Federn kommen, wie eifrig fragte und mutmaßte sie jetzt! Aber Aenne antwortete kaum, nur ihre Blicke baten: Laß mich, ich bin zu glücklich, als daß ich reden könnte! Sie hatte im Konservatorium melden lassen, daß sie heute nicht unterrichten könne, den ganzen Tag nicht dann hatte sie Toilette gemacht.

„Weißt du denn eigentlich, wann er kommt?“ erkundigte sich Tante Emilie.

„Nein!“ betonte das Mädchen ruhig.

Die alte Dame wurde ärgerlich. „Und so ins Unbestimmte hinein alle diese Geschichten? Wenn er nun gar nicht kommt?“

„Er kommt“, antwortete sie, und Tante Emilie ging kopfschüttelnd auf den Markt, um noch einiges für das Mittagsessen zu besorgen. Als sie zurückkehrte und mit einem großen Strauß Chrysanthemen in das Zimmerchen trat, ließ sie die Blumen in freudigem Schreck fallen. Mitten im Zimmer stand ein großer schlanker Mann und hielt Aenne umfaßt, und deren Kopf lag an seiner Brust.

Er war gekommen!


Im Hause der Frau Rat herrschte schreckliche Aufregung, es ist auch keine Kleinigkeit, wenn man verreisen will, ohne je über das Weichbild des Städtchens hinausgekommen zu sein. Gar kein Wunder, daß die Vorbereitungen einige Tage dauerten und daß Frau Rat in ihrer nervösen Gereiztheit zu spät einzutreffen fürchtete zur Verlobung.

Lieschen Weidner ging mit rotgeweinten Augen umher, denn Frau Rat hatte mit solch furchtbarer Bestimmtheit von der Verlobung des Doktors mit Aenne gesprochen, daß sie an der Treue ihres heimlich Verlobten zu zweifeln begann, um so mehr, als er ihr noch nicht geschrieben hatte.

Und nun war der mächtige Reisekorb gepackt, morgen in aller Frühe sollte sie beginnen, die Fahrt. Lieschen Weidner hatte eine Menge Wurst, Schinken und Büchsen mit eingekochten Früchten eingepackt in solcher Hungerwirtschaft wie die der beiden Frauen in Dresden würde der Doktor sich nicht wohl fühlen, behauptete Frau Rat; wollte Gott, die Reise wäre nur erst überstanden!

Die alte Dame saß in der Sofaecke, und um sie her auf allen Stühlen und Tischen lagen Gegenstände bereit für morgen. Kapuze, Fußsack, Körbchen und Taschen verschiedene Inhalts, ein Plaid, in welchem eine Flasche Rotwein eingeschnallt war, sorgsam in Zeitungspapier eingewickelt Regen- und Sonnenschirm, es schien, als ob die alte Dame ein ganzes Jahr ins Ausland reisen wollte.

Das Dienstmädchen und Lieschen Weidner bekamen eben noch die letzten Befehle, besonders was die Einrichtung des Zimmers anbetraf, in dem Aenne wohnen sollte. Diese wollte die Mutter gleich mitbringen, denn ein verlobtes Frauenzimmer gehöre ins Haus. Das kleine blonde, sonst so rosige Lieschen stand bleich am Ofen und hörte zu. In ihrer Demut glaubte sie der imponierenden Ueberzeugungstreue der Frau Rat und hielt den Kuß und die wenigen Liebesworte des Doktors für eitel Falschheit und Betrug.

Aber da fuhr sie plötzlich zusammen, wie Flammen schlug es über ihr Antlitz und mit zwei Sprüngen war sie aus der Stubenthür, dieselbe weit auflassend – draußen war ein Schritt erklungen, ein Schritt – so ging nur einer! Dann lehnte sie wankend in dem Rahmen der Thür, denn da stand neben ihm eine schlanke Dame, Aenne May in eigenster Person, und an ihr vorüber eilte sie ins Zimmer mit dem Ausruf: „Mutter, liebe Mutter! Also doch!“

Aber da kam er lachend herüber, und ohne weiteres das bebende Mädchen an sich ziehend, rief er der Frau Rat zu, um deren Hals Aenne die Arme geschlungen hatte: Nun, Frau Rat, ist der stolze Augenblick gekommen, wo Sie ’segnen’ können, aber bitte, mich und meine kleine Braut gleich mit, denn mit Ihrer gütigen Erlaubnis will Lieschen Weidner meine Frau werden.

Frau Rat saß starr und steif, in ihrem Kopfe drehte sich alles, sie hörte nur noch, daß Aenne flüsterte: „Aus deinem Hause, aus unserer alten lieben Heimat soll er mich holen. Aber die alte Dame fand nicht die Kraft zu fragen „Wer denn?“ – „Bin ich denn wahnsinnig geworden?“ stieß sie hervor. „Da steht er ja und hat die andere im Arm!“

Und dann trat in ihren Gesichtskreis eine fremde und doch so bekannte Erscheinung, ein großer, schlanker Mann, auf dessen ernsten Zügen ein ganz jugendliches, glückliches Lächeln lag.

Wer war denn der – sie kannte ihn doch? Heinz Kerkow – großer Gott, und – doch nicht! Der Mann war ja weiß an den Schläfen! Und den wollte Aenne – – Das also war der, auf den sie gewartet hatte? Sie versuchte aufzustehen und wehrte Aennes Umarmung, aber da traf sie ein Blick, der in Thränen schimmernde Blick ihres Kindes. Sie sank zurück, und nun trat er näher und küßte die Hand der alten Frau.

„Darf meine Braut hier bleiben, bis ich sie in mein Heim führen kann?“ fragte er.

„Ich muß erst ein Wort mit Ihnen reden, Herr von Kerkow“, scholl es verzweifelt zurück. „Aenne hat nichts, gar nichts, und das ewige Arbeiten hält sie nicht aus!“

Aenne lachte plötzlich laut und herzlich. „O du thörichtes Mütterchen!“ rief sie, „er will mich ja gar nicht arbeiten lassen, wiewohl ich’s so gern thäte! Nichts weiter soll ich sein wie seine Frau, wie du es immer gewünscht hast für mich, und wenn ich singe, soll’s nur noch zu meinem und seinem speziellen Vergnügen sein.

Frau Rat fragte nicht mehr, sie begann langsam Mut zu fassen. Er sah so fein aus, so vornehm – der hatte sicher geerbt! Und sie küßte feierlich ihre Tochter auf die Stirn und that einen tiefen Seufzer der Erlösung – – gottlob, daß sie nicht zu reisen brauchte! – Die Emilie, die da so still an der Thür stehen geblieben war und der die Rührungsthränen über das Gesicht liefen, die würde es wohl wissen, die wollte sie ordentlich ausfragen nachher. Den Doktor aber, den hielt sie am Aermel fest, just als er mit der kleinen seligen Braut hinaus wollte. „Warten Sie nur – mich so anzuführen! Die ganze Geschichte haben Sie ins Werk gesetzt.“

„Weiß Gott, nicht!“ verteidigte er sich, „ich erblickte die Herrschaften ganz zufällig auf der Bahn in Halle, wo der Dresdner und der Berliner Zug sich treffen.

Sie blickte noch immer unzufrieden.

„Schwiegermama,“ bat er, „seien Sie gut! Sie müssen sich mit uns vertragen, denn wenn Fräulein Aenne in ein paar Woche hinauszieht nach der neuen Heimat, dem großen Berlin entgegen, dann haben Sie nur noch uns, auf die Sie recht nach Herzenslust böse sein können, denn Tante ist feierlich invitiert, die junge Häuslichkeit verschönen zu helfen.

Na, das fehlte noch! dachte die Rätin, wenn eine mitgeht, bin ich das! Und laut sagte sie.

„Nach Berlin? Kauft euch doch hier an!“ wandte sie sich an Kerkow, „Sie hätten doch überhaupt hier bleiben können, die schöne Wohnung da droben, und gar nicht viel zu thun!

„Das erlaubt mein Beruf nicht, liebe Mutter, aber in jedem Sommer kommen wir, und da hole ich mir frische Kräfte zu meiner Arbeit.“

„So?“ fragte die alte Dame enttäuscht, „arbeiten thun Sie?“

„Ja, gottlob!“ sagte er stolz und zog Aenne an seine Seite, „ich kann arbeiten.“