Wiederkehr

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Textdaten
Autor: Alexander Solomonica
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Titel: Wiederkehr
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aus: Die Fackel Nr. 333, S. 14–21
Herausgeber: Karl Kraus
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Erscheinungsdatum: 14. Oktober 1911
Verlag: Die Fackel
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Erscheinungsort: Wien
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Wiederkehr
Von Alexander Solomonica

I

Ein Mädchen, das mir nahe stand, lag krank zu Bette. Es teilte mir zugleich mit der Krankheit den Entschluß mit, mich vorderhand nicht zu sehen, und so fühlte ich mich doppelt einsam, denn ich war mit ihren äußeren Verhältnissen wenig vertraut und darauf angewiesen, in ihrer Nähe zu weilen. Gleich darauf schrieb sie noch einmal, in milderem Tone, und bat mich, fernzubleiben, weil ihr Ruhe nötig sei. Dies erkannte ich als Ausflucht, wußte sie aber nicht zu deuten. Ich wartete ab, schickte mich an, jener Anweisung zu gehorchen und ließ nichts von mir hören; doch auch sie war jetzt verstummt. Ich fragte, ob ich kommen dürfe, sie aber schwieg, mit dem Starrsinn, der Kranken eigen ist. Einen Grund für ihr Benehmen konnte ich nicht ausfindig machen. Wir hatten uns in gutem Einverständnisse getrennt, einander nie durch Launenhaftigkeit gequält. Vielleicht aber hatte das Unwohlsein sie der Verantwortung enthoben und nichts als ein krankhafter Wille ihr jenen Brief diktiert. Beunruhigt, erbittert streifte ich umher, und sah Mienen, die Böses verkündeten. Was mich davon abhielt, hinzugehen und sie Aug’ in Aug’ zu fragen, das weiß ich nicht mehr. Gewiß fürchtete ich auch, daß mein Besuch ihr schaden würde, denn ich mußte es von dritten, fast unbeteiligten Personen vernehmen, daß ihr Zustand sich verschlimmere. Zudem ermattete ich bald, da sich meine Gedanken ausschließlich mit einem Gegenstande beschäftigten. Ich wurde verbittert, verzieh weder ihr, daß sie mir mißtraute, noch mir, weil ich nicht stark genug war, einen Dämmerzustand zwischen Furcht und Hoffnung zu durchbrechen. Sie allein besaß die Macht, mich in dieser Unentschlossenheit verharren zu lassen! Mein Unmut machte bald einem traurigen Übermute Platz, und selbst der Lust des Vergessens vermochte ich nicht zu widerstehen. Ich hatte sie seit vier Tagen nicht gesehen, und schon war ihr Bild in mir etwas verblaßt. Jetzt dachte ich an Freiheit, ohne daß ich bisher diese Verbindung als Fessel empfunden hätte. Aber nun erwachte so stark, als gelte er der Selbsterhaltung, mein Trieb, ihr die Treue zu brechen, und ich bekämpfte ihn nicht. Trotz alledem blieb sie die ganze Zeit hindurch mit mir verbunden, [15] sie übte sogar größeren Einfluß auf mich aus, als zuvor, manifestierte sich in allen meinen Handlungen.

Die Nachricht von ihrem Tode überraschte mich nicht mehr. Auch daß ihr Begräbnis schon vollzogen war, versetzte mich nicht in Bestürzung. Es zeigte sich, daß ich an ihr Leben nicht mehr geglaubt, und nichts als die Verzweiflung meinen Verstand verwirrt hatte. So hatte ich, während sie noch lebte, und nur kurze Zeit um sie getrauert. Die Gewißheit der Nachricht führte mich zu mir selbst zurück. Jetzt machte ich mir über jene letzte Weigerung, mich zu sehen, keine Gedanken, denn sie schien gleich meiner Untreue nur ein Vorbote der endgiltigen Trennung gewesen zu sein. Ich war in ihre Verhältnisse nicht eingeweiht und kannte mit Sicherheit nicht einmal den Namen ihrer Familie. Nun wußte ich nichts von den näheren Umständen ihres Todes, und es gelang mir trotz einiger Bemühungen auch nicht, sie zu erfahren. Nach Ablauf einer gewissen Frist gewann die Ruhe langsam in mir die Oberhand; von den Mädchen aber, zu denen mich damals die Verzweiflung getrieben hatte, trennte ich mich wieder. Jetzt suchte man mich zu trösten, der ich keiner Hilfe mehr bedurfte. Ich erkannte meinen Willen, alten Gewohnheiten zu entsagen, aber sie durch neue zu ersetzen. Dabei ließ ich mich weder ablenken, noch übertäubte ich meinen Schmerz, aber er selbst erlahmte, wie die Zeit verging. Ich suchte sie nicht etwa zu vergessen, sondern bemühte mich, wenigstens ihren Schatten festzuhalten, denn die Unwirklichkeit nahm von ihr Besitz. Allmählich schien die Kraft, die ich einst empfangen hatte, erloschen, die Lust gleichgiltig zu sein. Meine Erinnerungen waren nicht durch zeitliche Entfernung getrübt; gleichwohl ergaben auch sie ein schwaches, ja falsches Abbild unserer Beziehungen. So sehr ich einen Verlust beklagte, suchte ich mich doch umsonst auf das Verlorene zu besinnen. Darum waren mir auch ihre Züge entfallen, denn nur ein lebendes Gesicht scheint die Kraft des Eindruckes zu besitzen. Trotzdem war sie aus meinem Gesichtskreise nicht ausgeschieden, sondern blieb immer sichtbar, selbst wenn ich andere Dinge ins Auge faßte; auch Äußerlichkeiten erinnerten sehr oft an das Vergangene. Ich wurde sogar durch ihren unmittelbaren Einfluß noch gefördert, obgleich ihre Zeit um war, aber nur, wenn der normale Verlauf der Zeit gestört wurde, ein Traum sie unterbrach.

Nach einigen Monaten aber stellte es sich heraus, daß sie [16] lebte und selbst die Mystifikation veranlaßt hatte. Hingegen sollte es mit ihrer Gesundheit nicht zum Besten stehen. Man riet auf ein Experiment, einen bösartigen Scherz, das aber war gefehlt. Eine Wirkung auf andere lag keinesfalls in ihrer Absicht. Sie vertraute sich der Vergessenheit an; also trug sie sich mit Selbstmordgedanken, denn die Befreiung besteht darin, daß unser Andenken bei den Feinden und selbst bei Freunden erlischt. Da sie die Nachricht verbreiten ließ, sie wäre gestorben, vergriff sie sich nur in der Wahl des Mittels. Dennoch wurde nicht nur ich hinters Licht geführt. Es handelte sich auch nicht um einen unüberlegten Schritt, vielmehr um einen Plan, der mit strategischer Freude gegen jede einzelne Schwierigkeit operierte. Sie täuschte alle ihre näheren Bekannten, von jenen abgesehen, die sie ins Vertrauen zog. Diese wenigen standen ihr nicht besonders nahe, waren aber zur Ausführung ihres Planes unentbehrlich. Damals, als sie mir schrieb, fehlte ihr nichts, sie gab sich jedoch für krank aus, da sie denken mochte, man würde umso weniger Verdacht schöpfen. Später überschätzte sie ihre Kraft, erkrankte wirklich und erholte sich nur schwer, denn die Gefahr der Entdeckung war während der ganzen Zeit sehr groß. Die Verläßlichkeit ihrer Helfer war gering und konnte nicht vorher erprobt werden; sie ließ aber kein Mittel unversucht, um sich ihrer zu versichern. Sie konnte kein Bedenken tragen, die Treue gegen mich zu verletzen, da sie mir sogar die Gunst, um ihre Existenz zu wissen, versagt hatte. Gewiß war damals ihre Neigung zu mir völlig erloschen. Daß sie schließlich verraten wurde, lag nicht an ihr, aber sie hatte nicht bedacht, daß niemand, der eingeweiht war, zu schweigen vermochte; denn er hatte keinen Grund, sie zu vergessen. Dies war der schwache Punkt, sonst hatte sie geschickt jedes Hindernis besiegt. Sie wechselte mehrmals unauffällig ihre Wohnung und sogar den Aufenthaltsort und überließ es den Freunden, ihre Spur mit Sicherheit zu verwischen. Man hielt sie allgemein für bedenklich krank, so daß die Todesnachricht in der Tat nicht überraschte. Ihre Berechnung, daß man sich in diesem Falle um nähere Umstände nicht kümmern werde, irrte nicht. Denn sie war schon vorher beinahe in Vergessenheit geraten! Ihr Plan ging dahin, unter fremdem Namen in einer fernen Stadt zu leben. Die Behörden machten ihr keine Schwierigkeiten, sie wäre in dieser Hinsicht für alle Zukunft sicher gewesen; ihre Beziehungen hätten es ihr ermöglicht.

[17]
II

Nachdem ihr Plan gescheitert war, kehrte sie zurück; bereit, selbst den Stimmen der Wißbegierde Trotz zu bieten, um den Preis, daß ihr gewohnter Anblick sie rascher zum Schweigen bringe. Mich beschäftigte indessen die Frage, wie sie sich selbst zu der früheren Umgebung verhalten würde. Ich fürchtete schädigende Einflüsse, da sie sich leichtfertig in Gefahr zu begeben pflegte. Vor allem mußte ein Zusammentreffen mit jenen, die ihr erst geholfen und sie dann im Stiche gelassen hatten, entmutigend wirken. Als ich sie zum ersten Male sah, erzählte sie mir die Einzelheiten ihrer Verbannung, dabei gab sie sich selber preis und sprach von einer vorübergehenden Depression. Später beobachtete ich sie mit Aufmerksamkeit; aber ich entdeckte nichts, was sie Lügen gestraft hätte. So in die Vergangenheit gerückt, erschien ihre Flucht nur als das Symptom einer zufälligen Krankheit. Dementsprechend benahm sie sich gleich einer Rekonvaleszentin, und wie sie die wiederkehrende Gesundheit spürte, war sie für Eindrücke empfänglicher, für Ratschläge dankbarer als sonst. Zu mir verhielt sie sich, als wäre in der Zwischenzeit nichts vorgefallen; da ich darauf nicht eingehen konnte, war sie befremdet, doch wir beide hüteten uns, ernsthaft die Rede darauf zu bringen.

Jetzt erst erhielt ich nähere Angaben über ihre Familie und sonstigen Verhältnisse. Von ihren Beziehungen hatte ich mir nichts träumen lassen; und sie verstand es, verschiedene Einflüsse gegeneinander auszuspielen. Da ich in alles eingeweiht wurde, verlor sie viel von ihrer Unabhängigkeit, es schien jedoch, als wollte sie sich freiwillig ihrer Macht begeben. Jedenfalls empfing ich selbst über Nebensächliches Aufschluß, ohne daß ich je gefragt hätte, aber wichtigere Gespräche kamen nicht in Fluß. Obschon wir, wie vorher, aufeinander angewiesen und täglich zusammen waren, stellte sich doch jener Wechsel von Spannungen nicht ein, der Frage und Antwort bedeutet und ein Beisammensein erst erträglich macht. Kaum, daß ich ihre gewöhnlichen Gedanken erriet, obgleich ich bemüht war, mich mit ihr in alter Weise zu verständigen. Wir lebten gleichsam in dünner Luft, die nicht mehr zu leiten vermochte, und mir zum wenigsten wurde das Atmen schwer. Früher hatte es zwischen uns bisweilen einen unausgesprochenen Zwist gegeben, der so ausgetragen wurde, daß wir einander scharf im Auge behielten; diesmal war ich es allein, der sich nicht gehen [18] ließ. Es kam zu einer Art Waffenstillstand, der jedoch nicht, wie gewöhnlich, auf Grund gegenseitiger Vereinbarung geschlossen wurde. Ich war freilich außerstande, eine Waffe zu erheben, sie aber war von vornherein zur Nachgiebigkeit geneigt, so daß eine Störung des Gleichgewichtes eintrat. Doch nichts verwirrte mich mehr, als daß die gegenseitige Spannung aufgehoben war, und selbst ihr friedliches Wesen mich weder reizte noch entwaffnete. Als es ihr nicht gelang, mich durch Freundlichkeit umzustimmen, geriet sie gleich mir in Verwirrung; aber sie drehte den Spieß nicht um. (Ich schien mich ihr zu versagen, während sie mir in Wahrheit unerreichbar blieb.) Da sie noch leidend war und keine Besuche empfing, gab sie zum Gerede allen Anlaß. Dies fiel ihr zur Last, doch nicht darum, weil ihre Einsamkeit noch nachträglich gestört wurde, vielmehr wollte sie an jene flüchtige Verirrung nicht erinnert sein.

III

Da meine ganze Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war, dachte ich nicht an mich, weil aber auch sie an mich nicht dachte, wurde ich an mein Schicksal erinnert. Ich erkannte sogleich, daß ich meine Angelegenheit zu der ihrigen gemacht hatte, denn hier ging es um niemanden als um mich, während sie sich längst außer Gefahr befand. Ohne Zweifel war ihr der Gedanke, daß eine vergangene und beschlossene Tat selbstherrlich fortwirken könne, fremd. Mir aber schien er fast ein Vorwand zu sein, da er meine eigene Zurückgezogenheit nur ungenügend erklärte. Ich trug ihr keinen Groll nach, weil sie mich zeitweilig vergessen und mir die Treue gebrochen hatte. Auch bemühte ich mich, ihr zu verzeihen, daß ich gezwungen worden war, ihr ein Gleiches zu tun. Ich hatte die Gesetze des Zufalls verspürt und mir ihre Logik nicht entgehen lassen. Dies alles überlegte ich nicht mit klarem Geiste. Ohne noch zur Besinnung gekommen zu sein, forderte ich über mein Verhalten Rechenschaft, in der Hoffnung, es würde sich als ungerechtfertigt erweisen. Dabei hatte ich so sehr die Übersicht verloren, daß ich jene Verstimmung für die Folge meines gestörten Denkens ansah, während es sich gerade umgekehrt verhielt. Daher glaubte ich nur den Fehler in der Rechnung aufdecken zu müssen. Auch zwang ich mich zur Selbstbeherrschung, da sie, die alles überwunden hatte, mich durch ihre Ruhe beschämte. Dadurch kam allerdings mein Irrtum zutage, [19] denn der Schatten, der uns trennte, wollte auch dem scharfen Blick nicht weichen, aber ich gelangte zur Feststellung des Sachverhaltes. Ich hielt der Verwirrung so lange stand, daß ich wenigstens ihren Ursprung unzweideutig erkannte. Es handelte sich nicht um einen Denkfehler oder eine Überreizung meiner Nerven. Ich hatte mir Besinnung zur Pflicht gemacht, gleichwohl konnte ich mich über die Mystifikation nicht hinwegsetzen. Aller Wachsamkeit zum Trotz entdeckte ich keinen Grund der Kleinlichkeit, der etwa als Stachel in mir zurückgeblieben wäre. Vielmehr verblaßten alle untergeordneten Bedenken vor der einfachen Mechanik der Geschehnisse. Ich zwang mich, sie klar ins Auge zu fassen, vermochte es aber nicht, sie zu ertragen. Jetzt hatte ich mich in der Gewalt, und doch drohte die Unsicherheit mich wieder zu umfangen. Daher konnte an der Wahrhaftigkeit dessen, was mich bewegte, nicht gezweifelt werden.

Es zeigte sich mir also kein Ausweg. Immer, wenn ich den Feind besiegt zu haben meinte, hatte ich nichts anders getan, als mich schutzloser in seine Hand gegeben. Doch nun flüchte ich willig in jenen Halbschlaf, der es mir ermöglicht, die Wirklichkeit für einen Traum zu halten. Nun kann ich nichts deutlich unterscheiden, Gründe und Gegengründe sind vergessen, und nur das Verlangen nach ihr bleibt bestehen; und so unternehme ich es auf eigene Faust, mich ihr wieder zu nähern.

Indessen kann sie ihrer alten Lust, Ränke zu spinnen, nicht entsagen und ist in einer eifrigen Korrespondenz begriffen, die mir verschlossen bleibt. Wieder also beginnt sie sich mir in äußerlicher Hinsicht zu entfremden. Doch früher hatte ich sie ja nur losgelöst von allen zufälligen Verkettungen gekannt. Der alte Zustand scheint wieder hergestellt zu sein, ich will mich aber nicht zufrieden geben. In aufrührerischer Gesinnung bitte ich sie, mir alles zu sagen, mache ihr eine Eifersuchtsszene, das heißt, ich spiele den Eifersüchtigen, doch ohne Erfolg, weil sie mich durchschaut. Nun hat sich meiner ein Gedanke bemächtigt: ich will sie heiraten. Wie ich ihr dies im Scherze vorschlage, bleibt sie ernst, ihre Miene drückt sogar frohe Erwartung aus. Dann fordert sie Bedenkzeit. Ich verlasse sie, ein unbezwingliches Verlangen nach Ruhe und Klarheit erfaßt mich. Die Zeit, da sie nicht mehr lebte, ist mir gegenwärtig, und während sich mir ihre Züge verwischen, denke ich ermattend an Arbeiten, die ich unterbrochen, [20] an Pläne, die ich entworfen hatte. Darauf fügt es der Zufall, daß ich ich sie drei Tage lang nicht sehe, schließlich mache ich meinen Besuch und werde mit allen Zeichen von Ungeduld empfangen. Sie ist sehr blaß, aber wir lachen einander zu. Nun komme ich mir gesund und fröhlich vor und bin geneigt, sie für schwächlich und empfindsam anzusehen. Ich ertappe mich dabei, daß mir ihr Gang, ihr Haar nicht mehr so gut wie früher gefallen. Das ist wohl nur ein vorübergehender Irrtum, denn mir scheint für Augenblicke sogar das Vertraute fremd zu sein, da ich allzusehr auf ihre Bewegungen achte. Jetzt kommt sie wieder unter Leute, denn ihre Gesundheit ist zurückgekehrt. Die Bekannten scheinen ihr nicht mehr verlassenswert zu sein, sie wird jedoch auch nicht durch Fragen oder Bemerkungen gequält. Offenbar haben beide Teile die Episode der Trennung vergessen, mich aber läßt das Gedächtnis nicht im Stich. Alles hatte sich wirklich zugetragen, denn ich glaubte daran; mithin mußte die Erinnerung an sie verblassen. Nun mißtraue ich dem Spiel des Zufalls, das mich nur einmal hat betrügen können. Ich beschließe, mit anderen, denen es ähnlich ergehen muß, Rücksprache zu nehmen. Man beachtet indessen meine Fragen nicht, vielleicht darum, weil sie zu vorsichtig gestellt werden. Einmal spreche ich mich sogar offen darüber aus, finde aber kein Verständnis. Doch gewiß hat auch jene wenigstens eine Ahnung gestreift: beim ersten Auftauchen der Nachricht, nur eine Sekunde lang, im Dämmern des Zweifels. Dann allerdings behielt wieder die Lebende recht, und es fiel nicht schwer, der Gewißheit die frühere Überzeugung preiszugeben. Die alte Vorstellung konnte der neuen nicht standhalten und wurde rasch zerstört, man vergaß, daß man einst besser unterrichtet gewesen war.

Ihr Geburtstag wird in der üblichen Weise gefeiert. Wir sind einen langen Tag beisammen, ungestört, und verbringen ihn außerhalb der Stadt. Wir gehen spazieren; meine Begleiterin läßt ihr Buch fallen, hebt es jedoch wieder auf, ehe ich mich noch bücken kann. Da treffen sich unsere Blicke, während sie sich wieder emporrichtet. Sie sieht mir gelassen ins Gesicht, ohne eine Spur von Verstimmung oder Freude, ohne eine Frage an mich zu stellen, so, als gelte ihr Blick nicht mir. Jetzt erkenne ich jede Einzelheit dieser Gestalt, ich sehe, daß ihre Glieder schlank und kräftig ineinandergefügt sind, und der Atem sie einheitlich hebt und senkt. Aber [21] da ich noch von dieser Deutlichkeit beglückt bin, werde ich mir ihrer in Feindschaft bewußt und weiß, daß der Zwiespalt, der uns trennt, nicht überbrückt werden kann. Aber nun sind meine Schritte unsicher, als würde mir der Boden unter den Füßen fortgezogen. Bedeutet das meinen Untergang? Nein, meine Freiheit wächst, doch ich treibe dahin, wie jemand, der von der Brücke in den Fluß späht. Jetzt gilt es, die Augen mit der Hand zu bedecken. Ich richte alle Gedanken auf mich selbst, um Halt zu gewinnen. Nun denke ich an die Vergangenheit, die mir nutzlos geworden ist, und sehe, daß nur Not und Qual zurückbleibt. Aber nichts verwehrt es mir, selbst an der Quelle der Verwirrung meinen Durst zu stillen.