Zwei Regenten

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Autor: C. N. Riotte
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Titel: Zwei Regenten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 37–40
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Zwei Regenten.

Von C. N. Riotte in New-York.

Ich hatte während des verflossenen Winters (1867–68) in Washington öfter Gelegenheit gehabt, General Grant auf der Straße und im Capitol zu sehen und ihn in Gesellschaft zu beobachten. Da ich aber nicht zu Denen gehöre, welche sich an die Tagesgrößen herandrängen, im Gegentheil vielmehr eine Scheu trage unter ihnen zu erscheinen, so hatte ich sogar das Anerbieten einiger mir befreudeter Congreßmänner, mich ihm vorzustellen, abgelehnt.

Der Eindruck, welchen General Grant’s äußere Erscheinung und sein Benehmen auf mich gemacht, war ein entschieden günstiger. Da war auch nicht die leiseste Spur von Sichgeltendmachen oder Vordrängen, viel weniger von Anmaßung oder Renommiren sichtbar. Mit fast mädchenhafter Scheu und Aengstlichkeit schien er Alles zu vermeiden, was die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn ziehen konnte. Stets war er in bürgerlicher Kleidung mit Ausnahme der Militärweste (dunkelblau mit Einer Reihe goldener Knöpfe), einen kurzen, etwas fadenscheinigen dunkeln Ueberzieher übergehangen. Nie sah ich ihn in militärischer Begleitung; auf der Straße vermied er sichtlich sich dem Angaffen auszusetzen, und in Gesellschaft nahm er, wo immer thunlich, eine stille zurückgezogene Ecke ein, wo er sich in einfachster und anspruchlosester Weise unterhielt.

Präsident Grant. Vicepräsident Colfax.

Wenn mir auch diese Beobachtungen genügten, um die Behauptungen einiger, namentlich deutscher, radicalen nördlichen Blätter, wonach General Grant so beschränkt wäre, daß er einzig von Cigarren, jungen Hunden und Pferden zu reden verstehe, wie nicht weniger die der Rebellen- und der nördlichen demokratischen Blätter unbedingt zu verwerfen, welche ihm schon damals, als dem voraussichtlichen republikanischen Präsidentschafts-Candidaten alle denkbaren Schwächen und Verbrechen andichteten: so waren sie doch nicht hinreichend, mir, abgesehen von seinen Leistungen im Felde und in der Civilverwaltung, genügende Anhaltspunkte zu einem Urtheil über den „Menschen“ Grant zu gewähren. Es war mir daher erwünscht, als meine früheren texanischen Landsleute mich beauftragten, ihm ein Bild ihrer entsetzlichen Lage vorzulegen und ihn um Abhülfe zu ersuchen.

Der Präsident A. Johnson hatte damals den tüchtigen und loyalen General Sheridan, trotz Grant’s Widerspruch, von New-Orleans, dem Hauptguartier von Louisiana und Texas, weggemaßregelt. Der rebellenfreundliche General Buchanan war in das Commando des Departements eingetreten, und unter seinem stillen Zusehen hatten die Rebellen begonnen, sich ungestraft an den treuen Unionsleuten zu rächen und die emancipirten Farbigen durch Mord und Austreibung in Zahl zu vermindern. Die Menge der straflos verübten Mordthaten hatte sich nach Sheridan’s Verbannung verdreifacht, so daß deren während drei Jahren jeden Tag in Texas etwa zwei vorkamen. Von Präsident Johnson Abhülfe zu erbitten, wäre unnütz gewesen, denn er war es ja gerade, der diesen Zustand herbeigeführt hatte.

Ich wurde daher an General Grant gewiesen, welchem durch den Congreß damals eine sonderbare Zwitterstellung neben dem Präsidenten Johnson gegeben worden war, denn er konnte zwar die Militär-Commandanten der Rebellenstaaten nicht anstellen, ihnen auch keine positiven Instructionen geben, aber durch Widerruf ihrer Befehle vermochte er sie lahm zu legen und sie so wegzuhänseln.

Von dem Adjutanten eingeführt, traf ich General Grant in einem großen Saale, seinem Bureau, von mehreren Secretären umgeben und im Gespräche mit einer Dame. Mit einer Handbewegung wies er die dienstthuende Ordonnanz an, mir einen Sessel in seine Nähe zu stellen. Ein leichtes, einfaches, aber freundliches Kopfnicken, – und er fuhr in seinem Gespräche mit der in Trauer gekleideten Dame fort, das sich um die mögliche Auffindung des Begräbnißplatzes ihres Sohnes drehte. Mit sichtbarer Theilnahme ging er alle Wahrscheinlichkeiten mit der Dame durch und dictirte dem in einer Ecke sitzenden Telegraphisten zwei Anfragen, die eine nach Louisiana, die andere nach Georgien, die [38] auf den Gesuchten Bezug hatten. Ich verwunderte mich nicht wenig, den General ohne Cigarre im Munde zu sehen. Sobald aber die Dame Abschied genommen und ehe er noch ein Wort zu mir gesprochen, zündete er eine kolossale Imperiale an.

Das Detail unserer Unterredung hat kein Interesse für meine Leser. „Und nun, was kann ich für Sie thun, Richter?“ so begann der General dieselbe. Ich schilderte ihm, nachdem ich das Gesuch der Texaner vorgelesen, eingehend die traurige Lage derselben und sprach ihm offen aus, weshalb wir uns an ihn und nicht an den Präsidenten wendeten. Er hörte schweigend zu, stellte mir, als er geendet, eine Menge Fragen in schlichter, aber sehr treffender Weise und sprach sich dann mit einer unerwarteten Offenheit über das Verderbliche einer Politik aus, solche Leute wie General Buchanan mit dem Commando von Rebellenstaaten zu betrauen, Directe und endgültige Abhülfe könne er mir nicht versprechen, allein ich möge ihm alle meine Beweisstücke überlassen und er wolle thun, was ihm möglich.

Natürlich war dies Alles, was ich mit Kenntniß seiner Stellung und Macht erwarten konnte. Die ganze Unterredung, welche nahezu eine Stunde währte, trug das den deutschen Verhältnissen ganz fremde, echt amerikanische Gepräge des vollständigen beiderseits bewußten Gleichstehens, wobei der General anerkannte, daß ich als Bürger ein vollständiges Recht hatte, ihm meine Ansicht selbst über die Mittel der Abhülfe auszusprechen, und daß er als ein Diener des Volkes verpflichtet sei, mich nicht nur anzuhören, sondern auch meine Aeußerungen in Betracht zu ziehen.

Noch einmal und zwar bei einer besonders wichtigen Gelegenheit beobachtete ich General Grant; – es war am 26. Mai Abends, wo ich zu den Delegirten der Chicago-Convention gehörte, welche ihn zum republikanischen Präsidentschafts-Candidaten vorgeschlagen hatte, und die nun durch uns, etwa dreißig Männer, unter Anführung des Generals Howley von Connecticut, als Vorsitzenden jener Convention, ihm und Herrn Colfax die Beschlüsse derselben officiell mittheilen ließ. Grant, Herrn Colfax zu seiner Rechten, seinen alten Vater zur Linken, und von mehreren Damen, unter denen seine Frau, und engeren Freunden umgeben, empfing uns. Während Colfax, der alte parlamentarische Kämpe, ruhig, selbstbewußt und lächelnd den Dingen entgegensah, schien Grant von der Bedeutung des Augenblickes fast erdrückt, und krampfhaft hielt er die Rechte seines Vaters gefaßt. Und in der That, auch ich fühlte mein ganzes Wesen bei dem Gedanken durchschauert und gehoben, daß wir wenigen Männer und ich, der einzige anwesende Vertreter des eingewanderten Elementes, im Begriffe standen, im Auftrage von fünfunddreißig Millionen freien Bürgern, der mächtigsten Nation der Erde – einem unserer Mitbürger die höchste Machtvollkommenheit anzutragen! Mit niedergeschlagenen Augen und während seine Brust mächtig arbeitete, hörte General Grant die schöne patriotische Ansprache unseres Führers an. Die wenigen mit vor Aufregung zitternden Stimme gesprochenen Worte, in denen Grant den Antrag annahm und zugleich versicherte, „daß er keine vom Volkswillen abweichende eigene Politik haben werde,“ wurden vom Telegraphenblitze die Nacht durch über die ungeheure Ausdehnung des weiten Landes getragen, des anderen Morgens mit Jubel von demselben Volke begrüßt, dessen ganzes Sein während mehr als drei Jahren an der verrätherischen Verstocktheit des Ueberläufers A. Johnson gekränkelt hatte. Wenige Tage nachher las das Volk der Vereinigten Staaten das Annahmeschreiben Grant’s, das mit den allwillkommenen Worten schloß: „Laßt uns Frieden haben!“

Die Lebensgeschichte des Generals Ulysses S. Grant ist in jüngster Zeit von allen Tages- und Wochenblättern so vielfach und ausführlich erzählt, daß die Gartenlaube den Raum dafür wohl sparen und sich darauf beschränken kann, nur einige Wendepunkte dieser an sich einfachen Mannes-Laufbahn hervorzuheben. Bekanntlich ist Grant am 27. April 1822 in Point Pleasant, Clermont County, Staat Ohio, geboren, kam mit geringer Schulbildung auf die Militärschule von West-Point, machte als Lieutenant den mexicanischen Krieg mit, war nach demselben erst Kaufmann, dann Gerber, trat aber beim Ausbruch der Secession sofort unter die Waffen. Als kriegserfahrener Officier zeichnete er sich stets aus, ward trotzdem mehrmals zurückgesetzt und erst nach dem Siege auf dem blutigen Felde bei Schiloh-Kirche gegen den fähigsten der südlichen Generale, S. Johnson, wo er sechs Regimenter persönlich zum Sturm führte, wurde er zum Oberbefehlshaber der Armee von Tennessee ernannt.

Während im Osten unter Mac Clellan und anderen ebenso unfähigen Generalen Verlust und Schmach der Nordheere sich häuften, beriethen und faßten die beiden größten Soldaten der Union, Grant und Sherman, ihre Pläne, legten am Mississippi und Yazoo die Grundlagen zu deren Ausführung, und schon am vierten Juli 1863 brach Grant durch die Einnahme von Vicksburg der Secession den Rücken. Nach dem entscheidenden Sieg bei Chattanooga schrieb Präsident Lincoln an Grant damals jenen interessanten Brief, in welchem er sagte: er habe geglaubt, daß Grant einen Fehler begangen, als er, anstatt sich nach der Einnahme von Vicksburg südlich nach General Bank’s Armee zu ziehen, sich östlich gewendet; „ich wünsche nun persönlich anzuerkennen, daß Sie Recht hatten und ich Unrecht.“ Kurze Zeit darauf rechtfertigte Grant weiter seinen Feldzugsplan und Lincoln’s redliches Zugeständniß durch eine Reihe von herrlichen Siegen, deren Folge die Vernichtung der westlichen Rebellenarmee war und wodurch er die Möglichkeit zu jenem kühnen, in der Kriegsgeschichte unübertroffen dastehenden Zug General Sherman’s durch die Südstaaten schuf. Zum Lohn für diese Erfolge beschloß der Congreß, den seit Georg Washington nicht mehr ertheilten Rang eines General-Leutenants wiederherzustellen und General Grant zu dieser Stelle zu empfehlen, welcher das Commando aller Armeen zustehen solle. Am 9. März 1864 übergab Präsident Lincoln persönlich General Grant in feierlicher Weise die von ihm vollzogene Bestallungsurkunde als General-Leutenant.

Grant wandte nunmehr seine ganze, ungetheilte Aufmerksamkeit der so lange und so hart durch die Unfähigkeit und Verrätherei ihrer Führer geprüften Armee am Potomac zu. Wenige Wochen genügten, um ihn mit dem Terrain, dem Material der Armee und der Stellung und den Hülfsmitteln seines Gegners, des Generals Lee, bekannt zu machen und seine Pläne zu entwerfen. Der Rapidan-Fluß – so lange die von Lee bewachte Linie – wurde überschritten, die schreckliche Schlacht „in der Wilderneß“ geschlagen! Nach diesem Siege folgte er dem auf die Nord-Annafluß-Linie sich zurückziehenden Lee, umging dessen sehr starke Stellung durch einen kühnen Flankenmarsch nach Cold Harbor, lieferte ihm eine andere blutige Schlacht und überschritt dann mit Umgehung der ausgedehnten Befestigungswerke von Richmond, hinter welche die Rebellenarmee sich zurückgezogen, den breiten Jamesfluß und schloß Petersburg, die Zwillingsveste von Richmond, ein. Während einer Reihe von Monaten des Winters 1864 auf 1865 dauerten die erbitterten und mit wechselndem Glück geführten Kämpfe auf der weiten Befestigungslinie der durch eine Eisenbahn verbundenen letzten Zufluchtsstätte, auf welche die südliche Conföderation reducirt war. Nichts konnte den eisernen Griff, den Grant nach dem sinkenden Leben der Rebellion gethan, zum Nachgeben bewegen – wie zwei englische Bulldoggen, so schienen sich Grant und Lee in einander verbissen zu haben. Endlich am 2. April 1865 gelang es Grant, die in der Nähe von Petersburg gelegenen Befestigungswerke bei Five Forks zu nehmen. Ein von ihm am folgenden Tage auf der ganzen Linie unternommener Angriff trieb Lee aus den Befestigungswerken und aus Richmond. Die Verfolgung, mit größtem Eifer fortgesetzt, führte, nachdem Lee’s Rückzugslinie durch ein von Grant angeordnetes und vom Reitergeneral Sheridan meisterhaft ausgeführtes Manöver abgeschnitten war, bereits nach acht Tagen zur berühmten Capitulation von Appomattox Court-Haus.

Die Bedingungen derselben, wie sie von Grant vorgeschlagen und von der Regierung in Washington genehmigt wurden, waren so milde, daß sehr viele Republikaner, selbst solche, welche nicht den Heißköpfen angehörten, sie mißbilligten und nur das Gewicht seines Namens vermochte es, die öffentliche Stimme damit auszusöhnen. Dieselbe Mäßigung, wie bei der Capitulation, bewies Grant später als Kriegsminister gegenüber dem Eigenwillen des Präsidenten Johnson; die Leser der Gartenlaube kennen diese Geschichte aus dem Artikel: „der Präsident auf der Anklagebank“. Und gleiche Mäßigung bewies er bei seiner Nomination und Wahl, die er nicht gesucht und zu deren Durchführung er keinen Schritt gethan, ja kein Wort gesprochen hat, nicht einmal zur Vertheidigung gegen die schamlosen, von den demokratischen Blättern gegen ihn geschleuderten Lügen und Verleumdungen. Ebenso läßt er seit dem 3. November (dem Wahltage), mit eben so viel stoischem Gleichmuthe [39] die ekelhaften Schmarotzereien der leitenden demokratischen Politiker und Blätter, welche ihn jetzt als einen der Ihrigen zu reclamiren suchen, wie die kaum weniger widerlichen Kriechereien der republikanischen Maulpatrioten harmlos an sich abgleiten und weicht beiden Kategorien so viel wie möglich aus. Vor wenigen Tagen noch war ich im Theater in New-York Zeuge, mit welchem Jubel er, sobald er in der Prosceniumsloge erschien, vom ganzen Publicum begrüßt wurde. Er dankte mit einer Verbeugung, zog sich jedoch, als diese stürmische Begrüßung kein Ende nehmen wollte, in den Hintergrund der Loge zurück, so daß er nicht mehr gesehen wurde. Das Schauspielhaus verließ er durch eine Hintertür, um der ihm auf dem Broadway vor dem Hause zugedachtem Ovation zu entgehen.

Grant, in Charakter wie in Physiognomie und Benehmen ganz Amerikaner, ist in Körpergröße hinter der gewöhnlichen amerikanischen Masse zurückgeblieben. Er hat gewiß nicht mehr als fünf Fuß sechs Zoll. Sein Körperbau, obwohl muskulös, ist nicht stark. Die Schultern trägt er leicht vorgebeugt, die Hände, nach amerikanischer Sitte, in den beiden weit vorn angebrachten Hosentaschen. Sein Gesicht hat eine frische, gesunde Farbe. Die Augen sind hellblau, und sie sind es besonders, die in ihrer langsamen, fast maschinenmäßigen, stieren und lauernden Bewegung sofort den Amerikaner erkennen lassen. Die Stirn ist hoch und hübsch gewölbt bis zu dem dichten, kastanienfarbigen Haar. Auch die Bewegungen des Generals sind nichts weniger als leicht, schnell oder lebhaft, und offenbar dem ruhigen Arbeiten, einer wohlabgewägten, auf einem strammen Nervensysteme beruhenden Geisteskraft entsprechend, ohne je auch nur den Schein von Prätension anzudeuten. Der Gesammteindruck der Persönlichkeit ist ein wohlthuender, beruhigender und in hohem Grade Vertrauen erweckender.

Schuyler Colfax, der erwählte Vice-Präsident, ist in vielen Beziehungen der Gegensatz von Grant. Seine Nervosität wird auf den ersten Blick in den ewig und schnell wechselnden Zügen sichtbar. Die unter einer hohen Stirne tiefeingesenkten Augen sind in unaufhörlicher Bewegung. Seine Unterhaltung ist sehr lebhaft, voll Witz, und eine gute Bemerkung ist sicher, von ihm mit beifälligem, herzlichem Lachen belohnt zu werden. Seine Bewegungen im gewöhnlichen Leben wie auf dem Sprecher- (Präsidenten-) Sitze des Repräsentantenhauses sind quecksilbern und leicht. Seine Geistesthätigkeit, mit der es ihm möglich geworden, durch vier Congreßperioden einer solch unruhigen, leidenschaftlichen, selbstwilligen, regellosen und fast von keiner Schranke umgebenen Versammlung vorzusitzen, ist wahrhaft wunderbar. Seine Kenntniß des schwierigsten aller Gesetzbücher, des über die parlamentarischen Regeln zusammengestellten Compendiums von Barclay, und die Gewandtheit und Sicherheit seiner Entscheidungen ist in hohem Grade merkwürdig. Sein Auge beherrscht vollkommen die weite Halle, in welcher ein fortgesetztes Herumwandeln der Repräsentanten, das Ab- und Zurennen einiger zwanzig, ziemlich ungezogener Jungen, euphemistisch Pagen genannt, die Privatunterhaltung der Repräsentanten, das Ein- und Ausgehen von Senatoren oder anderer zum Eintritte berechtigter Personen das krampfhafte Schreien der Redner auf den Tribünen kaum verständlich sein läßt. Kaum hebt sich des Sprechers Hammer langsam, um nach Ablauf der gewährten Minutenzahl, welche eine große seinem Stuhle gegenüber befindliche Uhr genau anzeigt, den unversiechbaren Redestrom wie Atropos’ Scheere abzuschneiden, so springen auch schon je nach der Sache ein halbes oder ein ganzes Dutzend neue Kämpen auf die Füße, und suchen mit dem lauten Rufe „Herr Sprecher!“ und mit den gewaltsamsten Arm- und Körperbewegungen dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und für sich das Vorrecht des Wortes in Anspruch zu nehmen. Während Herr Colfax sich mit einem Repräsentanten oder Senator ganz lustig nach beiden Seiten hin unterhielt, zugleich den vor und unter ihm auf der weißmarmornen Tribüne sitzenden Schriftführern eine Anfrage beantwortete, hat er genau bemerkt, wer von den sich zur Rede Meldenden der erste war, aber zugleich auch wahrgenommen, daß ein Secretair des Senates oder des Präsidenten mit einer Mittheilung oder Botschaft eingetreten; wieder fällt der Hammer und die Worte: „A message from the President“ (eine Botschaft vom Präsidenten) bringen eine momentane Ruhe hervor, der aber nach Verlesung das alte, durch die Stauung womöglich verstärkte Getöse folgt. Die stärkste Prüfung, welcher ich den ewig gleichmäßig heiteren Humor von Colfax unterworfen sah, war einige Male bei einer durch ihn vorzunehmenden Abzählung der Stimmen Für und Wider, wo ihm zugemuthet würde, nicht nur den nicht so schwierigen Schluß zu machen, daß ein hinter einem Pulte sich erhebender Arm zu einem dahinter liegenden Volksvertreter gehöre, sondern sogar, daß ein hinter einem solchen Pulte geisterhaft anzeigender chinesischer Fächer das Ja oder Nein eines Repräsentanten zu bedeuten habe.

Obwohl ein eifriger, gewissenhafter Republikaner, der auch als Sprecher nie versäumt bei Principienfragen seine Stimme für die Sache der Freiheit und des Rechtes abzugeben, und von der republikanischen Partei im Congreß, dessen Mitglied er bereits seit vierzehn Jahren ist, zum Sprecher erwählt, war seine Verwaltung dieses schwierigen Amtes doch so gerecht und unparteiisch, daß ihm auch während der Rebellion, als die politische Verbissenheit häufig während der Berathungen zu den hitzigsten Scenen führte, doch mehrmals am Schlusse der Sitzungen der einstimmige Dank der Vertreter aller Parteischattirungen votirt wurde.

Vom Jahre 1860 an war Colfax’ Einfluß auf die Regierung durch seine hohe Stellung, besonders aber durch das große Vertrauen und die innige Freundschaft, welche Präsident Lincoln zu ihm hegte, ein sehr bedeutender, wenn auch mit strengster Discretion geübter. Man kann wohl behaupten, daß er gegenwärtig der populärste Mann in den Vereinigten Staaten ist, im Volke, in den Beamtenkreisen und bei den Mitgliedern des Congresses, und besonders ist es der Arbeiterstand, der auf ihn, als einen der Seinigen, mit berechtigtem Stolze blickt.

Herr Colfax wurde am 23. März 1823, kurz nach seines Vaters Tode, in der Stadt New-York geboren. Als Sohn einer armen Wittwe trat er sehr frühe in ein kaufmännisches Geschäft ein, zog 1836 mit seiner Mutter nach St. Joseph County, Indiana, wo ihm ein kleines County-Amt, als Assistent, übertragen wurde und wo er sich durch eifriges Selbststudium die Gesetze des Staates vollkommen zu eigen machte. Eine von ihm 1845 gegründete Zeitung, deren einziger Eigentümer und Redacteur er war, und bei der er überdies häufig auch am Setzen, Corrigiren, Drucken etc. teilnehmen mußte, erwarb sich einen so ausgedehnten Leserkreis, daß sie ihm bald einen erheblichen materiellen Gewinn abwarf.

Obwohl erst fünfundzwanzig Jahre alt, erwählten ihn seine Mitbürger zum Delegaten für die Convention, welche General Taylor zum Präsidentschafts-Candidaten vorschlug, und zwei Jahre später wurde er zur Convention berufen, um eine Verfassung für den Staat zu entwerfen. In dieser widersetzte er sich mit aller Entschiedenheit, wenn auch erfolglos, dem Verbote gegen die Niederlassung von freien Farbigen. Zur Strafe dafür unterlag er im nächsten Jahre in einer Wahl zum Congresse seinem demokratischen, negerfeindlichen Gegner. Allein schon im Jahre 1854 sandten ihn seine Mitbürger in die Hallen der nationalen Repräsentation, wo er gegen die nichtswürdige Politik des Präsidenten Pierce, welche Kansas zu einem Sclavenstaate machen wollte, seine Jungfer-Rede hielt, die in mindestens einer halben Million Exemplaren gedruckt und über das Land verbreitet wurde, eine Auszeichnung, die kaum je einer anderen Rede zu Theil geworden ist.

Colfax war einer der Ersten, welche die ganze Bedeutung der zwischen dem Mississippi und dem Stillen Ocean gelegenen, unter seiner Beihülfe vom Fluche der Sclaverei bewahrten Territorien und einer Eisenbahnverbindung des Ostens und Westens für die Größe und Dauer der Vereinigten Staaten erkannten. Um sich über diesen Punkt die möglichst genaue Information an Ort und Stelle zu verschaffen, unternahm er 1860 eine Reise durch jene Territorien, von deren Bevölkerung ihm ein fortgesetzter Triumphzug bereitet wurde und welche ihm nach seiner Rückkehr Veranlassung gab, in allen bedeutenderen Städten der Union in einem höchst interessanten und lehrreichen Vortrage die öffentliche Aufmerksamkeit auf jene ausgedehnten Gefilde zu lenken.

Seit dem Bestehen der nordamerikanischen Republik hat noch keine Wahl stattgefunden, bei welcher die Erwählten so sehr nicht nur die Auserkorenen ihrer politischen Partei, sondern auch die Repräsentanten der socialen und ethischen Anschauungen des besseren Theiles der Nation gewesen wären. In Grant sieht und schätzt die Nation den opfermuthigen, anspruchslosen und tüchtigen Vaterlandsvertheidiger, die Verkörperung derjenigen nationalen Kraft, welche das Land aus der entsetzlichen Feuertaufe des vierjährigen Bürgerkrieges nur stärker hat hervorgehen lassen, – sie setzt einen [40] gewissen, dem Yankeecharakter so ganz eigenen Stolz darein, nicht nur, daß auch sie einen so großen General aufzuweisen hat, wie die berühmtesten der Geschichte und insbesondere der europäischen Monarchien, sondern daß ihre Institutionen und dadurch erzeugten Anschauungen ihr gestatten, dem glücklichsten Feldherrn der Neuzeit ohne Gefahr für das Gemeinwesen die höchste bürgerliche Gewalt zu überantworten.

Und so wie das Volk der Vereinigten Staaten in Grant seiner Vorliebe und seinem Zutrauen zu seiner militärischen Kraft Ausdruck gab, ebenso anerkannte es in der Wahl von Colfax mit seiner entschiedensten Erklärung das Verdienst des einfachen Bürgers auf dem wenn auch weniger glänzenden, doch auch weniger blutigen Felde des Parlamentarismus, wo sich doch das eigentliche Leben der Nation abspielt.