Volcks-Sagen

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Autor: Johann Karl Christoph Nachtigal
unter dem Pseudonym Otmar
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Titel: Volcks-Sagen
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Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1800
Verlag: Wilmans
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Erscheinungsort: Bremen
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Inhaltsverzeichnis

Volks-Sagen[1].


Seite
1. Lora, die Göttin der Liebe. 73
2. Jakob Nimmernüchtern. 79
3. Die Hufeisen. 113
4. Die Quäste. 121
5. Der Ritter-Keller. 131
6. Die goldnen Flachsknoten. 141
7. Die Wunderblume. 145
8. Der Ziegenhirt. 151
9. Der verzauberte Kaiser. 159
10. Ilse, oder, die Bewohnerin des Ilsensteins. 169
11. Die Teufels-Mauer. 175
12. Die Roßtrappe. 179
13. Die Teufels-Mühle. 187
14. Der Mägdesprung. 195
15. Des Mannes Feld. 199
16. Der Thomas-Pfennig. 203
17. Die Dummburg. 223
18. Hackelnberg. 239
19. Das Grundlos. 251
20. Das Hühnenblut. 267
21. Der Wolfstein. 271
22. Die Daneels-Höle. 277
23. Ehrlich währt am längsten! 293
24. Zwerg-Sagen. 311


Text

Volcks-Sagen.
Nacherzählt
von
Otmar.


Bremen,
bei Friedrich Wilmans
1800.


Die Volks-Sagen, welche hier dem Publikum vorgelegt werden, sind nicht Dichtungen einer neuern Phantasie, die einige Bruchstücke aus der Sittengeschichte des Mittelalters zur Einkleidung eines Romans benutzt, zu dem nur zuweilen eine kleine ächte Volkssage die Grundzüge darbot. Es sind wirkliche Volkssagen, mit Mühe gesammelt, da sie immer seltner und seltner unter dem Volk gehört werden, und so getreu, als es möglich war, nacherzählt. Es sind: örtliche Volkssagen aus dem alten Hartingau, größtentheils aus dem zwölften bis sechszehnten Jahrhundert; die vielleicht für Deutschland eine ähnliche Sammlung von romantisch-historischen Erzählungen vorbereiten könnten, als Le Grand, aus den Ueberlieferungen des 12ten und 13ten Jahrhunderts, für Frankreich geliefert hat, nicht bloß zur Unterhaltung in den Stunden der Muße, sondern auch für den Menschenbeobachter und den philosophischen Geschichtforscher.

Die richtige Ansicht und Beurtheilung dieser Volkssagen zu erleichtern, mögen hier noch folgende Bruchstücke als Einleitung stehen.


Aechte Volks-Sagen, besonders örtliche, und zweckmäßig geordnet, sind dem Forscher wichtig, weil wir aus ihnen die dunkle Zeitgeschichte, und die frühern Kulturperioden des Volks, in einzelen Charakterzügen, so wie die herrschenden Zeitideen, kennen lernen; in Absicht welcher Zeiträume man kaum gleichzeitige prosaische Geschichtschreiber, im eigentlichen Verstande des Worts, erwarten kann, oder doch wenigstens nicht die Geschichte des Volks und seiner Lage und Geistesentwickelung, sondern nur der Kriege und des Hofgepränges der Fürsten.

Freilich geben uns die Volkssagen nicht immer die unverhüllte Geschichte selbst. Sie sind, einem großen Theil nach, Dichtungen, aber, durch Empfindungen und Gefühle veranlaßt, die auf Ereignisse und Begebenheiten, so wie auf Zeitideen, hindeuten, welche sich, nach der Entkleidung von der dichterischen Hülle, dem Forscher, hier deutlicher, dort dunkler, darstellen. Inzwischen folgen wir, bei Gegenständen menschlicher Wißbegierde, die wir nur errathen können, auch wohl den dämmernden Spuren einzeler Lichtstrahlen, um das Chaos vor unsern Augen allmählig sich ordnen zu sehen. Und sehr ungern würde der philosophische Geschichtforscher Homers dichterisch verschönerte Darstellung mancher alten griechischen Volkssagen entbehren. Auch Livius gesteht, bei der Erzählung vieler der interessanteren Scenen der ältern römischen Geschichte, daß Volkssage die Quelle war, woraus er schöpfte.

Sollten nun die Erzählungen aus der Vorzeit, die man noch zuweilen in den vertrauten Kreisen des Volks, auch in Nord-Deutschland hört, und welche sich größtentheils auf die Zeiten beziehen, und bald nach ihnen gebildet wurden, die man sonst prosaisch-richtiger die Zeiten des wilden Faustrechts nannte, jetzt aber öfter durch den lieblicher-tönenden Namen der Ritterzeit verschönert, über diese Periode, und über die Lage, Stimmung und Bildung des Volks in derselben, nicht richtigere Begriffe verbreiten, als fünf bis sechs Jahrhunderte später gedichtete Ritter-Romane?

Auch bieten sich, durch die Zusammenstellung mehrerer ächten Volkssagen und Volkserzählungen, zumal wenn sie nach Zeit und Ort gehörig geordnet sind, mannichfache Aufschlüsse über die Charakterstimmung des erzählenden Volks dar. – Der Kosmopolit und der Patriot und der Politiker, alle sehen hier Winke, welche auf wichtige Resultate leiten. Hier entdeckt der Forscher eine Volksstimmung, die der Humanität entspricht, dort sieht er Verschrobenheit; hier zeigt sich feines sittliches Gefühl, dort Hang zur Ausschweifung oder wilder Grausamkeit; hier Frohsinn und schäkernde Laune, dort Bitterkeit in Ernst und Spott; hier Geradheit und Ausdruck der Kraft, dort schleichende List oder hartnäckige Tücke; hier freier unbewölkter Blick, dort der Nebel des Aberglaubens; hier der Einfluß einer guten menschenfreundlichen Regierung, dort Sklavensinn, durch Bedrückung erpreßt.

Oft liest auch der Menschenbeobachter von geschärfteren Sinnen, in diesen Sagen, Bruchstücke der Geschichte der nahen oder fernen Zukunft, mit mehrerer Gewißheit, als er die Geschichte der frühern Vergangenheit in sogenannten historischen Werken ahnet. Oft kann er daraus politische Evolutionen und Revolutionen vorhersagen, so wie er aus dem frohen Aufkeimen der wohlausgestreuten Saat eine reiche Erndte, oder aus entferntem Gewölk ein heranziehendes Gewitter vorhersagt.

Ferner können ächte Volkssagen dienen, die Entstehung der Mythen, in der Kinderperiode der Bildung der Völker, zu erklären; sie mögen nun orientalischen oder occidentalischen, scytischen oder griechischen, oder kamtschadalischen Ursprungs seyn. Sie lehren uns: daß die gewöhnliche Veranlassung zur Bildung dieser Mythen theils Wortforschung war, theils in Naturscenen lag, die der forschende Geist bei seiner Entwickelung aufzuklären strebte. – Auch wird daraus, daß bei allen Völkerstämmen, die über die erste Rohheit hinaus sind, sich dieselben Veranlassungen zu solchen Dichtungen finden, erklärbar: warum die Mythen aller Nationen, der durch Klima und Lebensweise bestimmten Individualität ohnerachtet, doch so große Uebereinstimmung in Gang und Bildung zeigen.


Viele Volkssagen und Volkserzählungen haben sich über mehrere Länder verbreitet, und sich Jahrhunderte, selbst Jahrtausende hindurch erhalten. Andre sind auf einen kleinen Umkreis, oder auf kurze Zeiträume beschränkt. – Nicht ganz unfruchtbare Untersuchungen würden es in dieser Hinsicht seyn: wie weit z. B. die Sagen von Nixen, von Wehrwölfen, von den Halbgeistern, die das Volk Zwerge nennt, von dem wilden Jäger Hackelnberg, von furchtbaren, grausamen Raubrittern u. s. w. sich verbreitet haben? in welchen Zeiträumen man in den verschiedenen Gegenden diese einzelen Sagen zuerst findet? und wann eher diese Sagen in den verschiedenen Länderabtheilungen aufgehört haben, Volkserzählungen zu seyn?

Auf wichtige Resultate leitet uns die Vergleichung der Volkssagen bei verschiedenen Nationen, und die Geschichte ihrer Wanderungen. Hier nur einige Winke.

Die ächten alten Volkssagen der nördlichen Hälfte von Europa, z. B. der Schotten, der Iren, der Dänen, der meisten deutschen Völkerschaften, haben fast immer ein furchtbar-schauerliches Kolorit; fast alle deuten auf Staunen- und Grausenerregen; die handelnden Personen sind häufig übermenschliche Wesen, Geister der Verstorbenen, Teufel, Riesen, Zauberer, Zwerge, und die Scene liegt in der dämmernden Vorwelt. Nur in den Sagen aus der neuern Periode wird das Kolorit etwas heller. – Die Volkserzählungen der meisten südlich-europäischen Völker, z. B. der Franzosen und der Italiäner, wenn eine behagliche äußre Lage sie in traulichen Kreisen vereinigt, sind mehr aus der wirklichen, uns umgebenden Welt hergenommen; die Originale der auftretenden Personen sind häufig unter den Lebenden zu finden; der Stoff ist größtentheils Schalkheit oder sinnliches Vergnügen; und in Absicht der Wirkung ist mehr auf Belustigung, als Schreckenerregen, gerechnet, wenn nicht etwa Krieg oder Eifersucht blutige Scenen bereiten. – So daß (wenn wir uns hier, bei so mannichfaltigen Verschmelzungen der Nationen sowohl als der Sagen, ein allgemeines Urtheil erlauben wollen) die meisten Volkssagen des nördlichen Europa sich zu den Volkserzählungen in der südlichen Hälfte unsers Erdtheils ohngefähr so verhalten, als die alte Tragödie der Griechen zu ihrer Komödie.

Die Wanderungen dieser Volkssagen sind theils für den eigentlichen Geschichtsforscher wichtig, um die Verbindung mancher oft entfernten Völker unter einander, sey es durch Sprache und Darstellungsart, oder durch Geistesstimmung, näher darzulegen, theils für den großen Ueberblick der nationellen Entwickelung des Menschengeschlechts.

Die Verfolgung der einzelnen Spuren ihrer Wanderungen, ihres Entstehens und ihres Verschwindens in verschiedenen Ländern, lehrt: daß die verschiedenen Arten von Sagen und Volkserzählungen mit dem Klima, dem mehr oder minder bewölkten Himmel, den Ebnen und Gebirgen eines Landes, dem unfruchtbaren oder leicht zu bearbeitenden Boden, der größern oder mindern Kultur des Landes[2], der Bauart der Wohnungen, und der Tempel und der Vesten, in eben so genauer Verbindung stehen, als mit den Stuffen der Geistesbildung, mit der Religion eines Volks und mit der Regierungsverfassung.

[13] In Gegenden, die dunkle, kaum von einzelen Lichtstrahlen durchdrungene Wälder überdecken, wo aus unabsehbaren Morästen aufsteigende mephitische Dünste den Himmel trüben, und Augen und Seele umnebeln, wo schaudererregende Hölen und Tod-drohende Abgründe zwischen starrenden Klippen oder finstern Raub-Burgen,

die Hauptgegenstände sind, welche die Aufmerksamkeit der Landesbewohner spannen; muß nicht der Anstrich der dort gebildeten Volkssagen schwarz und grausend seyn? Mußte er es nicht in den Ländern seyn, wo man in dämmernden Hölen unverstandne Orakel erflehte, oder da, wo man Tempel von Menschenknochen aufthürmte, wo Priester Tausende ihrer Mitbrüder zu Schlachtopfern fordern konnten, durch den Ausruf: Die Götter dürsten! – Was für Volkssagen kann man da erwarten, wo seit Jahrhunderten die gewöhnliche Unterhaltung nur Mord und Gewaltthat betrift, oder Klagen über tief empfundene Unterdrückung! welche in Zeiten erwarten, wo der Enkel sich noch lebhaft an die Erzählungen der Voreltern erinnert, wie Bären und Wölfe Kinder und Weiber aus den Häusern fortschleppten, oder in Wäldern zerrissen, oder, wie Schaaren von Räubern aus Hölen und Burgen herabstürzten, die Erndten verwüsteten, die Weiber mißhandelten, und die Reisenden beraubten und mordeten!

Und im Gegentheil, ein lachender Himmel, wohlgebaute Städte, der Anblick fruchtbedeckter Fluren, von glücklichen Menschen gepflegt, wie ein Garten Gottes, Frohsinn und das Gefühl der Ruhe und leicht befriedigter Bedürfnisse; müssen sie nicht Volkserzählungen veranlassen, deren Hauptcharakter Fröhlichkeit und schäkernde Laune ist? – Besonders haben die Ansichten, die sich dem Kinde und dem Jünglinge darbieten, den entscheidensten Einfluß auf das Kolorit der Volkssagen und Volkserzählungen.

Aber, diese Ansichten bleiben nicht, in demselben Lande, immer unverändert dieselben. Wachsende und sinkende Kultur, so wie Verschiedenheit der Regierungsverfassung und der politischen Verhältnisse, bilden die Gestalt des Landes um; und so wandeln und modeln sich auch die Volkserzählungen.

Nur aus der allmählichen, freilich nicht in einzelen Jahrzehenden bemerkbaren, aber doch unläugbar immer mehr sichtbar werdenden Milderung des Klima, durch steigende physische Kultur, wird das Phänomen erklärbar: warum gewisse Arten von Volkssagen sich in manchen Gegenden immer mehr verliehren, und sich weiter nordwärts ziehen?

Aber, nicht Deutschland, Skandinavien, Schottland, Irrland und Island allein, erzeugten, in ihren Nebel-bedeckten, von Räubern und reißenden Thieren beherrschen Gebirgen, wunderseltsame Geistergestalten und Nixe, und irreleitende Kobolde und zürnende Zwerge, und mordende und Schreckenverbreitende Riesen und Räuber. Auch Griechenland und Italien waren vor Jahrtausenden das, was Deutschland und mehrere nordische Länder vor Jahrhunderten waren, Scenen des Grauens und des wilden Faustrechts. Und die auf diese Zeiten folgenden Perioden erzeugten Volkssagen vom Minotaur, von Faunen, von himmelstürmenden Giganten, von Centauren, von leidenschaftlichen Göttern, die Weiber mißhandeln, und Menschenopfer und Länderverwüstungen fordern, vom Pelops, vom Oedipp, von der Medea, von der Circe, vom Typhöus, vom Riesenwürger und Räuberbändiger Herkules, von den Harpyen und Furien, vom Schreckenverbreiter Pan, vom Sinis, vom Kakut und andern Räubern und Unholden.

Aber schon zu Homers Zeiten verlohren sich, durch steigende Landes- und Geistes-Kultur, unter dem griechischen Volke, viele der ältern Sagen, und sanken zu verlachten Märchen herab[3]. Und unter Perikles hörte man, in Attika, die grausenden Sagen wohl selten in dem Munde des Volks; sie erhielten sich durch die Vorlesungen der homerischen Gedichte und der Tragiker. – Um Rom waren die Schauder-erregenden Sagen so lange endemisch, bis die Ruinen der rohern Vorwelt, und das Andenken an die in demselben verübten Unthaten, durch gut angebaute Fluren, durch eine regelmäßige Landesverfassung, und durch das Gefühl des Wohlstandes, verdrängt wurden. Unter August fand man sie nur noch in der Tragödie und bei Dichtern.

Späterhin zeigte Italien seinen Bewohnern die Trümmern von prächtigen Tempeln und Basiliken, von erhabenen Versammlungsplätzen, der Zerstörung trotzenden Kunststraßen und Wasserleitungen, zeigt ihm überall die Spuren der weiland sorgsamsten Benutzung der Felder, zeigt ihm Obelisken und Statuen und Gemählde und schön gebaute Städte und Villen, und zahllose Wirkungen des Kunstfleisses, laute Beweise des Wohlstandes und einer hohen Kultur, welche jene Schreckensscenen verdrängte; und die Erzählungen, die, unter einem heitern Himmel, auf leichte Befriedigung der beschränkten Bedürfnisse darbietendem Boden, und unter jenen Umgebungen, erzeugt und allgemach zu Volkserzählungen wurden, deuten größtentheils auf Lebensgenuß.

Die nördlichen Länder Europa’s zeigen uns noch jetzt, hier und da, die Ruinen von Raubschlössern, in wildem Gebirge versteckt, von Burgverlißen, von Warten, von denen der geängstete Landmann und der Städtebewohner die heranziehenden Räuber ausspähte. Und der Anblick dieser Trümmern, so wie das Gefühl der noch nicht ganz vernarbten Wunden, die jene Raubperiode dem Volke schlug, erhält noch jetzt manche der grausenden Sagen der Vorzeit.

Auch ergiebt sich aus dieser Darstellung die Möglichkeit, daß in denen Gegenden, wo noch jetzt Gesetzlosigkeit Raub und Gewaltthat herbeiführt, oder, wo die Schrecken des Sklavendienstes herrschen, wo der dürftige und unterdrückte Hüttenbewohner nur Gegenstände des Grauens um sich her sieht, nach Jahrhunderten (denn, unter dem Druck selbst gedeiht die Dichtung nicht) sich ähnliche Volkssagen bilden können.

Aber, die Trümmern der Burge, und alle die traurigen Ueberreste des Faustrechts verschwinden auch in Nord-Europa allgemach, und sind an den meisten Orten fast nur noch Gegenstand der Untersuchung einzeler Alterthumsforscher, immer seltener Gegenstand des Staunens und der ängstenden Furcht des Volks, das zu höherer Kultur und größerm Wohlstand aufsteigt, und über die Gegenwart der Vergangenheit vergißt. Und schon hört man unter ihm immer weniger und seltner die durch jene Periode des Despotismus veranlaßten Sagen.

Die Bewohner der meisten Gegenden Deutschlands stehen jetzt auf den mittleren Stufen der nationellen Bildung, sehen rechts die in Staub zerfallenden Trümmern der rohern Vorwelt, sehen links Gegenstände der Freude und der Hofnung, und des Emporsteigens zu höherer Kultur, von der Griechenland und Latium schon längst herabgesunken sind. – Daher die auffallende Verschiedenheit der Darstellung in unsren Volkssagen und Volkserzählungen und Volksmährchen.

Sichtbar aber machen jetzt auch unter dem deutschen Volk die Schauder erregenden Sagen immer mehr und mehr solchen Darstellungen Platz, die ein lachenderes Kolorit haben, und auf Lebensgenuß hinweisen. Mit den freiern Ansichten, den besser angebauten Fluren, der heiterern Luft, der reinern Farbe des Himmels, den hellern und geräumigern Wohnungen, den besser erleuchteten Kirchen, mit dem steigenden Luxus in Speisen und Kleidern, mit dem Gefühl des Wohlseyns, mit dem freiern und unbewölkteren Blick, mit der leichteren und unbefagnern Geistesentwickelung, auch in den niedrigern Volksklassen, haben sich schon die meisten Sagen von Gespenstern, Kobolden und Ungeheuern aller Art verlohren.

Schon jetzt hält es schwer, das Volk zum Erzählen mancher noch erhaltenen Sagen der Vorzeit zu bringen, weil die Erzähler sich fürchten, verlacht zu werden, da sie es fühlen; daß die Sagen nicht mehr zu den jetzigen Zeiten passen, und oft in offenbarem Widerspruch mit den jetzt gangbaren Bergriffen stehen; und weil sie es nicht einmal ahnen, daß der Frager die Absicht haben kann, daraus Beiträge zur Geschichte entfernter Zeiten zu entziffern, und die Sitten, Denkungsart und Bildung der Vorwelt sich zu vergegenwärtigen. – Und in funfzig oder hundert Jahren wird der größte Theil der noch hier und da gehörten ältern Volkssagen, bis auf die, welche jährliche Volksfeste in die Erinnerung zurückrufen[4], verschwunden, oder doch, durch den Kunstfleiß der Ebnen und Städte, und durch die immer lebhaftere Theilnahme ihrer Bewohner an den politischen Begebenheiten unsrer Umwandlungs-reichen Zeiten, in die einsamern Gebirge zurückgedrängt seyn.

Und eben diese zu berechnende Erwartung macht es dem Forscher zur Pflicht, zwar nicht alles, was die ungebildeteren Volksklassen sich erzählen, aber doch solche Volkssagen, aus deren Zusammenstellung der Denker entweder erhebliche Resultate zu ziehen hoffen kann, oder, die uns eine unterhaltende Ansicht gewähren, zu sammeln, ehe die Entfernung von ihren Beziehungsperioden sie vernichtet hat. – Hätten Homer und die Tragiker uns nicht einige der alten griechischen Volkssagen aufbewahrt, was hätten wir denn für eine Quelle, um die Periode der Geschichte des griechischen Volks, der Geschichte seines Charakters und seiner Bildung, zu studiren, welche noch keine Geschichtschreiber hatte, und keine haben konnte? Nur aus den Mythen von den Göttern und den Menschen in der Heldenzeit, entziffern wir eine Darstellung von der Leidenschaftlichkeit, den Ausschweifungen, der Gewaltthätigkeit, der Arbeitsscheu, dem Despotismus der ältesten griechischen Machthaber, von dem Druck und der Herabwürdigung des Volks, von den Verhältnissen des männlichen und weiblichen Geschlechts, von den herrschenden Zeitideen und Sitten, von der wahren Art des Entstehens der Staaten, von den ersten Anfängen der Künste und der Kultur, und von dem langsamen Fortschreiten derselben.

Aber freilich gehört zu dieser philosophischen Benutzung der Volkssagen ein geübter Blick, der den Geist und das dichterische Gewand der Sagen unterscheidet, um nicht jenen entschlüpfen zu lassen, und auf dieses historische Untersuchungen zu gründen!


Außer den Erinnerungen aus der Geschichte der Vorzeit, deren vorspringende Züge, zumal wenn Trümmern der Vorwelt sie lebhaft vergegenwärtigten, sich durch Ueberlieferung vom Vater auf den Sohn und Enkel vererbten, gaben zu dergleichen örtlichen Volks-Sagen, wie sie hier vorgelegt werden, noch besonders Veranlassung:

I. Wortforschungen, dergleichen auch auf den niedern Kulturstufen häufig bemerkt werden. Homer und Virgil haben uns mehrere Beispiele davon erhalten. Hier nur ein Paar aus dem letzteren:

a) Aeneis 6, 165. 232. ff.

„Aber der fromme Aeneas erhebt ein gewaltiges Denkmal
Ueber dem Mann, und sein eignes Gewehr, die Drommet’ und das Ruder,
Hart an dem luftigen Berge, der nun Misenus von jenem
Heißt; und ewig hinfort den dauernden Namen behauptet.“
„Aeolus Sohn Misenus, dem nie ein anderer vorging,
Männer zu regen mit Erz, und Krieg mit Getön zu entflammen. –
Nun, da er einst durchhallte die Flut mit gehöhleter Muschel,

[26]

Thörichter! und mit Getön die Unsterblichen rufte zum Wettstreit;
Hatt’ ihn der eifernde Triton belaurt (wenn glaublich die Sag’ ist)
Unter Geklipp, und den Mann in die schäumende Woge getauchet.“

b) Aeneis 7, 1. ff.

„Du auch hast, Cajeta, du Pflegerin einst des Aeneas,
Unsre Gestade im Tode mit ewigem Ruhme verherrlicht.
Jetzt noch bewahret den Sitz die Verherrlichung; und die Gebeine
Zeichnet, wenn Ehre das ist, in der großen Hesperia, Name.“[5]

Auch der Hartingau bietet uns zu dieser Bemerkung: daß Wortforschung oft Sagen bildete, ausmahlte, oder umformte, viele Belege dar. Außer den hieher gehörenden, nachmals vollständiger dargelegten Sagen, mögen

hier folgende örtliche Volkssagen, größtentheils nur mit einigen Grundzügen angedeutet, stehen.

1) Die Sage vom Lügenstein. – Auf dem Domplatz in Halberstadt liegt ein runder Fels von ziemlich beträchtlichem Umfang, der einst wahrscheinlich ein heidnischer Opferaltar war, und in der Rücksicht ein wichtiges Denkmahl für den Alterthumsforscher ist. Vielleicht diente dieser auf die Höhe des Berges gebrachte und durch untergelegte Feldsteine erhöhte Fels auch, bei Volksversammlungen der alten Sachsen, die Männer, die von dem Volk deutlicher gesehen werden mußten, z. B. die zu erwählenden Anführer, ihm darzustellen. Darauf scheint der wahrscheinliche alte Name: „Legge-Stein,“ d. h. Schau-Stein[6], hinzu deuten. Die Umwandlung dieses Namens in: Lügenstein, erzeugte durch Wortforschung folgende Sage: „Der Vater der Lügen hatte, als der tiefe Grund zu der Domkirche gelegt wurde, große Felsenmassen hinzugetragen, weil er hofte, hier ein Haus entstehen zu sehen, das sein Reich mit neuen Unterthanen bevölkern könnte. Aber endlich bemerkte er, da das Gebäude sich immer mehr in seiner Form erhob, daß man eine christliche Kirche baute. Nun beschloß er, das Gebäude zu zerstören. Mit einem ungeheuren Felsstein schwebt’ er herab, um Gerüste und Mauern zu zerschmettern. Nur durch das Versprechen, ein Weinhaus dicht neben der Kirche zu erbauen, ward er besänftigt, daß er den Fels auf den geebneten Platz vor der Kirche hinwarf. Noch sieht man an dem Steine die Höhle, die der glühende Daumen seiner Hand, beim Tragen, eindruckte.

2) Wehrstedt, ein Dorf nahe bei Halberstadt, hat, nach der Sage, seinen Namen davon erhalten, daß, bei einem gefahrvollen Ueberfall fremder Barbaren, da die Landesbewohner der Uebermacht schon unterlagen, die Todten aus den Gräbern aufstanden, und sich gegen diese Unholde tapfer wehrten, und so ihre Kinder retteten.“

3) Dannstedt, ein Dorf unweit Wernigerode, soll, der Sage nach, eigentlich: Tanzstedt heißen: „In der frühen Vorzeit, so erzählt sie, tanzten einst einige betrunkene Männer und Weiber, am Weihnachtstage, während des Gottesdienstes, rings um die Kirche. Der Priester, den ihr ungebührliches Lärmen störte, that sie, nach vergebener Warnung, in den Bann. Und, auf sein Gebet, mußten sie ein ganzes Jahr lang, unausgesetzt forttanzen; so daß die Tanzenden, deren Kleider nicht veralteten, und die in der Zeit weder aßen, noch tranken, noch schliefen, rings um die Kirche, einen tiefen Graben, der noch zu sehen ist, der Erde eindruckten.“

4) Den Namen Roklum, den ein einige Meilen von Braunschweig entferntes Dorf führt, deutet die Sage durch: Rock um! (Rauch, kehre um!) Diese Worte rief, so erzählt die Volks-Legende, „ein Engel bei einem schrecklichen Brande, der die ganze Gegend bis dahin verwüstete.“

5) Die Sage vom Jürgenholze, unweit dem Städtchen Schwanebeck[7].

„Mein Feldhauptmann Wolda erlegte den Otto von Schwanbeck,
Im Gewühle der Schlacht. Segilla, die einzige Tochter,
Sieben rüstige Söhn’, und eine bejahrete Witwe
Weinten dem Otto nach, und schwuren ewige Feindschaft
Wolda und meinem Geschlecht. Einst war mit den sieben Erzeugten
Weit entfernt die Mutter. Allein, auf einsamen Schlosse,

[31]

Ruhte die schöne Segilla. Den Ritter Jürgen von Nienburg,
Feindlichen Nachbar des Weilers, und Enkel der Göttin Gedeßa,
Lüstete sehr nach ihr, daß er zur Nacht sie entführte.
Morgens früh – kaum war mit der Schönen der Räuber entflohn –
Kehrt’ ich in Schwanbeck ein, und vernahm den Raub der Segilla.
Hurtig am Wasser entlang, wie die Spur im bethaueten Grase
Mir anrieth, verfolgt’ ich sogleich die fliehenden Beiden,
Froh im Herzen beschließend: „Erretten sollst du Segilla
Aus des Räubers Hand, und der Mutter und ihren Gebrüdern
Bringen, daß Wolda’s Vergehn sich wandl’ in herzliche Freundschaft,
Und dies mächtige Haus auch dir einstweilen nicht schade!“

Endlich erhascht ich den Räuber, am hohen Borne[8] gelagert,
Wie er mit schmeichelnden Worten des Fräuleins Kummer verscheuchte.
Sanft begann ich zuerst zu der thränengebadeten Jungfrau:
„Liebe! saget mir dreist: Komm’ ich Euch lieb als Erretter?
Oder willigt ihr frei in den Raub des Ritters von Nienburg,
Wie gar oft die Mädchen mit Worten die Liebe verleugnen,
Aber ein anderes denken in fein verschlossener Seele?“
Flehend erwiederte drauf die thränengebadete Jungfrau:
„Rettet mich, Held! und gebt mich wieder der glücklichen Heimath!“

[33]

„Nun versucht’ ich vorerst, mit Worten zu zwingen den Ritter,
Kennend Gedeßa’s Macht. Wer achtet nicht solche Gefreundschaft?
Laut und lauter jedoch ward unser Streit um Segilla.
Da vernahm Gedeßa, nah’ im Gehölze, des Zänkers
Weit ausrufende Stimm’, und eilete her an den Limbach.
Zwischen uns Beid’ hin stellte sie sich, und sprach für den Enkel,
Heimlich ergreifend zur Flucht das Fräulein. Aber da faßt’ ich
Zornig Segilla’s Hand, entriß sie der eilenden Göttin,
Und zerspaltete wüthend den Schädel des Lieblings. – Entfliehend
Lautes Schrei’s, ergrif sie den Enkel, und trug ins Gehölz ihn.
Aber, was halfen erlesene Kost? was heilige Kräuter,
Sparsam gesät auf geweihetes Land? – Sie mußte den Hügel

[34]

Ihm errichten! Und, sein Gedächtniß zu sichern, benannte
Sie durch: Jürgenholz, die großen Schatten des Grabes.“

II. Die zweite örtlich-bestimmende Veranlassung zu Volkssagen, ist die versuchte Erklärung von Naturbegebenheiten, örtlichen Auszeichnungen durch auffallende Steine, Hölen u. s. w. oder örtliche Ereignisse irgend einer Art. Beispiele zur Vergleichung bieten uns dar: Virgils Beschreibungen der Schmiedeessen des Vulkan und der Cyklopen in den Schlünden des Aetna, wodurch das Volk das mannichfache Geheul in der Tiefe des Berges sich erklärte, und von den Gefährten Diomeds, die in kläglich schreiende Vögel verwandelt, Italiens Küsten umschwärmten. Aehnliche Hindeutungen auf so entstandene Volkssagen bietet uns noch häufiger Homer. Hier ein Paar Beispiele.

a) Odyßee 8, 564 u. s. w.[9]

„Doch von meinem Vater Nausithoos hört’ ich vor dem wohl;
Wann er erzählt’, es zürne der Erderschüttrer Poseidon
Uns, dieweil wir jeden gefahrlos senden zur Heimat,
Einst auch würd’ er ein trefliches Schiff der fäakischen Männer,
Das von Entsendung kehrt’, im dunkelwogenden Meere
Schlagen, und hoch um die Stadt ein Felsengebirg’ uns umherziehn.“

(Aus Odyßee 13, 155. ff. ergiebt sich, daß, nach Homers Idee, Scheria, die Insel der Phaiaker, rings mit einem Felsenriff umgeben war, das nur gefahrvolle Durchfahrten für Schiffe öfnete, und, daß nicht weit von der Küste, dem staunenden Beobachter ein Schiffähnlicher Fels sich darstellte.)

b) Odyßee 12, 85.

„In der Kluft wohnt Skylla, das fürchterlich bellende Scheusal,
Deren Stimme so hell wie des neugebornen Hundes

[36]

Hertönt; aber sie selbst ein entsetzliches Graun, daß schwerlich
Einer sich freut sie zu sehn, wenn auch ein Gott ihr begegnete.“

(So deutete die Sage den furchtbar-pfeifenden Ton der sich brechenden Wogen an den Felsen von Squillace.)

c) Odyßee 13, 103.

„Eine liebliche Grotte voll Dämmerung, nahe dem Oehlbaum,
Ist den Nymfen geweiht, die man Najaden benennet.
Steinerne Krüge darin und zweigehenkelte Urnen
Stehn umher, wo Bienen ihr Honiggewirk sich bereiten.
Steinerne Webestühl’ auch dehnen sich drin, wo die Nymfen
Schöne Gewand’ aufziehn, meerpurpurne, Wunder dem Anblick.
Auch unversiegende Quellen durchrinnen sie.“

(Waren diese Sagen nicht etwa durch auffallend geformte Stalaktiten, dergleichen die Tropfsteinhölen darbieten, veranlaßt?)

d) Iliade 2, 305. ff. scheint auf einen auffallend-geformten Fels in Aulis zu deuten, der eine Verwandlungs-Sage veranlaßt hatte.

Anwendung werden diese Bemerkungen finden bei mehreren nachmals vorkommenden Sagen, z. B. vom Ilsenstein, vom Roßtrapp, von der Teufelsmauer, von der Teufelsmühle, vom Hühnenblut, vom Mägdesprung, vom Wolfsstein u. s. w. Noch mag hier eine kleine Sage vom Staufenberge stehen.

Bei Zorge, einem braunschweigischen Dorf auf dem Harz, liegt der Staufenberg, auf dem ehedem eine Burg stand. Jetzt besuchen ihn Neugierige größtentheils nur wegen einer Klippe, in der sich eine Vertiefung zeigt, die einem Menschenfuß gleicht. Zur Erklärung dieser Form erzählt das Volk: „Diese Fußstapfe druckte einst die Tochter eines der alten Burgherrn dem Fels ein, auf dem sie oft lange stand, da es ihr Lieblingsplätzchen war. Noch jetzt zeigt sich von Zeit zu Zeit das verzauberte Fräulein auf dieser Klippe, in ihren goldgelben geringelten Haaren.“

Als Beispiel solcher Sagen, die, auch in der neuern Periode, durch Zeitideen, bei dem Volk auffallenden[10] Ereignissen, veranlaßt wurden, entlehne ich, aus dem Beckerschen Taschenbuche von 1799, dem Inhalt nach, die Sage von dem Teufel in der Kirche, die eben der Landschaft angehört, welche die folgende Sammlung dargeboten hat, zumal da sich bei ihr die Geschichte des Entstehens der Sage, die man bei den meisten Sagen nur errathen kann, deutlich darstellt.

Im Anfang des achtzehnten Jahrhunderte verbreitete sich in mehreren braunschweigischen, magdeburgischen und halberstädtschen Dörfern und Städten, in der Gegend von Schöningen und am Elm, die Sage unter dem Volk: „Der Teufel habe in leibhafter Gestalt eine Diebesbande, die in die Kirche zu Neindorf, einem von Aßeburgischen Dorfe, eingebrochen hätte, verjagt. Die Diebe hätten ihm in der mondhellen Nacht deutlich gesehen. Er habe große feurige Augen, ein ganz rauhes Gesicht, und ungeheure Hörner auf dem Kopfe gehabt. Er sey ihnen in einem lichtbraunen Kleid, und einer feuerrothen Halsbinde, erschienen, und habe statt der Hand eine Klaue gehabt. Die Füße hätten sie nicht sehen können, weil der Teufel hinter dem Geländer des Chors vor der Orgel gestanden, und über dasselbe in die Kirche, wo die Diebe sich befunden hatten, herabgesehen habe. Uebrigens habe der Teufel einen gewaltigen Lärmen gemacht, bald gedroht, zu ihnen herabzukommen, bald geläutet, als ob zehn Klingebeutel in der Kirche herum getragen würden. Sie hätten seine Herabkunft nicht abwarten wollen, hätten alles stehn und liegen lassen, was sie von Kirchengeräthen schon zusammen gepackt gehabt hätten, und wären davon gelaufen. Vor Schrecken über die Erscheinung des Teufels, hätten die Diebe geschworen, nie wieder in eine Kirche einzubrechen.“

Diese Volkssage, welche, so wie sie sich weiter verbreitete, immer mehr ausgemahlt wurde, und wunderseltsame Vergrößerungen und Zusätze erhielt, gründete sich auf die wörtliche Aussage einer Diebesbande, welche, im Jahr 1711, in dem braunschweigischen Amt Jerrheim, in Inquisition gerathen war, und, unter mehreren Einbrüchen, auch die beabsichtigte Beraubung der Kirche zu Neindorf eingestanden hatte. Das Volk zweifelte um ja weniger an der Wahrheit der Sage, da die Diebe, einzeln befragt, und bei der Confrontation, immer dasselbe ausgesagt hatten. Auch war wirklich Wahrheit in der Aussage; nur hatte die Einmischung von Zetideen der ganzen Darstellung den romantischen Anstrich gegeben, der sie zur Volks-Legende eignete. Sie verlohr sich allmählig, da man die wahre Veranlassung ausgespürt hatte, so wie sich die Nachricht davon verbreitete und Glauben fand.

Die Veranlassung war folgende: „Der damalige Gutsbesitzer in N**, ein leidenschaftlicher Liebhaber der Jagd, hatte auf seinem Hofe, zu seinem Vergnügen, einen achtendigen Hirsch. Da dieser zahm und verschnitten war, so ging er, am Tage und in der Nacht, überall frei umher, auch in dem Dorfe, besuchte die einzelen Häuser, und Kinder und Greise machten sich eine Freude daraus, ihn zu füttern. Nur hatte man ihm, um seine Annäherung zu melden, ein rothes Halsband mit einer Schelle ungebunden. An die menschliche Gesellschaft gewöhnt, besuchte er alle die Orte, wo er Menschen witterte, und auch die Kirche, aus welcher man ihn mehreremale, selbst während des Gottesdienstes, wegbringen mußte. Dieser Hirsch nun war, in der Nacht, als die Diebe sich unten in der Kirche befanden, durch die offenstehende Thurmthür, die aus Nachläßigkeit unverschlossen geblieben war, auf den Platz der Orgel, und auf das Chor gekommen, hatte, da er Menschen hörte und sah, sich dicht an das Geländer vorgedrängt, mit dem Kopf und den Klauen mannichfache Versuche gemacht, sich ihnen zu nähern, und auf diese Art die Räuber verjagt.“


Die Quellen, die dem Sammler von Volkssagen sich darbieten, sind besonders:

I. Volks-Lieder. Diese Quelle ist für manche Gegenden und Zeiten reich. Sie bot Macpherson Stoff für seinen Oßian, dem Snorro Sturläson für die isländische Edda, und dem Saxo Grammatikus für seine Sammlung zum Behuf der ältern dänischen Geschichte dar. Für das nördliche Deutschland aber ist sie wenig ergiebig; sey es, daß der Norddeutsche weniger singt, als der Hochländer, Ire und Isländer, oder, daß die Zeit die ältern norddeutschen Volkslieder bis auf einige kleine Spuren vernichtet hat. Auch fehlen bei den meisten der wenigen alten Volkslieder, die sich noch erhalten haben, dem, der sie in historischer Rücksicht zu benutzen denkt, die Data, die zur völligen Darstellung gehören.

Was der Sammler dieser Volkssagen von hieher gehörenden Volksliedern am Harz entdecken konnte, schränkt sich größtentheils auf einige Wiegen- und Kinder-Lieder ein; z. B.

1)

„Hurrah! ho! Burra! der Wagen ist fort.
Die Pferde sind ertrunken,
Zwischen Stemmern und Bahrendorf,
In dem tiefen Sumpfe.
Hurrah! wie kreischet der Reutersknecht!
Hurrah! wie fluchet der Junker!“

Anmerk. Dieses ursprünglich plattdeutsche Liedchen hört man sehr häufig von Kinderwärterinnen, besonders in den magdeburgischen Dörfern zwischen der Elbe und Bode. – Stemmern und Bahrendorf sind zwei Dörfer unweit Egeln. – Der tiefe Sumpf ist aber längst, mit der Volkssage, worauf das Lied hindeutet, und die vielleicht der vom Grundlos (s. unten) ähnlich war, verschwunden[11].

[44] 2)

„Krupp under! krupp under! (d. h. kriech bei)
Die Welt ist dir gramm!“

Anmerk. Dies war, in der Mitte dieses Jahrhunderts, ein nicht ungewöhnliches Wiegenlied in Niedersachsen. Jetzt hört man es selten. Wahrscheinlich sollte es eine Art von halb spaßhaftem, halb ernstem Schreckwort für eigensinnige Kinder beim Einschlafen seyn. Aber, woher die sonderbare Zusammenstellung? Deutet es etwa auf die Gewohnheit in der rohen Vorwelt, die Reisende unter Nordamerika’s Wilden zuweilen bemerkten, alte Personen, die der Gesellschaft für lästig gehalten wurden, zu begraben? Aber, welche Nation zeigte Nord-Deutschland diese Beispiele der höchsten Barbarei?

3)

„Buko von Halberstadt
Bring doch meinem Kinde was.
Was soll ich ihm denn bringen?
Rothe Schuh mit Ringen,
Schöne Schuh mit Gold beschlagen.
Die soll unser Kindchen tragen.“

Anmerk. Auch dieses unter dem Volk, im Halberstädtschen, Magdeburgischen, Mansfeldischen u. s. w. noch jetzt gewöhnliche Wiegenlied, ist ursprünglich plattdeutsch; doch wird es nach den provinziellen Dialekten der Sängerinnen verschieden modificirt, und z. B. Buko, in Muko, Mukau, auch wohl in Motschekivichen verwandelt. – Es deutet auf den halberstädtischen Bischof Burkhard, oder Buko, im eilften Jahrhundert, der durch seine freundliche Behandlung der Kinder dazu Veranlassung gegeben haben muß, und enthält einen kleinen Beitrag zur Geschichte des Luxus des Mittelalters. – Räthselhafter ist die historische Veranlassung zu dem

4) Maykäfer-Liedchen, das man in Niedersachsen u. s. w. im May und Julius von den den Maykäfern Schaarenweise nachlaufenden Kindern aus den untern Volksklassen, alle Abende tausendmal wiederholt hören kann:

„Maykäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg.
Die Mutter ist im Pommerland.
Und Pommerland ist abgebrandt.“


II. Erhaltene Denkmahle der Vorzeit. – Dergleichen waren im alten Rom die Bas- oder Haupt-Reliefs, die Romulus und Remus saugend an einer Wölfin, oder, „die silberne Gans, welche des Kapitols goldne Hallen durchflog“[12], darstellten.

Aus dem Hartingau kann ich hier nur anführen den sogenannten Croppenstedter Vorrath. Dies ist ein großer silberner Pokal, der auf dem Rathhause zu Croppenstedt, als das Wahrzeichen dieses Städtchens verwahrt wird, gut gearbeitet ist, und, in erhabnen Figuren, dreizehn Wiegen und eine Wanne, worin Kinder liegen, zeigt. Folgende lateinische Inschrift auf demselben enthält den kurzen Inhalt der Volkssage, die in der dortigen Gegend sehr umständlich, bis auf die Bemerkung, daß der Vater der vierzehn an einem Tage gebornen Kinder, ein Kuhhirte war, erzählt wird.

„Matribus a bis sex, unoque videlicet anno
Bis septem pueros genitor genaverat unus.
Provide tunc matres curarunt tredecim cunas,
Dum non sufficiunt, unum posuerunt in vanno.“
     Haec sunt nostra penes nostrae
     venerabilis urbis.[13]


III. Chroniken-Schreiber. Auch sie verlassen den Sammler gewöhnlich da, wo er das Meiste erwartete; theils, weil sie nur selten die Volkssagen aufnahmen, die uns wichtig sind, sondern größtentheils aus ihnen nur Gespenstergeschichten, Hexereien und Berggeistermärchen aushoben, welche sie interessirten, theils weil sie öfters statt der Darstellung des Volks, ihre eignen Vorstellungen von der zu erklärenden Sache vorlegten, und auf diese Art oft gerade die kleinen Umstände und Züge übergingen, die uns zur Geschichte der Sitten, der Denkweise und der Zeitideen des Volks im Mittelalter brauchbar seyn könnten, ihnen aber unerklärbar oder lächerlich schienen. Auch bei solchen Ueberarbeitungen, als uns Saxo Grammatikus hinterlassen hat, müssen wir fürchten, daß der Geist der Sagen, unter dem Zwang der römischen Silbenmaße, wenigstens einem großen Theil nach, verflogen ist.

Doch, vielleicht sind andre Sammler, denen sich in dieser Rücksicht unbenutzte, oder ungedruckte Chroniken darbieten, glücklicher, aus dieser Quelle auch für Deutschland mehr zu schöpfen, als dem Erzähler dieser Volkssagen möglich war. Ihm blieb für die folgende Sammlung nur


IV. die mündliche Ueberlieferung des Volks. Daß es aber nicht ganz leicht ist, diese Quelle zu nutzen, wird sich aus dem Vorhergesagten ergeben, da das Volk, außer seinen vertrautern Kreisen, nur selten dergleichen Sagen zu erzählen wagt, und selbst in denselben immer seltner und seltner erzählt, indem durch Erziehung, Lage, und die lebhaftere Theilnahme an den jetzigen Verhältnissen, sein Ideenkreis und Ideenwechsel eine so große Veränderung erlitten hat.

Hier werden folgende Bemerkungen nicht unzweckmäßig seyn.

1) Die meisten Sagen, die sich in dem Munde des Volks im Hartingau erhalten haben, hört man auf den sanften Abhängen auf beiden Seiten des Harzgebirges, und werden immer seltner gehört, in dem ganz flachen Lande. Wie sich denn die Volkssagen in den Ebnen und den Heideländern in der Mark, im Lüneburgischen und in Westphalen immer mehr verliehren, bis sie im Mekelnburgischen, Pommern, Rügen u. s. w. wieder häufiger werden, und in den gebirgigten Theilen des Nordens, z. B. den schottischen Hochlanden, zu neuen Forschungen Stoff darbieten.

2) Diese Volkssagen sind der mündlichen Ueberlieferung mit möglichster Treue nacherzählt. Dieser Ausdruck bedarf vielleicht einiger Erläuterung.

Der Verfasser strebte, den Geist und die Darstellungsart der Sagen zu erhalten und getreu dem Leser zu überliefern. Aber, die Sprache, der Ton und die Erzählungsweise des Volks konnte er nicht ganz in ihrer Originalität darstellen. Denn theils mußte er in einem allgemein verständlichern Dialekt nacherzählen, und so mußte mancher bezeichnender Ausdruck mit einem andern vertauscht werden, theils mußte er bei der Darstellung auf den Kreis der Leserinnen und Leser, die er erwarten konnte, einige Rücksicht nehmen, da jene Darstellung, wie man sie in den vertrautern Cirkeln der untern Volksklassen hört, nicht selten in den gebildeteren Kreisen auffällt, und zuweilen das verfeinerte, sittliche Gefühl beleidigen dürfte[14]. Dies sey die eine Entschuldigung bei dem, der sich etwa erinnert, hier und da eine der Volkssagen in einer etwas andern Form gehört zu haben. Eine andre Entschuldigung gründet sich auf folgende Bemerkung.

Jeder Erzähler solcher Sagen aus dem Volke, noch mehr jede Erzählerin, der oder die mit Theilnahme erzählt, und mit Theilnahme gehört wird, bearbeitet den vorhandenen Stoff, bald mehr bald weniger, nach eigner Weise, und verändert ihn hier und da, nach dem Kreise der Zuhörer, oder nach individueller Laune und Stimmung, worauf Wohlbefinden und Gesellschaft, selbst das Wetter und die Luft, tausendfachen Einfluß haben. So daß, wenn wir hier diplomatische Genauigkeit in der Darstellung der Sagen nach ihrer ganzen Originalität verlangten, oft zehn und mehrere Erzählungen derselben Sage neben einander aufgestellt werden müßten, aus denen der Forscher, mit der angestrengtesten Kunst, und bei allen Regeln der Kritik, doch oft das ganz ächte Urbild nicht vollständig herausfinden würde. Der Grund davon liegt theils darin, weil jeder Denker in gewisser Rücksicht auch Dichter ist, seine Rede sey gebunden oder ungebunden, theils in dem Gange der Zeiten. Nur in der Kinderperiode der Geisteskultur werden Sagen ganz wörtlich wiederholt; in den spätern Zeiträumen finden zahllose Abänderungen statt. – Belege des Gesagten bieten die verschiedenen Darstellungen griechischer Mythen in verschiedenen Dichtern, und, in Absicht der Volkssagen am Harz, die doppelte unten vorkommende Sage vom Hühnen-Blut, dar.

Auch die gewöhnlich gehörte Erzählung wird den Nacherzähler nicht immer bestimmen. Sein Gefühl wird ihn oft lehren, die seltner gehörte Darstellung der gewöhnlichen vorzuziehen, wenn sich aus der Vergleichung ergiebt, daß diese durch eingeschobene Zeitideen und unpassende Zusätze entstellt ist. Zum Beweis diene hier die Vergleichung der unten erzählten Sage vom Mägdesprung mir der, die jetzt gewöhnlich das Volk erzählt, „welche das Hühnen-Mädchen in eine Prinzessin verwandelt, welche bei jenem Salto mortale ihre eigne Kutsche, in der sie vorher gesessen hatte, mit den Pferden in die Schürze nahm, und so von einem Berge nach dem andern herübersprang.“

Dazu kommt noch, theils daß der Sammler dieser Sagen nicht alle unmittelbar aus dem Munde des Volks hörte, sondern zum Theil sie durch mündliche und schriftliche Nacherzählungen seiner Freunde kennen lernte, theils daß die Ueberlieferung von manchen Sagen nur Bruchstücke erhalten hat, die ergänzt werden mußten.

3) Auf Vollständigkeit macht diese Sammlung keinen Anspruch; und es könnte also mancher hier Sagen vermissen, die sich ihm zunächst darstellen. Wäre es dem Sammler nur um ein bogenreiches Werk zu thun gewesen, so hätte er, theils in den schriftlichen Nachrichten, die ihm zugeschickt wurden, theils in manchen gedruckten Büchern, Stoff zu mehreren Alphabeten gefunden. Aber er hatte es sich zum Gesetz gemacht, von den immer seltner gehörten Volkssagen, nur die, welche sich durch den Dichter-Geist, der sie belebt, oder durch charakteristische Züge auszeichnen, aufzunehmen. Daher schloß er theils die allbekannten und schon oft nacherzählten Sagen, z. B. vom Tanz der Hexen auf der Spitze des Brocken in der Walpurgis-Nacht, theils die Spinnstuben-Märchen von Gespenstern, Kobolten, Hexen, Heckethalern, glühenden Drachen, Berg-Geistern u. s. w. aus, die so geistlos sind, daß sie das Nacherzählen nicht verdienen. – Doch entgingen ihm vielleicht, aller Forschungen ohnerachtet, noch einige der Sagen, die des Aufbehaltens nicht unwerth waren.


Ueber die Originalität mancher von diesen dem Volk nacherzählten Sagen, könnte vielleicht dem Leser, der sich ähnlicher Züge in den Sagen anderer Völker erinnert, einiger Zweifel entstehen. Sind diese Züge nicht, könnte er fragen, aus den Reminiscenzen griechischer und römischer Dichter, oder durch italiänische und französische Erzählungen, vor Jahrhunderten, in deutsche Schriften, und aus diesen in den Mund des Volks gekommen? – Man könnte z. B. bei der Sage von dem Räuber Daneel an eine Nachbildung von Virgils Schilderung des Räuber Cakus, bei der Sage vom wilden Jäger Hackelnberg an manche homerische Darstellungen vom Herakläs, denken, und bei den Verwandlungsgeschichten die Quelle in Ovids Metamorphosen, so wie bei einigen andern Erzählungen, in romanischen, provenzalischen, italiänischen und französischen Dichtungen suchen.

Vollständiger Beweis der Originalität jeder hier nacherzählten Sage, und ihrer einzelen Züge, dürfte allerdings schwer seyn. Aber, wahrscheinlich ist diese Vermuthung ausländischen Ursprungs nicht. Die Sagen sind schon zu lange in dem Munde des Volks, und es schon zu der Zeit gewesen, wo das Volk selbst noch nicht las, als höchstens ein Gebetbuch, und eben so wenig in vertrauter Verbindung mit Gelehrten stand, die ihm dergleichen fremde Sagen hätten mittheilen können. Auch sind alle hier aufgestellte Sagen zu genau an bestimmte Orte und Ereignisse geknüpft, und haben zu viel Eigenthümliches, als daß sich hier fremde Einmischungen, einige kleine Nebenzüge etwa abgerechnet, vermuthen ließen.

Die meisten Uebereinstimmungen jener nationellen Sagen erklären sich aus der Identität der Veranlassungen, und aus dem Einfluß der verschiedenen Kulturstuffen, die jedes nach dem Gang der Natur gebildete Volk durchgeht, auf den Kreis der Ideen und die Darstellungen derselben. Daher, daß wir gewisse Formen der Sagen bei ganz entfernten, durch Länder und Meere getrennten Völkern finden, bei den wir weder unmittelbare noch mittelbare Mittheilung denken können. So mußten sich z. B. Sagen, die auf Raub und despotische Unterdrückung hindeuteten, bei jedem Volk bilden, das die untern Entwickelungsstuffen durchgegangen war, und nun, aus einem glücklichern Zustand, in jene Zeit der Barbarei, von der noch immer Spuren sich ihm aufdrangen, zurückblickte. Schatzgräbergeschichten, die sich so leicht mit Geister-Sagen verschwistern, erzeugte der Wunsch sich ohne Anstrengung zu bereichern, bei orientalischen und occidentalischen Völkern, und der Glaube an gefundene oder aufzufindende Schätze belebt noch jetzt die Hofnungen der Beduinen in Arabien und Egypten, wie des Türken in Griechenland, und wie des Spaniers und Deutschen auf einer gewissen Kulturstuffe. Die dem Forscher in ihrer Verwandschaft anfangs auffallenden Verwandlungs-Sagen finden sich ebenfalls bei vielen, durch Sitten, Sprache und Klima von einander ganz isolirten Völkern, bei Griechen und Römern nicht nur, sondern auch bei den Indiern, den Mongolen, den Tataren, den Kamtschadalen, den Lappen und Grönländern; so daß wir hier mehr an Einwirkung einer bestimmten Kulturstuffe auf den menschlichen Geist, als auf Mittheilung und Uebertragung von einer Nation auf die andre denken müssen, zumal wenn die Vergleichung der Sagen lehrt, daß nationelle Stimmung und nationelle Zeitideen, bei aller anscheinenden Uebereinstimmung, doch Eigenthümlichkeit bewirkten.


Die folgenden Volkssagen machen keine Ansprüche, irgend wohlhergebrachte Rechte zu verkümmern; sie wollen weder griechische Mythologie aus ihrem bisherigen Wirkungskreise (obgleich der Denker oft, selbst in weiblichen Pensions- und Erziehungs-Anstalten, die Sagen von der Alkmene, der Jo, der Danae, vom Netz des Vulkans, das Mars und Venus umschlang, mit Kopfschütteln hört, oder dergleichen Abbildungen von Kindern angestaunt und belacht sieht), noch die isländische Edda, des sonderbaren Gemisches von heidnischen und biblischen Ideen ohnerachtet, und obgleich manche Forscher in ihr nur eine zusammen gerafte Dichtung müßiger Köpfe sehen[15], vom nordischen Himmel verdrängen.

Aber, bei aller Anspruchslosigkeit hoffen auch norddeutsche Sagen doch, hier und da, künftigen Dichtern Stoff zu Episoden darzubieten, wie Thor und Herakläs, und dem Griffel und Pinsel Ideen zu liefern, die, wenn das Lokale dabei sorgsam benutzt wird, mit jenem, welche die Walhalla und der Orkus und Tartarus darbieten, vielleicht wetteifern könnten. Auch dürften sie selbst, weder in Absicht ihres sittlichen noch dichterischen Gehalts, die Vergleichung nicht scheuen, weder mit den Sagen, worauf die nordische Mythologie sich gründet, noch selbst mit manchen griechischen und römischen Mythen.

In Absicht der Sittlichkeit berufe ich mich hier nur, für jedes unverstimmte Gefühl, auf die ewigen Zänkereien des obersten der Götter mit seiner Vermählten, an die Verwandlungen des Zeus in einen Stier, Schwan, goldnen Regen u. s. w. um schwache Weiblein zu berücken, an die schrecklichen Scenen in den Mythen von der Medea, vom Tyest, Pelops, Atreus, Orest; und in Absicht der Dichtung, auf den hundertaugigen Argus, den dreileibigen Geryon, den hundertarmigen Briareus, auf die Chimaira, vorn Löwe, hinten Drache, in der Mitte Ziege, und auf den Himmel-tragenden Atlas, wie er dem Herkules seine Last aufbürden will.

Um die Beurtheilung des ästhetischen[16] Werths zu erleichtern, mögen hier noch ein paar Stellen zur beliebigen Vergleichung stehen.

1) Aus der Edda[17].

„Die Söhne Börs erschlugen den Riesen Ymer; und aus seinen Wunden floß ein grosser Strom von Blut, der so hoch anschwoll, daß das ganze Geschlecht der Eisriesen darin ertrank. Nur einer, Namens Bergelmer, rettete sich mit seinem Weibe und seinem ganzen Hause auf einem Nachen. Von demselben stammt nun das ganze Geschlecht der Eisriesen ab. Die Söhne Börs aber zogen den Riesen Ymer in die Mitte des Abgrundes, und machten aus seinem Leichnam die Welt, aus seinem Blute das Meer und die Flüsse, aus seinem Fleische die Erde, aus seinen Knochen die Felsen, aus seinen Zähnen und Kinnstöcken, und aus den zerbrochnen Beinen die Steine und Klippen. Aus seinem Kopfe aber machten sie den Himmel, und setzten ihn oben über die Erde, mit seinen vier Enden, und postirten unter jedes Ende einen Zwergen; die hießen: Austre, Westre, Südre, Nordre. Darnach nahmen sie die aus Muspelheim (die Feuerwelt) herübergeflogene Lichter und Funken, und setzten sie oben und unten an den Himmel, damit sie die Erde und ihn erleuchten sollten. Sie wiesen auch allen diesen Feuerlichtern ihren Platz an; einige befestigten sie am Himmel, andern gaben sie einen freien Lauf unter dem Himmel.“

Die Bildung des ersten bösen Riesen Ymers erklärt folgende Sage: „Als sich die Flüsse Eliwagar so weit von ihrer Quelle entfernten, daß der darin erhaltene Gift verhärtete, entstand das Eis. Und da dies nicht mehr rann, so gefroren alle Giftdünste zu Reif, und es wuchs ein Reif über den andern, bis in die Kluft Sinungapap. – Diese Abgrundskluft war so leicht, wie die windstille Luft des Himmels, und da der heiße Wind, der aus Muspelheim herüberkam, daß er schmolz und troff, wurden die Tropfen, durch die Kraft dessen, der die Hitze gesendet hatte, lebendig, und daraus entstand der Körper des Mannes, den man Ymer nennt. Man achtete diesen Ymer keinesweges für einen Gott; denn er war böse, wie sein ganzes Geschlecht. Es erzählt aber die Sage, ihm sey im Schlafe unter seinem linken Arme ein Männchen und ein Weibchen herausgewachsen, auch habe sein einer Fuß mit dem andern einen Sohn gezeugt. Daher sollen die Hrymthußen (Eisriesen) entstanden seyn, deren Urvater Ymer ist.“

2) Aus der homerischen Hymne auf Hermäs[18].

[64]

„Ihn gebar der Morgen, am Mittag spielt er die Leier,
Und am Abend stahl er die Rinder Foebos Apollon.
Als er sich losgerißen hatte vom Leibe der Mutter,
Konnt’ ihn nicht halten die vierte Stund der heiligen Wiege.
Plötzlich sprang er empor, und suchte die Rinder Apollon. –
Maja Sohn, der Zielerreicher, der Mörder des Argos,
Sonderte von der Heerde funfzig brüllende Kühe,
Trieb die irrenden hin und her in dem sandigen Felde,
Ihrer Tritte Stapfen verwirrend; dann wandt’ er sie, schlauer
Ränke voll, daß die letzten die ersten wurden, die er sten
Füße die letzten. So trieb er die Heerd’, und auch selbst ging er rücklings.
– Er zog zwo der gehörnten Küh’ aus dem Stalle;
(Denn er hatte gewaltige Kraft) zur brennenden Höhle,
Beide warf er alsbald zu Boden, die Schnaubenden, wälzte

[65]

Auf den Rücken sie, beugte sich drüber, und durchstach sie. –
Solches that er bei Nacht, beim Schimmer des leuchtenden Mondes.
Gegen Morgen kehrt’ er zurück zu den heiligen Gipfeln
Von Külläne. Es kam auf dem langen Weg ihm entgegen
Keiner der seligen Götter, und keiner der sterblichen Menschen.
Keine Hunde bellten. Der Geber des Reichthums, Hermäs,
Duckte nieder, und schmiegte sich durch das Schloß in der Wohnung,
Einem Nebel ähnlich und einem herbstlichen Dunste.
Eilend verkroch er sich in die Wiege, der Ränkeerfinder,
Und umwand mit den Binden die Schultern; dann zog er die Füße
Spielend unter den Wiegendecken, hinauf zu den Händen,
Und in der Linken hielt er die lieblichtönende Leier.
So lag Hermäs, ähnlich dem neugebornen Kindlein. –

[66]

Foebos, als er die Winkel des prächtigen Hauses erforschet
Hatte, mit spähendem Auge, sprach er zum listigen Hermäs:
Kind in der Wiege, zeige mir an, wo hast du die Kühe? –
Hermäs erwiedert’ ihm schnell mit listigen Worten und sagte:
Daß ein neugebornes Kind vom Felde nach Hause
Habe Heerden getrieben, das sind nicht Reden des Klugen.
Gestern geboren! zart die Füß’ und steinig der Boden!
Einen schweren Eid, so du willst, bei dem Haupte des Vaters
Schwör’ ich, daß ich nicht, ich nicht sey Thäter des Diebstahls.
– Foebos Apollon hob den Knaben, und trug ihn.
Da bedachte sich bald der rüstige Argos-Besieger;
Hoch in den Händen Apollons gehoben, versendet er einen
Garstigen Boten, einen schlimmen Gesellen des Bauches.

[67]

Augenblicklich nießt er darauf. Apollo vernahm ihn,
Und warf auf die Erd’ aus seinen Händen den Knaben.
– Er band ihm die Hände mit bastenen, starken
Banden. Die sanken alsbald zu den Füßen hernieder,
Ob er sie gleich verflochten hatte mit künstlichen Schlingen.
Plötzlich waren gefesselt mit diesen Banden die Kühe,
Alle Kühe, durch Hermäs Gaukelkünste. Bewundernd
Sah’ es Foebos Apollon. Der listige Argosbesieger
Blickte, beschämt, der Schalk, mit blinzenden Augen zur Erde“ u. s. w.

Noch könnten, unter vielen andern, folgende Mythen im Homer zur Vergleichung dienen: Iliade 1, 587-94. B. 5, 384-402. B. 8, 10-27. Odyßee 8, 266-366. – Doch dürfen wir dabei nicht übersehen, daß, weder die eigenthümliche Darstellung des Dichters, noch die Nebenideen, welche ein so langes Studium

an die Mythen knüpfte, sondern nur die Grundzüge der Sagen selbst, Gegenstand der Vergleichungen seyn können.


Die Anordnung der folgenden Volkssagen konnte nach einer doppelten Ansicht geschehen. Entweder konnten sie nach den wahrscheinlichen Beziehungs-Perioden zusammen gestellt werden, oder, nach der Lage der Gegenden, denen sie angehören. Jene Anordnung würde ich, in historischer Rücksicht vorgezogen haben, wenn nicht die genaue chronologische Bestimmung mancher einzelen Sagen zu grossen Schwierigkeiten unterworfen wäre; ob sich gleich aus der Vergleichung ergiebt: daß einige von ihnen, z. B. die Hühnen- und Zwerg-Sagen, die von der Göttin Lora, von der Teufels-Mühle, der Teufels-Mauer u. s. w., in Absicht der Beziehungs-Periode, dem fünften[19] bis zwölften Jahrhundert angehören, die meisten dem Zeitraum der Fehden, des Faustrechts und der Räubereien, vom zwölften bis funfzehnten Jahrhundert, und nur wenige dem sechzehnten Jahrhundert. – Die jüngste der hier aufgenommenen Volks-Sagen: Ehrlich währt am längsten! unterscheidet sich, theils durch den mehr prosaischen Vortrag, der die spätern Bildungs-Perioden auszeichnet; und die Abnahme der glühenden Phantasie, welche in vielen ältern Volks-Sagen athmet, theils in Absicht des Inhalts, der auf umgeänderte Volks-Stimmung hindeutet. Hier ist kein Rückblick mehr auf gewaltsame Unterdrückung der untern Volks-Klassen, hier kein Burgverließ, keine schauder-erregende Raubhöle, hier kein Zauberer, kein verkörperter Halbgeist, hier weder Riese noch Zwerg. Die auftretenden Personen sind gewöhnliche Menschen, wie wir sie jetzt finden, einige Nüanzierungen abgerechnet. Die Annäherung der Stände ist schon überall bemerkbar. Das Volk kennt schon, aus längerer Erfahrung, eignen Lebensgenuß und häusliche Freuden; und das Kolorit ist merklich heller. – Aus dergleichen Sagen schließt der Denker mit Recht auf das Verschwinden der traurigen Ueberreste des Raub-Despotismus, auf Anerkennung des Menschenwerths, auf wachsende Kultur, und auf eine regelmäßige Landesverfassung. Aber er erklärt sich auch daraus das allmählige Verschwinden der Volks-Sagen in dieser Periode der Ruhe und der gleichmäßigen Ordnung.

Hätten alle hier vorgelegten Sagen eben so bestimmende Fingerzeige dargeboten, als diese; so würde der Sammler die chronologische Anordnung gewählt haben. – Aber, da so oft sich nichts als Hypothesen darstellten, so wählte er lieber die gewissere geographische Anordnung, welche dem, dem solche Darstellungen ansprechen, gleichfalls einen interessanten Ueberblick darbietet.


  1. Außer den in der Einleitung verwebten Sagen, z. B. vom Lügenstein, vom Jürgenholze, von Dannstedt, vom Croppenstedter Vorrath, vom Teufel in der Kirche u. s. w.
  2. Den Einfluß des Klima und des Bodens eines Landes auf den Charakter seiner Bewohner und der Aeusserungen desselben, anschaulicher zu machen, mag hier eine Stelle aus „Georg Vancouders Entdeckungs-Reise in der Südsee, von 1790-95.“ stehen. – Zu Woahu (einer der Sandwichs Inseln) muß der arme Insulaner, sowohl beim Pflanzen, als Gäten und Einsammeln, beinah beständig bis an den Gürtel in Sumpf und Koth stecken, und die brennenden Strahlen einer scheitelrechten Sonne ertragen. In Otaheite’s Ebnen hingegen, bringt der Boden freiwillig, ohne Arbeit und Mühe der glücklichen Bewohner, den größten Ueberfluß eßbarer Früchte und Wurzeln hervor, indeß ganze Wälder von hohen, schattenreichen Brodfruchtbäumen, Palmen und Aepfelbäumen, diesen beglückten Insulanern die lieblichste Kühlung gewähren; ein Genuß, der den Bewohnern der Sandwichs-Inseln beinah gänzlich unbekannt ist. Eben dieser Unterschied, welcher den Boden bezeichnete, schien auch den Charakter [13] der Einwohner auszudrücken. „Bei unserer Landung auf Otaheite strahlte uns Freundschaft und Freude aus jedem Gesicht entgegen. Jedermann strebte, unsern Wünschen und Bedürfnissen mit der freundlichsten Sorgfalt zuvor zu kommen; man nöthigte uns in jedes Haus, um Erfrischungen einzunehmen, und überall herrschte eine Gastfreiheit, die man jetzt vergebens unter den gebildetesten Völkern suchen würde. Zu Woahu hingegen wurden wir mit finstrer Kälte betrachtet. Unsre Bedürfnisse erregten nichts als Gleichgültigkeit, man bot uns keine Erfrischungen an, und niemand nöthigte uns in seine Hütte. Ihre fremde Höflichkeit schien bloß von dem Verlangen herzurühren, das gute Vernehmen mit Freunden zu unterhalten, von denen viel zu gewinnen war, und welchen man auf andre Art nicht beikommen konnte.“ – Die Anwendung auf die Verschiedenheit der Darstellungsart und der Erzählungen dieser durch ihre verschiedene Lage so verschieden gestimmten Völkerschaften, ist leicht.
  3. Als Beweis diene hier das, was Penelopeia zum Odüßeus sagt, der als Fremdling zu seinem Hause kommt: „Sage mir dein Geschlecht und deine Abkunft. Denn du stammst doch nicht von den Klippen und Eichen in der vielgefabelten Sage.“ (S. Odüßee 19, 163. und Hesiods Theogenie) – Berufungen auf alte Sagen, s. z. B. Iliade 2, 783. Aeneide 7, 680.
  4. Man vergleiche die unten vorkommenden Sagen von der Quästenburg und dem Thomaspfennig.
  5. Nach Voß Uebersetzung, 1799.
  6. Der Sprachforscher wird hier an folgende verwandte Idiotismen denken: die Leggen, d. h. Schauplätze für den Leinwandhandel in Westphalen u. s. w. lugen, d. h. sehen, belugen, d. h. betrachten, Luke, d. h. eine Oefnung im Dach, durch welche man hinaussehen kann und Licht hineinfällt, Lucht statt Licht u. s. w.
  7. Aus dem noch ungedruckten Heldengedicht: Heinrich der Löwe, von Kunze. Heinrich redet.
  8. Der hohe Born ist eine einsame Gegend bei Schwanbeck, westwärts zwischen dem Städtchen und dem Jürgenholze, wo der Limbach, wie ein kleiner Strom, unter einem Stein, aus dem Berge herausfließt.
  9. Nach Voß Uebersetzung. (1793.)
  10. lies auffallenden [statt auf allen den]. (Verbesserung)
  11. Und doch hatte vielleicht die weltberühmte Sage vom Lacus Curtius, auf dem Forum Roms, welche Dichter [44] und Geschichtschreiber nach Jahrtausenden noch immer nacherzählen, in ihrem Entstehen, keinen größern historischen und dichterischen Werth, als die Sage vom Sumpf bei Stemmern!
  12. S. Aen. 8, 630 ff. 655 ff.
  13. „Von zwölf Geliebten erzeugte in einem einzigen Jahre
    Ein Vater, so will es die Sage, der Knaben zweimal sieben.
    Vorsichtig besorgten voraus dreizehn Wiegen die Mütter.
    Reichten sie? Nein! man grif, beim letzten Knäbchen, zur Mulde.“
         S. Bratring Magazin für Land- und Geschichts-Kunde. 1stes H. 1798.
  14. Als Beispiel nenne ich hier die Sagen vom Croppenstedter Vorrath, und die: Ehrlich währt am längsten!
  15. S. Adelungs Abhandlungen über die Edda, in den Erholungen.
  16. lies ästhetischen [statt dichterischen]. (Verbesserung)
  17. S. Gräters Bragur. B. 1.
  18. Nach der Uebersetzung von Christian Gr. von Stollberg.
  19. lies dem fünften [statt dem achten]. (Verbesserung)