Zusammengesetzte Portraits

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Autor: Carus Sterne
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Titel: Zusammengesetzte Portraits
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 874-876
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Zusammengesetzte Portraits.
Das Compagnie-Portrait im Stereoskop. – Der Wettstreit der Sehfelder und seine Wirkungen. – Das Compagnie-Portrait als Prophet. – Die Mischung in größerem Maßstabe. – Fixirung auf photographischem Wege. – Gewinnung von Typen; Verbrechertypus; Rasse- und Familientypen. – Durchschnittsportaits: von Lebenden; von verstorbenen Berühmtheiten. – Idealportraits. – Versuche zur Gewinnung körperlich wirkender Portraits und die Lehmann’schen Raumbilder.

In jedem Familien-Album wird man Brustbilder finden, die in nahezu derselben Größe und Wendung des Antlitzes photographirt worden sind. Mit solchen Portraits lassen sich Experimente anstellen, die ebenso anziehend wie lehrreich sind und sehr werthvolle Perspectiven eröffnen. Wohl die meisten meiner Leser werden sich eines Jugendspielzeugs erinnern, welches aus Köpfen, Bruststücken und Unterkörpern menschlicher Figuren bestand, die auf verschiedene Kärtchen gemalt waren und durch deren beliebige Zusammensetzung man sehr drollige Wirkungen erzielte. Eine bei Weitem merkwürdigere Mischung kann man sich vollziehen sehen, wenn man zwei in den oben angedeuteten Richtungen übereinstimmende Visitenkarten-Portraits in ein Stereoskop bringt: sie verschmelzen, mögen sie einander noch so unähnlich sein, zu einem Mischbilde, welches zwar mit jedem der beiden Theilhaber der Firma Aehnlichkeit zeigt, aber doch keinem allein gleicht, vielmehr eine völlig eigenartige, lebendige Individualität darstellt. Die freundlichen Augen des Einen blicken uns aus den ernsten Zügen des Andern entgegen, aus der gebogenen spitzen und der aufgerichteten stumpfen Nase ist eine ganz annehmbare Mittelnase hervorgegangen; die vorhandenen Härten und Unschönheiten haben sich, so weit sie nicht von der nämlichen Art waren, gegenseitig ausgeglichen; das Compagnie-Portrait hat einen eigenthümlichen Reiz, ja eine Art von Mienenspiel erhalten. Es giebt keine zwei Gesichter in der Welt, die sich nicht in dieser Weise mit einander kreuzen ließen: Männer und Frauen, Kinder und Greise, Kaukasier und Neger – sobald nur die Aufnahmebedingungen dieselben waren.

So ergötzlich dieses Spiel ist, namentlich wenn wir unser eigenes Conterfei betheiligen und uns mit unseren Bekannten in Wechselwirkung setzen: es hat seine ernste Seite, es ist mehr als ein Spiel. Zunächst lehrt es uns noch viel eindringlicher, als das Stereoskop an sich, daß das Sehen ein geistiger Vorgang ist und nicht im Auge selbst stattfindet, denn nicht ein rohes Uebereinanderlegen, sondern nur ein geistiges Verschmelzen kann so vollkommene Mischungen hervorbringen wie wir sie bei geeigneten Vorlagen erhalten. Zwar gelingt auch, wie wir bald sehen werden, ein rein mechanisches Verschmelzen der einzelnen Züge, aber den damit gewonnenen Portraits fehlt das Leben, welches die direct aufgenommenen Mischbilder auszeichnet. Wenn wir nämlich ein solches Mischbild länger betrachten, so bemerken wir, daß die Aehnlichkeit bald mehr nach der einen, bald mehr nach der anderen Seite hinüberneigt, das Gesammtportrait bald froher und kühner, bald ernster oder niedergeschlagener dreinschaut, bald etwas jünger, bald etwas älter erscheint. Es ist das eine Folge des sogenannten „Wettstreits der Sehfelder“, indem bald das eine, bald das andere Auge vorübergehend ermüdet und die Empfindung des andern dann ebenso lange das Uebergewicht erhält. Sehr anziehend wird dieser Vorgang, wenn eine Person ihr eigenes photographisches Abbild in gleicher Größe und Stellung aus zwei weit auseinander gehenden Lebensaltern besitzt. Sie wird sich dann nicht nur damit vergegenwärtigen können, wie sie in der Zwischenzeit ausgesehen hat, sondern sie wird sich vor ihren Augen altern und verjüngen sehen und so, vermöge des mitwirkenden geistigen Processes, allmählich alle Stufen ihrer körperlichen Entwickelung zu Gesicht bekommen.

Wenn man sorgfältig colorirte Portraits der verschiedenen Menschenrassen in geeigneten Aufnahmen besäße, so würde man auf optischem Wege leicht aus Neger und Europäer den Mulatten, aus Indianer und Europäer den Mestizen hervorbringen können, ja auf einem nachher zu erörternden, etwas complicirteren Wege würde man sogar die zusammengesetzteren Mischrassen Creolen, Quarteronen, Quinteronen etc., direct hervorbringen können. Hier bietet sich ferner ein Mittel dar, um der natürlichen Neugierde eines Ehepaares zu genügen, welches gern wissen möchte, wie seine Sprößlinge aussehen könnten, wenn sie in das augenblickliche Alter der Eltern gekommen sein werden. Durch den Wettstreit der Züge von Vater und Mutter unter einander werden sich abwechselnd die Züge der männlichen und der weiblichen Linie in den Vordergrund drängen, und so vermag man gewissermaßen vermöge dieses einfachen optischen Kunstgriffs in den Zukunftsspiegel zu schauen, denn in gewissem Grade werden sich meistens die Züge der Eltern in den Kindern vermischt finden, namentlich [875] wenn die Kinder zu entsprechenden Jahren gekommen sind. Eine erwachsene Person würde manchmal Veranlassung finden zu erstaunen, wenn sie ihr gegenwärtiges Aussehen mit dem Mischbilde ihrer Eltern aus ähnlichen Jahren vergleichen könnte.

Indessen darf man hierbei selbstredend keine vollständigen Uebereinstimmungen erwarten. Die Gesammtheit der Züge des Vaters oder der Mutter geht zwar oft mit wunderbarer Treue auf einen bestimmten Sohn oder eine Tochter über, und es kommt gar nicht selten vor, daß sich sogar die unbedeutendsten Einzelnheiten wiederholen, in der Mehrzahl der Fälle aber findet eine Art Vertheilung und Zersplitterung des leiblichen Erbes statt, sodaß man von dem einen Kinde sagt, es habe die Augen oder die Nase von dem Vater oder der Mutter geerbt, während ein anderes die Stirn, den Mund, das Kinn etc. bekommen hat. Es geschieht dies nach demselben Gesetz, nach welchem in Darwin’scher Anschauung die Verschiedenheiten der gesammten Lebewelt entstanden sein sollen. Gleichwohl wird der Blick eines Fremden in den Zügen der noch so sehr ungleichen Geschwister meistens die sogenannte „Familienähnlichkeit“, das heißt das gemeinsame Gepräge herausfinden können, und daher wird das Mischbild eines Sohnes und einer Tochter dem Mischbilde der Eltern meist noch näher kommen, als ein Einzelbild. Den vollkommenen Familientypus würde man aber natürlich nur dadurch vollenden können, wenn man die Bilder von allen Geschwistern, so viel ihrer da sind, mit einander vereinigen könnte.

Mit der Auflösung dieses in noch vielen anderen Beziehungen wichtigen Problems haben sich seit Jahren die berühmten englischen Anthropologen Herbert Spencer und Franz Galton, ein Neffe Darwin’s, beschäftigt, und in jüngster Zeit ist namentlich der letztere Forscher, der sich viel mit den Gesetzen der Erblichkeit beschäftigt hat, zur Auffindung sehr interessanter Methoden für diesen Zweck gelangt. Unter Anderem fand er in dem isländischen Doppelspath ein besonders geeignetes Mittel, denselben zu erreichen. Wenn man durch diese glashellen Krystalle von kohlensaurem Kalk irgend einen Gegenstand betrachtet, so sieht man ihn in Folge der ihnen eigenthümlichen Doppelbrechung der Lichtstrahlen zweimal, und betrachtet man auf diese Weise zwei Photographien, so sieht man vier Bilder, von denen sich leicht zwei zur Deckung bringen lassen. Legt man nun zwei solcher Kalkspathkrystalle auf einander, oder bringt vor jedes Stereoskopenglas einen solchen, so kann man vier verschiedene Bilder zur Vereinigung bringen, und wendet man beide Methoden gleichzeitig an, so lassen sich acht verschiedene Portraits mit einander verschmelzen.

Ist nun auch ein solcher Apparat wegen der Möglichkeit einer sofortigen Verschmelzung von zwei, vier, sechs oder acht Portraits für den Anthropologen sehr interessant, so dürfte von allgemeinerer Anwendbarkeit ein anderes Verfahren werden, welches ebenfalls von Herrn Franz Galton erdacht worden ist, nämlich eine photographische Verschmelzung einer beliebigen Anzahl von Portraits mit einander. Denn dadurch erhalten wir ein Mittel, den Typus einer einzelnen Familie sowohl, wie einer ganzen Rasse oder bestimmter Menschenclassen auf einem vollkommen mechanischen Wege zu erhalten, das dennoch viel vertrauenerweckender ist, als die bisherigen Versuche von Reisenden, selbst wenn sie Portraitisten vom Fache waren.

Das Verfahren ist in Kürze folgendes.

Eine Anzahl von Personen irgend einer besonderen Gemeinschaft wird nach einander aus gleicher Entfernung und bei gleicher Richtung der Augen, sei es nun nach vorn oder nach der Seite blickend, photographisch aufgenommen. Die einzelnen Brustbilder werden dann auf zwei durch seitliche Löcher gehende Drähte aufgereiht, sodaß die Höhe der Augen und die Lage der Nasenwurzel bei allen einander genau entsprechen. Es geschieht dies am besten mit Hülfe eines in einem Rahmen von der Größe der Bilder eingespannten Zwirnfadenkreuzes, welches man derart über jedes Bild legt, daß der Längsfaden durch die Nasenwurzel und der Querfaden durch die beiden Pupillen der Augen geht. Wenn dann an den äußern Enden des Querfadens gleichmäßig die beiden Aufreihungslöcher in jedes Bild gestochen werden, so werden, trotz mannigfacher Größenunterschiede, Nasenwurzel und Augen bei allen Bildern entsprechende Lage haben.

Nehmen wir nun an, die Sammlung bestehe aus zehn Blättern, die, wie die Blätter eines Kartenspiels auf einander geschichtet, auf einem festen Hintergrunde befestigt sind, um nun, eins nach dem andern auf dieselbe Platte des davorgestellten photographischen Apparates zu wirken; die Stärke des herrschenden Lichtes soll für ein Bild hundert Secunden Photographirzeit erfordern. Man wird also dann das erste Bild zehn Secunden wirken lassen, darauf den vor der Linse angebrachten Deckel schließen, das vorderste Bild wegnehmen, sodann das zweite und die folgenden Bilder aus der fixirten gleichen Stellung je zehn Secunden lang wirken lassen, bis man den Deckel zum letzten Male schließt, weil das Bild nunmehr im Negativ vollendet ist. Das davon erhaltene Positiv zeigt die vollkommenste Verschmelzung der zehn Einzelportraits, indem es mit jedem derselben Aehnlichkeiten darbietet, und doch keinem derselben gleicht.

Hierbei ist also eine Operation vollbracht, die sonst nur im Geiste des Beobachters möglich war; die individuellen Züge sind verwischt, die gleichbleibenden typischen Züge mit verstärkter Kraft festgehalten. Es sind diese letzteren dieselben Züge, die wir zunächst erblicken, wenn wir zum ersten Male in eine Gesellschaft von Negern, Nubiern, Beduinen etc. eintreten. Auf den ersten Augenblick scheint es uns, als ob sich diese Menschen alle so sehr glichen, daß wir sie niemals unterscheiden lernen würden. Bei genauerem Betrachten und nach einiger Zeit finden wir jedoch bald auch die individuellen Züge heraus, die indessen, eben weil sie in jeder Person wechseln, bei der Verschmelzung nicht so zur Wirkung kommen, wie der immer wiederkehrende, weil Allen gemeinsame Grundzug oder Typus. So bietet sich also damit ein einfaches Verfahren, die Rassentypen in einer von dem schwankenden Urtheil des Einzelnen unabhängigen Weise festzuhalten, und das ist für die Anthropologie eine sehr wichtige Erfindung.

Man möchte es kaum für möglich halten, daß ein mechanisch wirkender Apparat dasjenige zu Stande bringen könnte, was in den oben erwähnten Fällen erst die innere Anschauung vollendet: die vollkommene Verschmelzung der Bilder. Man setzt als sicher voraus, es müßten in der zusammengesetzten Photographie mannigfache Umrisse durch einander spielen, sich kreuzen und verwirren. Dies ist indessen durchaus nicht der Fall, vielmehr sind die Umrisse des Durchschnittsbildes so sicher, daß Herr Galton auf die Idee kam, ein solches zusammengesetztes Bild in Holz schneiden zu lassen, um es den Berichten über seine Versuche beidrucken lassen zu können.

Er hatte seine Versuche mit Bildern aus einem englischen Verbrecheralbum begonnen, weil sich dieselben wegen der bei der Aufnahme beobachteten Gleichmäßigkeit der Stellung und Größe besonders gut dazu eigneten. So konnte in gewissem Sinne ein Typus der Räuber und Mörder erhalten werden, das heißt eines Menschenschlages, der unter geeigneten Umständen vielleicht mehr als ein anderer dazu geneigt ist, solche Verbrechen zu begehen. Ein solches dreifaches Verbrecherportrait, welches allen drei Theilhabern ähnlich sah, aber durchaus keinem derselben glich, war auf Holz photographirt worden, um von einem geschickten Xylographen direct in Linienschattirung übersetzt zu werden. Aber bei diesem Verfahren ist es doppelt schwer, die Aehnlichkeit genau einzuhalten, und in der That gelang dies dem Holzschneider nicht. Merkwürdiger Weise aber glich sein Portrait auf das Genaueste einem der drei Theilhaber, dessen Bild er nicht für sich gesehen hatte, dessen Züge doch also noch erkennbar in dem Mischbilde liegen mußten, wie ein Maler zuweilen einem Kinde genau die Züge des Vaters oder der Mutter giebt, indem er den Anteil der andern elterlichen Hälfte übersieht oder nicht wiederzugeben im Stande ist. Auch dies ist ein Beweis, wie weit die Photographie in solchen Aufgaben das Vermögen des Zeichners übersteigt; ihre Leistungen blieben sich gleich, wenn man zum Beispiel die Reihenfolge der Einzelaufnahmen umkehrte oder beliebig änderte.

Im Uebrigen gestattet das Verfahren noch mancherlei Abänderungen. Gesetzt, man beabsichtigte aus den reinen Rassentypen diejenigen von Mischlings-Rassen zu gewinnen, so würde man zur Erzielung des ersten Mulatten-Typus beispielsweise den kaukasischen und den Neger-Typus gleich lange auf die Silberplatte wirken lassen. Wollte man aber direct ein Bild des Quarteronen- und Quinteronen-Typus erzielen, so würde man das Bild der Kaukasier zwei- oder dreimal so lange wirken lassen müssen als das der Neger. Wenn man nach demselben Verfahren den Typus einer einzelnen Familie zusammensetzen wollte, so würde man unter Umständen gut thun, auch entferntere Verwandte, in denen großelterliches [876] Blut rollt, zur Verschmelzung herbeizuziehen, aber man würde, nach der Ansicht des Herrn Galton, die Bilder der elterlichen Geschwister und Geschwisterkinder nur die Hälfte oder ein Viertel der den engeren Familiengliedern zugemessenen Zeit wirken lassen dürfen. Man ersieht hieraus, daß es sehr empfehlenswerth sein würde, Familien-Albums mit in gleichem Formate und gleicher Manier aufgenommenen Bildern anzulegen, wenn dieselben zugleich wissenschaftlichen Zwecken dienen sollen.

Ein gleiches Verfahren hat auch für dieselbe Person, die sich in verschiedenen Lebenslagen und Altersstufen aufnehmen läßt, einen besonderen Werth, und es würde sich für Personen, die nicht gerade auf Abwechselung erpicht sind, mithin sehr empfehlen, immer das letzte Bild mitzubringen, damit der Photograph darnach möglichst dieselbe Anordnung wie damals treffen könnte. Wir haben schon angedeutet, daß man aus mehreren Einzelbildern derselben Person Bilder zusammensetzen kann, die dem Originale ähnlicher sind, als jedes einzelne für sich.

Jeder meiner Leser wird in seinem Leben mit Persönlichkeiten zusammengetroffen sein, welche behaupten, noch niemals ein wirklich ähnliches photographisches Abbild von sich erhalten zu haben, und die deshalb weitere Aufnahmen verweigern. Sie werden darnach öfter für allzu anspruchsvoll gehalten, aber in vielen Fällen thut man ihnen Unrecht. Wenn man ihre angeblich mißlungenen Bilder vergleicht, so scheint in der That jedes eine andere Person vorzustellen. Und doch ist es dieselbe, die nur jedes Mal eine andere Miene aufgesetzt hat. In dem Gedächtnisse der ihr Nahestehenden, wie in ihrem eigenen, lebt sie als die Mischung dieses wechselreichen Mienenspiels, aus dem vielleicht gerade der reizendste und anziehendste Theil dem Bilde der dunklen Kammer nicht zu Gute kam. Das ist der große Abstand zwischen der besten Photographie und einer gelungenen Künstlerleistung, daß der Maler die besten Züge vereinigen, den besten Augenblick erfassen, den am häufigsten wiederkehrenden Charakter voranstellen kann, und hier sehen wir vielleicht einen Weg, wie die Photographie zur wirklichen Kunst erhoben werden kann. Solche Personen, die so schwer zu treffen sind, weil sie nicht immer dieselben scheinen, sollten sich in allerlei Stimmungen und an verschiedenen Tagen photographiren lassen, um daraus eine gesammelte Ausgabe ihrer Vorzüge zusammenstellen lassen zu können.

Vielleicht wäre dies auch der beste Weg, das wahre Gesicht einiger historischer Personen, die auf jedem Oelgemälde, auf jedem Stiche anders aussehen, noch nachträglich festzustellen. Unter den unzähligen und mitunter nicht wenig von einander abweichenden Bildern bestimmter Fürsten, Staatsmänner, Gelehrter, Dichter und Maler, ausgezeichneter Frauen etc. – ich erinnere an die einander oft höchst unähnlichen Bilder der Königin Louise, Schiller’s, Rembrandt’s, Luther’s und Anderer – giebt es gewiß manche, die sich verschmelzen ließen, um aus diesem optischen Schmelztiegel, von den Schlacken gereinigt, mit höherer Aehnlichkeit hervorzugehen.

Damit sind wir bei der Frage von den Idealportraits angelangt. Ich weiß im Augenblicke nicht, war es Phidias, Praxiteles oder Apelles, der eine Revue über die schönsten griechischen Mädchen abhalten durfte, um in seinem Urbilde der Schönheit nicht, wie es meistens geschieht, die Züge einer einzelnen schönen Erscheinung, sondern die schönsten Züge einer großen Gesammtheit zu vereinigen. Auch für solche Zwecke dürfte das Galton’sche Verfahren, indem es von einer ganzen Schönheitengallerie nur die bleibenden Züge festhielte, das Vergängliche aber entschlüpfen ließe, von einem gewissen Erfolge sein, um so mehr, da man auf gewöhnlichem Wege nicht mehr im Stande zu sein scheint, Antlitzformen wie die der schönen Göttin von Melos oder der Raphael’schen Madonnen zu schaffen.

Eine von Herrn Austin in Neuseeland, der die Möglichkeit, verschiedene Portraits mit einander zu verschmelzen, selbstständig beobachtet hat, aufgeworfene Frage geht dahin, ob man auf diesem Wege wohl auch körperlich wirkende Stereoskopbilder schaffen könnte. Er glaubt, daß dies durch Verbindung zweier verschiedener Personen, die nach demselben Principe, wie die Doppelbilder ein und derselben Person, aufgenommen worden sind, geschehen könne. Besser würde es sein, zwei gleiche Abzüge der photographischen Zusammensetzung neben einander in’s Stereoskop zu legen, denn diese bringen, wie ich den Lesern der „Gartenlaube“ früher einmal (Jahrgang 1874, S. 340) mitgetheilt habe, einen ziemlich körperlichen Effect hervor. Auf einem eigenthümlichen Wege hat ein deutscher Erfinder, Herr E. H. Lehmann, in Stargard (Pommern), die Vereinigung zweier Aufnahmen zu einem sogenannten „Raumbilde“ angestrebt und darauf auch im vorigen Frühjahr ein deutsches Patent erhalten.

Wie ich in dem eben erwähnten Aufsatze des Weiteren ausgeführt habe, ist jedes Gemälde und besonders jede Photographie ein einäugiges Bild, das heißt eine Darstellung der Dinge, wie sie einem einäugigen Menschen erscheinen, weshalb man sie auch am genußreichsten mit einem Auge betrachtet. Ja, die Photographien sind sogar Bilder, wie sie einem Cyclopen mit seinem Riesenauge erscheinen müßten, wie Polyphem die Dinge erblickt haben würde. Um nun Photographien zu erhalten, die der Wirklichkeit mehr entsprechen, hat Herr Lehmann einfache Bilder mit einer Art Doppellinse aufgenommen, bei denen also die Verbindung der beiden etwas verschiedenen Ansichten, die wir mit dem linken und rechten Auge aufnehmen, statt im Geiste des Menschen, schon auf der Platte vollzogen wird. Der Unterzeichnete hat derartige „Raumbilder“ gesehen, die in der That, abgesehen von einigen Nachtheilen der Doppelaufnahme, einen nicht üblen, allerdings keinen körperlichen Effect hervorbrachten, denn dadurch, daß wir sie mit zwei Augen betrachten, zerstören wir die beabsichtigte Illusion wieder zum Theil, indem wir uns auf das Sicherste überzeugen, daß wir ein Bild und keinen körperlichen Gegenstand vor uns haben. Aber auch dieses Verfahren zeigt, wie leicht und vollkommen die Verschmelzung mehrerer nicht völlig gleicher Bilder auf der photographischen Platte vor sich geht.

Carus Sterne.