Ueber die Erfindung der Rohrwerke mit durchschlagenden Zungen

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Autor: Christian Friedrich Gottlob Wilke
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Titel: Ueber die Erfindung der Rohrwerke mit durchschlagenden Zungen
Untertitel: Nachtrag zu dem Aufsatze über die Crescendo- und Diminuendozüge in No. 8. der allgemeinen musikalischen Zeitung
aus: Allgemeine musikalische Zeitung. Fünfundzwanzigster Jahrgang. Sp. 149–155
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Erscheinungsdatum: 1823
Verlag: Breitkopf und Härtel
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kurzbeschreibung: Ein Versuch, den Erfinder der durchschlagenden Zungen bei Orgelpfeifen zu ermitteln.
Anmerkungen von Friedrich Kaufmann
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[149]
Ueber die Erfindung der Rohrwerke mit durchschlagenden Zungen.
Nachtrag zu dem Aufsatze über die Crescendo- und Diminuendozüge in No. 8. der allgemeinen musikalischen Zeitung.




Dem Freunde der Kunst und der Wahrheit muss daran liegen, dass jedem, der für die Kunst Nützliches erfand, auch die Ehre der Erfindung bleibe.

Die Erfindung der Rohrwerkmundstücke mit durchschlagenden Zungen haben sich schon Mehrere zugeeignet und sind auch von vielen der musikalischen Literatur Unkundigen für die Erfinder derselben gehalten worden.

Zum Beweise des Obengesagten führe ich kürzlich für diejenigen, welche sämtliche Jahrgänge der allgemeinen musikalischen Zeitung nicht selbst besitzen, Folgendes darüber an:

Im 12ten Jahrgange dieser Zeitung S. 968 wird vom Orgelbauer Hrn. Uthe gesagt, dass er ein Mittel gefunden habe, jedes Rohrwerk so zu arbeiten, dass es eben so wenig verstimmbar sey, als jede andere Labialpfeife, und zugleich sein Klang nicht der rauhe, schmetternde bleibe, sondern angenehmer und den nachgeahmten Instrumenten ähnlicher werde.

Auf diese Mittheilung sagt im 13ten Jahrgange S. 153 Hr. Strohmann: er vermuthe aus gewissen Umständen, dass diese Rohrwerke keine andern, als die von ihm schon vor zwey Jahren (1809) erfundenen und in dieser Zeit noch ausgeführten wären. Er erklärt aber auch, dass er in der nämlichen Zeit erfahren habe, dass der geheime Rath Abt Vogler schon vor ihm diese Art Pfeifen erfunden habe, und überlässt ihm das Verdienst der Erfindung; doch schreibt er sich das Verdienst zu, sie nicht nur für alle Rohrstimmen, sondern auch für die tiefsten und höchsten Töne gleich anwendbar gemacht zu haben.

[150] Ueber diese Mittheilung sagt Hr. Uthe in demselben Jahrgange (1811) S. 429, dass er des Hrn. Strohmanns Erfindung nicht kenne, und nur durch Anfertigung eines Tonmessers, so wie nur durch Studium auf die Verbesserung dieser Rohrwerke schon vor etwa acht Jahren (1805), bey Gelegenheit der für die Orgel zu Neu-Ruppin angefertigten Posaune 32′ nach dieser Struktur, diesem Ziele näher gekommen sey, bey welcher Gelegenheit er auch mehrmals die in der katholischen Kirche zu Berlin befindliche Orgelstimme von 4′ (Angelica 4′) untersucht habe.

Hierauf theilt uns Hr. Sauer zu Prag im 15ten Jahrgange dieser Zeitung S. 118 folgendes über diesen Gegenstand mit: Er hält nicht Hrn. Strohmann für den Erfinder derselben, weil er mit Gewissheit weiss, dass diess Verdienst nur dem Hrn. Kratzenstein gebühre, der in den letzten Regierungsjahren der Kaiserin Catharina in Petersburg lebte, und dass (Catharina II starb am 9ten Nov. 1796) diese Erfindung hernach vom Orgelbauer Hrn. Rackwitz in Stockholm zuerst zu einer Orgelstimme angewandt wurde.

Bekanntlich erbaute A. Vogler sein Orchestrion in den Jahren 1793 bis 1796, und liess sich darauf zuerst in einem Concerte zu Stockholm hören, worin die Rohrwerke desselben alle nach dieser Struktur gearbeitet waren: es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass er sie zuerst bey Hrn. Rackwitz sah, was mir um so wahrscheinlicher wird, da er sich meines Wissens nie selbst für den Erfinder derselben ausgab, sondern nur von vielen dafür gehalten und ausgegeben wurde. Im Jahre 1801 reisete er mit diesem Orchestrion nach Prag, wo Hr. Instrumentmacher Sauer diese Art Pfeifen zum erstenmale sah und bewunderte, sie auch gleich bey einem Fortepiano als 16′ und 8′ anwandte, das zu der Zeit bey ihm bestellt war und das mit einem Flötenwerke versehen [151] seyn sollte. Diess Instrument hatte noch im Jahre 1813 der Hr. Graf Leop. von Kinsky zu Prag im Besitze. Ein zweytes Instrument der Art verfertigte Hr. Sauer 1804 für den Weinhändler Hrn. Graf in Prag.

Im Jahre 1803 erbaute der allgemein als redlicher und geschickter Orgelbauer anerkannte Hr. Buchholz zu Berlin die Orgel zu Neu-Ruppin, in die er die Posaune 32′ von dieser Art nach Anweisung des Hrn. Vogler construirte. Diess ist meines Wissens in den preussischen Landen die erste Orgel, worin diese Pfeifenart gebracht wurde. Späterhin erbauete er für die Kirche zu Tilsit eine neue Orgel, worin sie ebenfalls angebracht wurden. Ausser diesen genannten Kirchen ist mir im Preussischen keine andere, als die katholische Kirche zu Berlin bekannt, worin Angelica 4′ ist, in der die Rohrwerke mit durchschlagenden Zungen befindlich wären. Im Jahre 1805 verfertigte Hr. Ignaz Kober in Wien für die dortige Schottenkirche eine grosse Orgel, worin er mehrere Stimmen der Art, so wohl in das Pedal als auch Manual erbaute.

Hr. Sauer glaubt, dass, da zum Baue dieser grossen Orgel mehrere Gehülfen nöthig waren, dass diese die in Rede stehenden Pfeifen, nach Endigung des Baues, jeder in sein Vaterland gebracht habe, und ich füge noch hinzu, dass sie vorzüglich wohl durch den Abt Vogler, der viele und weite Reisen machte, am meisten bekannt wurden. Warum man sie aber bisher nur noch sehr selten antrifft, darüber künftig ein Mehreres.

Im Jahre 1819 liess ich in Auftrag für die Kirche zu Mira in Mekl. Strelitz eine neue Orgel durch den Orgelbauer Hrn. Heise in Potsdam erbauen, wo ich sie ebenfalls für die Trompete 8′ im Manuale verfertigen liess. Hr. Weber aus Darmstadt lieferte in der Wiener musikalischen Zeitschrift im Jahre 1821, No. 58. über diesen Gegenstand einen sehr polemischen doch wohlgemeinten Aufsatz.

Um diesen Gegenstand genau berichtigt dem Publikum vorlegen zu können, habe ich desshalb an mehrere achtbare Männer geschrieben, deren Kenntniss und Urtheil ich hierbey vertrauen zu können glaubte; doch habe ich hierauf theils noch keine, theils nur ungenügende Antworten erhalten. Die Antwort, welche am zuverlässigsten darüber spricht, ist vom Instrumentenmacher und Orgelbauer, Hrn. G. C. Rackwitz, in [152] Stockholm, vom 9ten July 1822. Sie enthält ihrem Hauptinhalte nach folgendes:

Hr. Rackwitz ging im Jahre 1782 zum Orgelbauer und musikalischen Instrumentenmacher, Hrn. Kirsnick zu Petersburg in Arbeit. Dieser war zuerst in Kopenhagen etablirt, von wo er nach Petersburg zog. Von ihm erfuhr Hr. Rackwitz, dass die erste Idee zu diesem Rohrwerkmundstücke von einem chinesischen Orgelwerke, das nach Kopenhagen kam, entnommen wurde. Dieses hatte runde Röhren von ganz dünnem Messing, welche die Töne angaben. In jede dieser Röhren war mit einem feinen Messer eine Zunge eingeschnitten, die einen reinen Ton angab.[1]

Nach dieser Einrichtung verfertigte der Hr. Prof. Kratzenstein in Kopenhagen eine Sprachmaschine, auf der die verschiedenen Körper standen und deren Zungen, theils von Messing, theils von Kupfer und theils von Stahl waren, mit der er es auch so weit brachte, dass sie die Worte: Papa, Mama angab[2]. Hr. Rackwitz, der im Jahre 1791 nach Kopenhagen reisete, um diese Maschine sehen zu wollen, bedauert jetzt noch, dass ihm diess nicht möglich wurde, indem man ihm sagte, dass die Maschine nicht gangbar und der Prof. Hr. Kratzenstein, schon zu der Zeit sehr bejahrt, krank sey, sich daher nicht sprechen lassen könne.

Ohngefähr um das Jahr 1780 machte Hr. Kirsnick zu Petersburg die ersten sehr mühevollen Versuche, die Pfeifen der Kratzensteinschen Sprachmaschine zu Orgelpfeifen umzuschaffen und Krücken zur Stimmung derselben anzubringen. Nachdem ihm diess gelungen war, setzte er ein solches Register in sein Orchestrion, welches der Abt Vogler im Jahre 1788, wo er nach Petersburg kam, kennen lernte. Es gefiel ihm so wohl, dass er im Jahre 1790 von Warschau aus an den Hrn. Rackwitz schrieb, der als Gehülfe des Hrn. Kirsnick mit an diesem Rohrwerke gearbeitet hatte, und bat, dass er zu ihm nach Warschau kommen möge. Hr. Rackwitz erfüllte diese Bitte, doch kam es in Warschau noch nicht bis zum Baue eines solchen [153] Rohrwerkes, sondern der Abt Vogler überredete ihn, nach Rotterdam zu reisen, um dort zu einer Orgel, die Abt Vogler daselbst bauen liess, verschiedene solcher Stimmen zu machen. Auch diesen Wunsch erfüllte Hr. R., und als er die Rohrwerke, deren Anzahl und Grösse er aber nicht angiebt, angefertigt hatte, reisete er mit dem Abt Vogler nach Frankfurt am Main, um der Krönung des Kaisers Leopold mit beyzuwohnen. Beyde logirten daselbst in einem Karmeliterkloster, wo Hr. Rackwitz zu der dortigen Orgel eine solche Stimme verfertigte und sie in die Orgel einsetzte.

Hr. R. bemerkt nun, dass nach seinem Wissen diess die ersten Rohrwerke gewesen seyen, welche nach Deutschland kamen; doch fügt er hinzu, dass es möglich wäre, dass früher schon durch eine Dame aus Liefland, welche nach dem Regenstrom reiste und ein kleines Organocordium von Kirsnick hatte, diess in Deutschland gezeigt worden wäre. Im Jahre 1791 reisete Hr. Rackwitz von Frankfurt nach Stockholm, wohin das Orchestrion des A. Vogler erst ums Jahr 1793 kam. Schon im Jahre 1791 arbeitete Hr. Rackwitz an einem Organochordion; es bestand aus einem Fortepiano mit 3 ½ Stimme Flötenbegleitung, nämlich: Gedact 8′, Flauto 4′, Rohrwerk 8′ und Fugara 8′ letztere für den Diskant; es war mit einem Schweller für das Rohrwerk und mit einem Diminuendo für die Flötenstimme versehen. Diess Instrument, das erste von ihm, wurde 1792 fertig. Der Orgelbauer Hr. Schwan, ein sehr geschickter und genauer Arbeiter, dem diess Rohrwerk sehr gefiel, erbauete zu der Zeit die Orgel der St. Nicolai-Kirche in Stockholm, und liess durch Hrn. Rackwitz für das vierte Klavier derselben verschiedene Stimmen der Art arbeiten[3].

[154] Hr. Rackwitz bemerkt nun: diese Rohrwerke haben die Eigenschaft, dass sie etwas schwächer im Ton als die mit aufschlagenden Zungen ausfallen und sehr rein im Tone sind. Er versichert, dass das über diesen Gegenstand gesagte der strengsten Wahrheit gemäss sey, und um dieses noch zuverlässiger zu machen, fügte er darüber ein Attest vom Hofrath und Organisten an der St. Nicolai-Kirche in Stockholm, Hrn. von Rosen, bey, das in schwedischer Sprache geschrieben und von Hrn. R. ins Deutsche übersetzt ist, worin diess von Hrn. R. Ausgesagte bestätigt wird.

In diesem Atteste heisst es noch: dass Hr. R. in mehrern grossen Orgeln solche Rohrwerke eingesetzt habe, dass sie im Tone gleichmässig gewesen und dass sie mit dem Schweller, wenn man ihn bis zu einem gewissen Grad angewendet, rein und klar angegeben haben. Es heisst ferner darin: Der Diminuendozug kann die Hälfte von der Stärke des Tones verschwächen, ohne dass ein Sinken desselben hörbar wird, doch ist zu bemerken, dass die allergenaueste Proportion der Zungen beobachtet werden muss, und dass sie durchaus von gleicher Masse seyn müssen; in welchem Falle ein Mundstück eher gar nicht angiebt, als es im Tone beym Gebrauche des Diminuendo fallen sollte.

Beyde Schreiben enthalten noch etwas über den Schweller und Diminuendozug, was ich bey einer andern Gelegenheit mittheilen werde.

Wollte man nun auch annehmen, dass Mehrere eine und eben dieselbe Sache erfinden können, so würden, wie aus dem Vorhergesagten hervorgeht, auch hierbey Mehrere auf die Ehre der Erfindung Anspruch machen können. So viel geht aber auch aus dem Obengesagten mit Gewissheit hervor, dass Hr. Kratzenstein als der älteste dieser Erfinder anzusehen und zu achten ist. [155] Wenn Hr. Perne (im Jahrgänge 1821 S. 134 der allgem. musik. Zeit.) Hrn. Grenié als Erfinder nennt, so wie ihn als solchen Hr. Biot in seinem Précis élémentaire de Physique vom Jahre 1817, (T. 1. pag. 386) ebenfalls aufführt; so mag man zugestehen, dass von Hrn. Grenié in Frankreich diese Erfindung zuerst ausgegangen sey; in Russland, Schweden, Böhmen und Preussen aber war diese Erfindung schon vor zwanzig Jahren bekannt.

Wilke.

  1. Man vergleiche den Aufsatz von Hrn. Dr. Chladni im 23sten Jahrgange, No. 22. dieser Zeitung.
  2. Eine ähnliche oder vielleicht gar dieselbe befindet sich schon seit vielen Jahren in Paris in den Händen des Hrn. Robertson, bey dem man sie täglich sehen kann.
    Fr. Kfm.
  3. Mit Vergnügen bezeuge auch ich, dass mir Hr. Abt Vogler, als ich ihn in den Jahren 1806 und späterhin 1809 in Durmstadt sprach, die Geschichte der Entstehung dieser Rohrwerke genau so erzählte, als ich dieselbe hier finde. Von Hrn. Abt Vogler erhielt sie, nach dessen Erzählung, der verdienstvolle Mälzel in Wien, der sie vorzüglich zu seinem Panharmonikon anwendete, mit welchem er in den Jahren 1805 bis 1807 in Paris war. – Er hatte sie vornehmlich zu den Oboen und Klarinetten und zu den Clarinotönen der Trompeten angewendet, und war auch in Paris so wenig geheimnissvoll damit, dass er diesen Mechanismus jedem gebildeten Zuhörer seiner Soirées musicales mit Vergnügen zeigte, wo auch ich sie selbst gesehen habe. [154]Ob wohl Hr. Grenié in diesen Jahren gar nicht in Paris war? – Wäre er dort gewesen, so musste er, auch als Künstler in diesem Fache, Mälzels Panharmonikon kennen lernen, und dann wäre es wohl unbegreiflich, dass er die einspielenden Zungen einige Jahre später als seine Erfindung ausgegeben hätte –? –? Bemerkenswerth ist noch, dass Hr. Mälzel bey seinen Klarinetten und Oboen keine Stimmkrücken hat – und eben so Hr. Grenié! –! –! –
    Fr. Kaufmann.