Zwei Taschentücher

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Walther Kabel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Zwei Taschentücher
Untertitel:
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1920
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Enthält die Erzählungen: Zwei Taschentücher, Das Geheimnis des Czentowo-Sees und Der Mord im Sonnenschein.
Band 7, erste Auflage, der Romanheftreihe Der Detektiv (später: Harald Harst. Aus meinem Leben.)
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[1]
Der Detektiv


Kriminalerzählungen


von


Walther Kabel.


Band 7:


Zwei Taschentücher.


[2]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H, Berlin.


Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 26


[3]
1. Kapitel.
Zerstörtes Glück.

Assessor Harst beendete seinen Vortrag, den er seinem Vorgesetzten soeben über die Mordsache Luckner-Birt gehalten hatte, mit den Worten: „Ich glaube, dieses Beweismaterial genügt zur Erhebung der Anklage gegen diesen ebenso raffinierten wie verstockten Menschen, Herr Geheimrat.“

Der Erste Staatsanwalt streckte ihm die Hand hin und sagte herzlich: „Lieber Harst, – es genügt vollauf! Und – es ist wieder einmal Ihr alleiniges Werk, all diese feinen Fäden zu einem Netz vereinigt zu haben, aus dem es für den Täter kein Entrinnen mehr gibt. Ich danke Ihnen. Nur selten findet man unter uns Juristen einen so scharfsinnigen Kopf wie Sie. Ich habe den Herrn Minister bereits auf Sie aufmerksam gemacht, und Ihre Ernennung zum Staatsanwalt dürfte noch vor Ihrer Hochzeit erfolgen, verehrter Kollege. Diese ist doch für nächsten Mittwoch festgesetzt, wenn ich mich recht erinnere. – Auf Wiedersehen! Und – machen Sie für heute Schluß mit der Arbeit! Dieses prachtvolle Maiwetter lädt geradezu ein zu einem Spaziergang – zumal wenn man verlobt ist!“

[4] Noch ein Händedruck, und Harald Harst kehrte in sein Dienstzimmer zurück, wo er das Aktenstück „Luckner-Birt“ wegschloß und sich dann zum Ausgehen fertig machte. Er tat dies mit der ihm eigenen Sorgfalt, die er seinem äußeren Menschen stets schenkte. Es war ihm Bedürfnis, sich tadellos zu kleiden und die Gewißheit zu haben, daß jede Kleinigkeit an ihm selbst vor dem kritischsten Blick bestehen konnte. Er besaß dabei einen ausgesprochen vornehmen Geschmack, und nichts an seiner Erscheinung verriet, daß er aus einer sehr einfachen, wenn auch reichen Familie stammte. Seine schlanke, mittelgroße Gestalt und das frische, magere Gesicht mit dem kurz gestutzten blonden Bärtchen ließen ihn weit jünger erscheinen, als er es in Wirklichkeit war. Sein gemessenes Wesen, die Ruhe seiner Bewegungen und seine langsame, überlegte Art zu sprechen, seine unerschütterliche Gelassenheit und der kühle, scheinbar all und jedem gegenüber gleichgültige Blick der grauen, dunkelbewimperten Augen waren das Ergebnis strengster Selbstzucht. Sein Gesicht mit den vorspringenden Backenknochen, der allzu kräftigen Kinnpartie, der hohen, eckigen Stirn und der messerscharfen Hakennase durfte auf Schönheit keinen Anspruch erheben. Aber es war eines[1] von denen, die Eindruck machen, auffallen und dem Menschenkenner sofort überlegene Geistesgaben verraten. – Das war Harald Harst, den seine Kollegen oft den großen Schweiger nannten, da er wenig mitteilsam, ja sogar eine verschlossene, insichgekehrte Natur war.

Als er nun in den warmen Mittagssonnenschein hinaustrat, der den Platz vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit in blendende Helle tauchte, war es genau 12 Uhr mittags. Um halb eins hatte er sich mit Marga vor dem Kaufhaus des Westens verabredet. Sie wollten dort gemeinsam einige Besorgungen erledigen. Er hatte also noch genügend Zeit, ein Stück zu Fuß durch den Tiergarten zu gehen. Inmitten der frischgrünen Lenzespracht schüttelte er gewaltsam alle Gedanken an dienstliche Angelegenheiten von sich ab, zwang sich, nur mit dem geliebten Wesen sich zu beschäftigen, das nun in kurzem sein Weib werden sollte.

Marga Milden war das einzige Kind des Senatspräsidenten [5] Robert Milden und seiner Frau, einer geborenen Gräfin Blinkfeld. Trotz ihrer erst zwanzig Jahre war sie ein völlig ausgereifter Charakter mit ernsten Lebensanschauungen. Jedenfalls hatten sich, als sie den Assessor Harst vor einem Vierteljahr kennen und sehr bald lieben lernte, nicht gerade die Gegensätze wie so oft angezogen, denn Marga und Harald waren in der Hauptsache verwandte Naturen. Als Brautpaar wußten sie in Gegenwart anderer stets zu verbergen, wie leidenschaftlich sie sich zugetan waren. Nur im trauten Alleinsein enthüllten sie ohne Scheu ihre heißen Herzen und schwärmten in schlecht verhehlter Sehnsucht von der köstlichen Zukunft, wo sie sich dann restlos angehören durften. –

Auf der Tauentzienstraße[2] vor dem riesigen Sandsteinbau[3] des Kaufhauses des Westens wogte wie immer um die Mittagstunde ein doppelter Menschenstrom auf der Lasterseite auf und ab. Harst schlenderte vor den großen Schaufenstern hin und her und machte seine Studien an den Menschen, die gleich ihm die Auslagen bewunderten. Er verstand sich darauf, aus winzigen Kleinigkeiten treffsichere Schlüsse zu ziehen, und es war eine fast krankhafte Angewohnheit von ihm, selbst im Straßentreiben der Millionenstadt auf alles zu achten, was ihn vielleicht auf die Spur irgend einer entweder schon vollendeten oder erst geplanten Gesetzesübertretung führen konnte. Daher wurde er auch Taschendieben besonders gefährlich. Er durfte sich rühmen, bereits mehr als ein Dutzend dieser Gauner hinter Schloß und Riegel gebracht zu haben.

Jetzt stutzte er plötzlich. War das nicht der Komiker-Maxe, Max Schraut, der doch letztens wieder wegen Handtaschen-Abkneifens ein Jahr Gefängnis bekommen hatte? – Ohne Zweifel: dieser frühere Schauspieler, der schnell zum Taschendieb auf der schiefen Bahn des Lasters herabgesunken war, mußte aus der Strafanstalt entwichen sein! Er trug jetzt eine gar nicht schlechte Verkleidung, spielte den alten, ehrwürdigen Herrn. Für Harsts Augen hatte der falsche Bart aber doch eine zu stumpfe Farbe.

Harst trat hinter den Komiker-Maxe, der es auf eine [6] junge Dame abgesehen zu haben schien, und flüsterte ihm zu: „Gehen Sie langsam voraus in die Nebenstraße, Max Schraut. Aber – keine Dummheiten –!“

Der Taschendieb gehorchte. Er mußte große Geistesgegenwart besitzen. Er war nicht einmal zusammengezuckt bei dem unerwarteten, verhängnisvollen Befehl.

Nun aber begann er den Assessor flehentlich zu bitten, ihn laufen zu lassen. „Ja, ich bin ausgebrochen. Nur deshalb, weil meine alleinstehende Mutter todkrank ist – nur deshalb! Jetzt ist sie gestorben – gestern abend. Ich möchte ihr doch wenigstens das letzte Geleit geben. Dann – mein Wort darauf! – stelle ich mich freiwillig.“

„Und soeben wollten Sie wieder Ihren alten Trick versuchen, Schraut. Sie hatte die kleine Beißzange ja schon in der Hand.“

Der Dieb stöhnte auf. „Die – die Beerdigungskosten,“ flüsterte er, und ein paar Tränen rannen ihm in den falschen Bart.

Harst schaute ihn prüfend an, gab ihm dann einen Hundertmarkschein und sagte: „Nach der Beerdigung melden Sie sich bei mir. Ich wohne Schmargendorf, Blücherstraße 10.“

Dann schritt er davon. –


***


Es wurde eins. Marga erschien nicht. Und sie war doch die Pünktlichkeit selbst. Um halb zwei läutete Harst bei Mildens in der Bismarckstraße in Charlottenburg vom nächsten Zigarrengeschäft an. Seine Schwiegermutter gab ihm den Bescheid, Marga wäre bereits um zehn Uhr von Hause weggegangen.

[7] Er war ein geduldiger und ebenso verliebter Bräutigam. Er hatte sich so sehr auf das Wiedersehen gefreut, zumal er Marga gestern nachmittag daheim nicht angetroffen und abends hatte arbeiten müssen. Noch bis zwei Uhr wollte er warten. Dann mußte er nach Hause. Seine Mutter hatte ihm heute eins seiner Leibgerichte gekocht. – Er schlenderte wieder vor dem Warenpalast auf und ab, ohne viel Hoffnung, daß die Ersehnte jetzt noch erscheinen würde. Sie hatte sicherlich eine ganz dringende Abhaltung. Anders ließ sich diese verpaßte Verabredung nicht erklären.

Um zwei Uhr rief er dann Mildens abermals an. Marga war noch nicht zurückgekehrt. Niemand wußte, ob sie etwas Besonderes vorgehabt hätte.

Leicht beunruhigt machte Harst sich auf den Heimweg. Die Straßenbahn war ziemlich leer. Er stand bequem auf der hinteren Plattform und grübelte über die Gründe nach, die dieses Stelldichein für Marga vereitelt haben könnten. Je länger er alle Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten prüfte, desto besorgter wurde er. Seine Braut, sagte er sich nun mit Recht, hätte ihn niemals vergeblich warten lassen, wenn sie nicht durch Umstände ferngehalten worden wäre, die ihre freie Entschlußfähigkeit ausgeschaltet hätten. Nur ein Unfall konnte hier vorliegen.

Ihm wurde ganz heiß bei diesem Gedanken. Dann wieder suchte er seine Angst zu zerstreuen, tröstete sich mit der Annahme, es läge vielleicht ein sehr harmloser Grund vor. Doch nur Minuten währte diese Selbsttäuschung. Wieder kroch ihm die ungewisse Furcht zum Herzen, in dem nur für weniges Raum war: für Marga, für seine Mutter und für seinen Beruf.

Von seiner Haltestelle der Straßenbahn hatte er noch einen kurzen Weg bis nach Hause. Frau Auguste Harst wohnte noch in demselben alten Gebäude, wo sie an der Seite des Tischlermeisters und späteren Holzhändlers Emil Harst 25 Jahre zufrieden und glücklich gelebt hatte und nun nach dessen plötzlichem Tode ganz in Liebe und Fürsorge für ihr einziges Kind aufging.

[8] Das Haus lag weit von der Straße zurück inmitten eines Gartens mit uralten Linden, der sich nach hinten zu bis an ein Laubengelände ausdehnte. Harald Harst bewohnte im Erdgeschoß die drei Zimmer rechts von dem großen, durchgehenden Flur. Die Räume links standen leer. Er eilte jetzt die breite, gewundene Treppe empor, fand seine Mutter in der Küche am Herde, küßte sie zärtlich und nickte auch der alten Malwine, die bei Harsts nun schon einige zwanzig Jahre diente, einen freundlichen Gruß zu. Dann begann er der kleinen, rundlichen Mutter, der das schwarze Häubchen stets schief auf dem falschen Zopf thronte, sofort von dem vereitelten Stelldichein zu berichten. Frau Auguste tätschelte ihm die Backen. „Harald – man soll nicht gleich das Schlimmste sich ausmalen,“ meinte sie. Und doch fühlte auch sie eine gelinde Angst um die Schwiegertochter, die sie aufrichtig liebte, obwohl ihr Junge seit seiner Verlobung ihr nur noch halb gehörte.

Harst lief jetzt in seine Wohnung hinab. Er, der jede hastige Bewegung vermied, war wie ausgewechselt. Seine drei Zimmer, mit erlesenem Geschmack eingerichtet, verrieten sofort, daß sein Vater ein Millionenvermögen hinterlassen hatte. Jedes Stück der Ausstattung besaß hohen Kunstwert.

Im seinem Arbeitszimmer nahm Harst den Hörer von dem auf dem Schreibtisch stehenden Fernsprecher und ließ sich mit Mildens verbinden. Es war jetzt halb drei. Der Senatspräsident kam selbst an den Apparat. – „Lieber Harald, wir fangen an, uns zu ängstigen,“ sagte er ehrlich.

Harst erwiderte, er würde das Polizeipräsidium Berlin anrufen und bitten, bei den Unfallstationen und in den Krankenhäusern Nachfrage zu halten. Das ginge so am schnellsten. Er wäre auf dem Präsidium gut bekannt, und man täte ihm gern diesen Gefallen.

Nachdem dies erledigt war, ging er wieder zu seiner Mutter nach oben. Das Mittagessen war schon aufgetragen. Er berührte es kaum, und es herrschte ein bedrücktes Schweigen während der Mahlzeit. Frau Auguste wußte nur zu gut, daß ihr Junge sich jetzt nicht mehr durch Redensarten würde beruhigen lassen.

[9] Nach Tisch wollte Harst sich zerstreuen, schritt im Gemüsegarten auf und ab und säuberte ein paar Rosenstöcke von Blattläusen. In dem Gärtnerhäuschen am hinteren hohen Holzzaun wohnte seit Jahren die kränkliche Witwe eines früheren Kutschers der Firma Emil Harst mit ihrem jetzt fünfzehnjährigen Jungen. Karl Malke hatte mit Harstschem Gelde das Gymnasium bis Quarta besucht. Doch er kam nicht vorwärts. Das Stillsitzen und Lernen haßte er. Jetzt pflegte er seine Mutter, besorgte allein den kleinen Haushalt und spielte bei Harsts Faktotum für alles. Der langaufgeschossene Junge mit dem altklugen Gesicht war ausgesprochen praktisch veranlagt und ein heller, findiger Kopf. Harst verehrte er, obwohl dieser den bei aller guten Charakterveranlagung recht abenteuerlustigen und unstäten Knaben häufig streng ins Gebet nahm, weil dieser noch immer für einen bestimmten Beruf sich nicht entschieden hatte, während ihm doch dank der Freigebigkeit Frau Augustes jede Laufbahn offen gestanden hätte.

Zwischen Harst und Karl Malke herrschte im übrigen ein vertraulicher Ton. Der Junge, der soeben das Unkraut aus den Frühbeeten entfernte, hatte Harst eine Weile beobachtet und sagte nun zögernd: „Herr Assessor, Ihnen muß irgend was passiert sein. Sie sind so unruhig.“

Harst trat neben den Jungen und sog den süßlichen Duft der aus dem Frühbeet noch nicht versetzten Heliotroppflanzen ein. – Heliotrop! Margas Lieblingsparfüm! – Und schon krampfte sich sein Herz in jäher Angst zusammen.

Dann antwortete er dem Jungen, erzählte ihm von seinen plötzlichen Sorgen. – Karl hatte eigentlich für Marga nicht viel übrig, da sie es gewesen, die seiner Mutter letztens dringend geraten hatte, eine Verwandte zu sich zu nehmen, damit der Junge irgendwo in die Lehre gegeben werden könnte. Und es hatte Karl viel Tränen gekostet und all seiner Überredungskünste bedurft, ehe die Mutter ihm zugesagt hatte, noch bis zum Herbst ihm diese goldene Freiheit zu belassen.

Jetzt aber fand er doch aufrichtig gemeinte Worte, die seine Teilnahme für seines verehrten Gönners Besorgnis um die Braut verrieten.

[10] Dann eine Stimme vom Wohnhause her, die der alten Malwine:

„Herr Harald – Herr Harald!“

Harst zuckte zusammen. Ein Etwas in diesem Ruf ließ ihn Schlimmes befürchten, irgend eine Nachricht über Margas Verbleib.

Malwines bleiches, verstörtes Gesicht sagte ihm genug. Er stürmte in sein Arbeitszimmer. Dort saß die Mutter im Schreibtischsessel mit tränenumflorten Augen.

„Mein – mein armer Junge!“ brachte sie nur mühsam hervor.

In ihrem Schoß lag der Telephonhörer mit der grünen Seidenschnur. Harst nahm ihn auf, meldete sich.

Sein Studienbekannter und Klubgenosse Kriminalkommissar von Perbram meldete sich.

Harst erblaßte. Ganz schonend teilte ihm Perbram das Furchtbare mit. Marga war vor einer halben Stunde in einer Laube des Laubengeländes an der Bahnstrecke Halensee-Heerstraße mit einer Stichwunde im Herzen tot, ermordet offenbar, aufgefunden worden.




[11]
2. Kapitel.
Das Taschentuch.

Harst jagte in einem Auto an den Tatort. Eine Reihe von Lauben mit sorgfältig gepflegten Gärtchen zog sich hier an der Bahn entlang. Nur die letzte Laube dicht am Rande des Grunewalds unweit des Bahnhofs Heerstraße war von dem Besitzer aufgegeben worden, sah verwahrlost aus und hatte nicht einmal mehr eine Tür. Es war nichts als eine Bretterbude mit dem nach hinten abfallendem Pappdach und einem großen Fenster.

Die Mordkommission war vor kaum zehn Minuten eingetroffen und hatte auch einen Polizeihund mitgebracht, der aber völlig versagte. Die Herren machten dem ihnen wohlbekannten Assessor bereitwilligst Platz. Höfliche, teilnehmende und herzliche Händedrücke nahm Harst mit völlig versteinertem Gesicht schweigend hin. Der Photograph hatte seinen Apparat gerade über der mitten in der Hütte liegenden Leiche aufgestellt. Als Harst die tote Marga erblickte, hörte er das leise Knacken des Objektivverschlusses. Das Geräusch empfand er wie einen körperlichen Schmerz. Es machte ihm klar, daß seine Braut jetzt nicht mehr sein eigen war. Sie gehörte der Kriminalpolizei; sie war – ein neuer Kriminalfall geworden.

Er schaute der geliebten Toten in das von einem Ausdruck furchtbaren Entsetzens entstellte Gesicht. Er schloß schnell [12] die Augen. Er merkte, wie alles um ihn herum sich zu drehen begann. Doch seine Willenskraft siegte. Dann sprach er mit dem Vorsitzenden der Mordkommission ganz sachlich über dieses in jeder Einzelheit rätselhafte Verbrechen.

Nichts war in der Laube gefunden worden, das irgendwie auf den Täter hingedeutet hätte, nicht einmal die Waffe, die wahrscheinlich ein langes Dolchmesser gewesen. Der Polizeihund hatte nur dreißig Schritt nach dem nahen Vorort Halensee zu eine Fährte aufgenommen. – Was hatte Marga Milden hierher geführt? – Das war eine der Hauptfragen. – Man konnte sie nur an diesen vormittags ganz einsamen Platz gelockt haben. Aber – wodurch? – Und dann das Motiv zu diesem Mord an einem jungen Weibe, die durch ihre gesellschaftliche Stellung und ihre Lebensgewohnheiten nie Gelegenheit gehabt hatte, sich die Rachsucht irgend eines Menschen zuzuziehen und deren ganzer Charakter ebenso sehr dagegen sprach, daß sie etwa sich auf irgend welche verhängnisvollen Abenteuer eingelassen haben könnte.

Gewiß – die Leiche war vollständig ausgeplündert worden. Ringe, Brosche, das goldene Handtäschchen mit Inhalt, – alles fehlte. Dennoch erklärte der Kriminalkommissar Stolten, der Spezialist für Kapitalverbrechen war, daß er an einen Raubmord nicht recht glaube. „Der Schmuck ist nur zur Verdunkelung der Tat mitgenommen worden, Herr Assessor,“ sagte er kurz. Er war für seine rücksichtslose Art bekannt. „Da ein Mord aus Rache wohl ausscheiden muß, bleibt nur verschmähte Liebe als Motiv übrig. An diesen Punkt müssen wir uns halten. Helfen Sie mir. Kennen Sie jemand, den Fräulein Milden als Freier abgewiesen hat?“

Harst verneinte. „Meine Braut hat vor mir keinen Bewerber gehabt. Sie war eine so zurückhaltende Natur, daß sie in Herrenkreisen wenig Anklang fand.“

Nachher fuhr Harst zu seinen Schwiegereltern. Diese waren durch den Verlust des einzigen Kindes gänzlich gebrochen. Die Präsidentin hatte man zu Bett bringen müssen. Gleich nach Harst traf Kommissar Stolten ein. – „Ich bitte mir zu gestatten, das Zimmer der jungen Dame zu durchsuchen,“ sagte er zu dem tief gebeugten Vater.

[13] Harst half ihm und dem Kriminalwachtmeister Salewski, einem der besten Beamten der Berliner Polizei, bei dieser Arbeit. In Margas behaglichem Zimmer packte ihn abermals für Sekunden ein namenloser Jammer, dem er zu erliegen drohte. Stolten sah den halb irren Blick seiner umflorten Augen, sagte leise: „Denken Sie an die Vergeltung, Herr Assessor! Das lenkt die Gedanken wohltätig ab!“

Das war das rechte Wort zur rechten Zeit. – Vergeltung! Marga sollte gerächt werden! – So war er denn jetzt der eifrigste bei dieser peinlich genauen Durchsuchung, der nichts entging, bei der jede Kleinigkeit sorgfältig geprüft wurde, besonders alles, was an Briefen und Schriftstücken vorhanden. Doch – auch diese zweistündige Arbeit war umsonst. Dann fragte Stolten den Präsidenten und die beiden Hausangestellten, die bejahrte Köchin Marie und das Stubenmädchen Helene, beide seit Jahren bei Mildens im Dienst und goldtreu, danach aus, ob Marga vielleicht in letzter Zeit oder gar heute früh von einer ihr fernstehenden Person oder in sonstwie auffälliger Art an den Fernsprecher gerufen worden wäre. Er betonte bei dieser zwanglosen Besprechung, der er alle Förmlichkeit nahm, um die beiden Mädchen nicht einzuschüchtern, daß hier jede, auch die unscheinbarste Beobachtung von großem Wert sein könnte.

Abermals nichts! Das Dunkel, in das dieser Mord gehüllt war, wurde nur noch undurchdringlicher. – Der Präsident Stolten und Harst vereinbarten nun, daß eine Belohnung von 20 000 Mark für die Ermittlung des Täters oder für sachdienliche Angaben ausgesetzt werden sollte.

Erst gegen sieben Uhr abends war Harst wieder daheim. Seine Mutter nahm die Hände ihres großen Jungen in die ihren und ließ sich erzählen, was er inzwischen getan hatte. Sie war eine einfache Frau geblieben, trotz des Millionenvermögens, war auch eine kluge Frau, soweit es auf Lebenserfahrungen und praktischen Blick ankam. Sie hätte es gern erreicht, daß ihres Sohnes ungeheurer Schmerz sich in Tränen Luft gemacht hätte. Diese Starrheit an ihm, diese unnatürliche Ruhe, mit der er von den Bemühungen der Polizei sprach, erschreckten sie.

[14] Harst fand keine Tränen. Jetzt nicht mehr, denn erst allmählich war er sich über die ganze Größe seines Verlustes klar geworden. Marga war die restlose Ergänzung seines eigenen Ichs gewesen. Mit ihr war jedes Interesse am Leben, an der Zukunft in ihm gestorben. –

Die Tage gingen hin. Marga Milden war längst beerdigt; der Mörder aber noch immer unentdeckt. So ungeheures Aufsehen dieses Verbrechen auch zunächst in der Reichshauptstadt erregt hatte, – nur zu bald drängte es der stetig neue Sensationen erzeugende Pulsschlag der Millionenstadt immer mehr in den Hintergrund. Trotzdem blieb der Eifer der Polizei und verschiedener Privatdetektive, die freiwillig der hohen Belohnung wegen sich der Sache angenommen hatten, noch eine Weile der gleiche. Doch: jedes Streben muß früher oder später erlahmen, wenn es auch nicht von dem geringsten Erfolg gekrönt wird. Und so war es hier. Nirgends der kleinste Hinweis auf den Täter, nirgends die Möglichkeit, ein Motiv für diese Ermordung eines jungen, harmlosen Weibes zu finden!

Harald Harsts Gemütszustand änderte sich nicht. Er hatte sich sofort auf längere Zeit von seiner Behörde beurlauben lassen, wollte später seinen Abschied einreichen und auf Reisen gehen. Die abwechselnden Eindrücke fremder Länder und Völker sollten ihm helfen, sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Frau Auguste hatte ihm dies geraten. Sie verzehrte sich in Sorge um den Sohn, der in stumpfem Brüten die Tage verbrachte und sich ganz von der Außenwelt abschloß. Sie hatte mit Kommissar Stolten hierüber gesprochen. Und dieser hatte ihr erklärt, er hätte gehofft, daß bei dem Herrn Assessor die Anregung, die er ihm gleich am Tage des Mordes durch den Hinweis auf die Vergeltung gegeben, etwas länger wirken und ihn veranlassen würde, selbst sich mit Ermittlungen zur Aufklärung des Verbrechens zu beschäftigen und auf diese Weise wohltuend seine schmerzlichen Gedanken abzulenken. „Freilich,“ hatte er hinzugefügt, „wo soll man in diesem Falle mit Ermittlungen beginnen?! Man muß doch wenigstens einen Ausgangspunkt dafür haben. Hier gibt es keinen.“ – Frau Harst nickte traurig. „Das hat mir mein Sohn [15] auch gesagt, Herr Kommissar. – Mutter, hat er zu mir gesagt, wenn ich irgendwo auch nur den Schimmer einer Spur sehen würde, die zu dem Mörder hinführen könnte, dann sollte die Welt es erleben, daß der Wunsch nach Vergeltung den Täter in meine Gewalt bringt! Doch – selbst dieser Schimmer einer Spur fehlt! Ich kann doch nicht zwecklos durch die Straßen laufen und auf einen blinden Zufall hoffen, der mich den Anfang einer Fährte entdecken läßt! Solche Zufälle sind doch zu selten.“ –

Frau Auguste drängte den Sohn immer wieder, abzureisen und zunächst nach Italien zu gehen. Inzwischen waren ja seit Margas Tod zwei Wochen verstrichen, ohne daß in Harald Harsts Seelenzustand auch nur die geringste Änderung eingetreten wäre. Vor- und nachmittags wanderte er auf den Kirchhof an das Grab der Geliebten. Nachmittags verbrachte er zumeist noch eine Stunde in ihrem Zimmer, in dem auf seinen Wunsch nicht das geringste geändert worden war. Dort saß er dann in dem Korbsessel am Fenster und grübelte regungslos vor sich hin. – So auch jetzt. Draußen lachte die Sonne. Aber in Harsts Seele war tiefste Nacht eines Schmerzes, den er nie verwinden würde. Er erhob sich schwerfällig, wollte noch für eine halbe Stunde mit seinen Schwiegereltern zusammensein, die seine Gegenwart als Trost empfanden. Beim Aufstehen schob er das nur aufgelegte Sitzkissen des Korbsessels nach vorn. Es fiel herab, und gleichzeitig auch ein zusammengeknülltes Taschentuch, das Harst[4] schon früher bemerkt hatte. Es war halb unter das Kissen von der Seite geklemmt gewesen. Er hatte es bisher nicht beachtet. Jetzt hob er es mit auf. Unwillkürlich führte er es an die Nase. Es mußte ja eines von Margas Tüchern sein, und er wollte den feinen Heliotropduft einatmen, der allen ihren Sachen ganz unaufdringlich anhaftete.

Plötzlich weiteten sich seine Augen. Sein Kopf fuhr hoch, und mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens breitete er das Tüchlein nun aus, sah es sich genauer an, stutzte wieder und schaute sinnend über die gegenüberliegenden Dächer hinweg in das endlose Blau des sonnendurchstrahlten Himmels.

Sein Gesicht veränderte sich langsam. Ein belebter Ausdruck [16] strich die feinen Falten hinweg, die die letzte Zeit um seinen Mund eingegraben hatte. Er verließ das Zimmer, schloß die Tür wie stets hinter sich ab, steckte den Schlüssel zu sich und ging in die Küche, wo das Stubenmädchen am Fenster silberne Löffel putzte. Er fragte Helene, ob Marga dieses Taschentuch gehöre oder ob es vielleicht Eigentum seiner Schwiegermutter sei. Das Mädchen verneinte. „So billiges Zeug besitze ich nicht mal, Herr Assessor,“ erklärte sie. „Es ist son Ding, nur fürs Ansehen berechnet. Und noch der häßliche rosa und hellblau gestreifte Rand!“ Sie nahm es und faltete es auseinander.

„Oh – das ist ja auch Patschuli-Parfüm! Wie zuwider war dieser Geruch dem gnädigen Fräulein! Ich weiß das nur –“ Sie stockte plötzlich und wurde rot und verlegen.

Harst wurde jetzt mit einem Schlage ein anderer, wurde wieder der, dessen scharfer Geist den Aufbau einer Anklageschrift zu einem übersichtlichen, mit den feinsten logischen Schlußfolgerungen ausgestatteten Kunstwerk gestaltet hatte. Das Taschentuch hatte ihn wach gerüttelt. Und des Mädchens verlegenes Rotwerden sagte ihm weiter, daß er hier vielleicht auf etwas gestoßen war, das mit Margas unerklärlicher Ermordung irgendwie im Zusammenhang stand, wenn auch in einem ganz lockeren.

Er blieb äußerlich jedoch ganz ruhig. Er durfte Helene nicht merken lassen, daß er diesem Tüchlein eine besondere Bedeutung beimaß. Sie war ein scheues, ängstliches Ding, und schon bei jenem zwanglosen Verhör durch Stolten hatte sie deutlich gezeigt, daß jeder Polizeibeamte für sie wie für viele Leute trotz des besten Gewissens ein Schrecknis war. Er glaubte bereits ziemlich bestimmt, daß sie über die Herkunft dieses Tüchleins irgend etwas wüßte, war aber auch ebenso überzeugt, daß sie aus irgend welchen Gründen ihn belügen würde, wenn er sie gerade heraus danach fragte. – „Das Tuch lag im Musikzimmer auf der Tastatur des Flügels unter dem Deckel,“ meinte er gleichgültig. „Sie haben ganz recht, Helene, – es ist billigste Schundware. – Habt ihr vielleicht in letzter Zeit eine Reinemachefrau im Hause gehabt. Der mag es dann gehören.“

[17] Bei der Erwähnung des Flügels hatte das Mädchen ihn so überrascht angesehen, wie dies nur jemand getan hätte, der genau Bescheid wußte, daß das Taschentuch gerade dort nicht vergessen sein konnte. – Harst war jedenfalls mit dem Erfolg dieses ersten Versuchs, Helene in die Enge zu treiben, ganz zufrieden. Als das Mädchen nun erklärte, Mildens nähmen nie Reinemachefrauen an, meinte er: „Wer mag es dann hier in der Wohnung nur zurückgelassen haben? Kennen Sie vielleicht die betreffende Person?“ – Sehr hastig verneinte Helene diese Frage, so hastig und so scheu zur Seite blickend, daß Harst ihr jetzt am liebsten zugerufen hätte: „Sie lügen ja!“ – Er hütete sich, es zu tun, sagte vielmehr: „Schließlich ist das ja auch gleichgültig.“ Dann fragte er noch nach dem Ergehen von Helenes Bräutigam, der unlängst in seiner pommerschen Heimat als Zimmerpolier an einem rostigen Nagel sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Dabei steckte er das Tuch ganz unauffällig zu sich.

Nachher nahm er ein Auto und fuhr nach dem Laboratorium des Gerichtschemiker Doktor Heiker. Dieser arbeitete noch an einer Blutuntersuchung. Harst kannte ihn seit längerem persönlich. Auf Heikers Schweigen konnte er sich verlassen. Er teilte ihm das Nötige mit, zeigte ihm das Tüchlein und erklärte weiter: „Ich fand es in einer Weise zerknüllt vor, daß ich vermute, es muß feucht – vielleicht von reichlich vergossenen Tränen – unter das Sitzkissen geschoben worden sein. Bitte, untersuchen Sie es, Herr Doktor. Tränen enthalten ja wohl außer salzigen noch andere kennzeichnende Bestandteile.“

Dann begab er sich heim. Vor der Gitterpforte des Vorgartens ging ein ärmlich gekleideter, älterer Mann mit dünnem, leicht ergrautem Vollbart auf und ab. Harsts Gedanken waren noch bei Helene Burg und dem Tüchlein. Sonst hätte er den Mann wohl schärfer gemustert. Er war schon an ihm vorüber, als eine leise Stimme ihn anrief: „Herr Assessor – einen Augenblick.“

Harst drehte sich um. Ein prüfendes Anschaun, dann: „Ah – also doch! Ich glaubte schon, Sie würden sich nicht mehr [18] sehen lassen, Max Schraut. – Sind Sie krank gewesen? Ihr Gesicht ist inzwischen ja der reine Totenkopf geworden.“

„Sehr krank, Herr Assessor. Ich bin erst heute früh aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo ich mit falschen Papieren wegen Lungenentzündung Aufnahme gefunden hatte. Ich habe deshalb auch der Beerdigung meiner Mutter nicht beiwohnen können. – Aber auch Sie sehen schlecht aus, Herr Assessor, – ganz verändert, ganz grau im Gesicht.“

Harst überlegte kurz. Dann forderte er den Taschendieb auf, mit in seine Wohnung zu kommen. Hier sagte er zu ihm: „Ich müßte Sie nun eigentlich der Polizeibehörde übergeben. Für die Gefängnisluft sind Sie jedoch noch zu elend. Sie sollten sich erst bei mir erholen, wo niemand Sie verraten wird. Ich stelle aber eine Bedingung. Meine Braut ist ermordet worden. Sie scheinen von diesem Verbrechen im Krankenhaus nichts gehört zu haben. Ich beabsichtigte, da der Täter bisher nicht entdeckt ist, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Sie und noch jemand, ein Knabe, sollen mir dabei helfen. – Wollen Sie’s tun?“

Komiker-Maxe begann vor Rührung zu weinen. „Ob ich will! Natürlich! – Herr Assessor, Sie sollen an mir einen treuen Gehilfen haben. Ich bin noch nicht so tief gesunken, um einem Manne wie Ihnen gegenüber undankbar zu sein.“

Max Schraut bezog eins der unbenutzten Erdgeschoßzimmer. Bereits nach einer Stunde fand dort zwischen ihm, Harst und Karl Malke eine längere Besprechung statt. Und noch an demselben Abend übernahm eine Berufspflegerin, die Harst bezahlte, die Wartung der kränklichen Witwe des früheren Kutschers.




[19]
3. Kapitel.
Das zweite Verbrechen.

Frau Auguste Harst konnte an diesem Abend sich gar nicht genug über die plötzliche Veränderung wundern, die mit ihrem geliebten großen Jungen vor sich gegangen war. Dann erfuhr sie nach dem Abendessen den Grund. Harald erzählte ihr alles, was der heutige Nachmittag ihm gebracht hatte und was er nun weiter plante.

Sie drückte seine Hände. „Recht so, mein Junge, recht so! Nun wirst du wieder aufleben – Gott sei Dank!“

Ja – Harst lebte sehr schnell wieder auf. Am folgenden Vormittag erschien er bei Mildens. Sein Benehmen freilich ließ nicht erkennen, daß er mit fieberhaftem Eifer eine schwache Fährte weiterzuverfolgen sich bemühte. Er schien abermals nur in Margas Zimmer eine Weile seinen schmerzlichen Gedanken nachhängen zu wollen. Er schloß sich ein und begann dann sofort nochmals den zweifenstrigen Raum zu durchsuchen. Damals hatte Kommissar Stolten ja auch jenes buntgeränderte Tüchlein in der Hand gehabt und es als wertlos wieder unter das Sitzkissen an dieselbe Stelle geschoben. Hatte er das Taschentuch auf diese Weise unbeachtet gelassen, konnte ein gleiches leicht auch mit anderen Dingen geschehen sein.

[20] Harst suchte geduldig und mit jener kühlen, klaren Überlegung, die ihm vor Margas Verlust stets zu eigen gewesen. Den kleinen, modernen Damenschreibtisch nahm er zuletzt vor. In der Schublade unter der Platte lagen seine Briefe, die er an Marga geschrieben, obwohl sie sich fast täglich gesehen hatten. Daneben stand eine elegante Stahlkassette, in der der Schlüssel noch von der ersten Durchsuchung steckte. Darin befand sich unter anderem Margas Sparkassenbuch. Harst besichtigte es. Auch Stolten hatte dies getan und es wieder weggelegt. Harst prüfte die Abhebungen jetzt wie alles hier mit kritischem Geist. Dann steckte er das Buch zu sich. Sonst aber fand auch er nichts weiter, das ihm beachtenswert erschienen wäre. Er ging nun zu seiner Schwiegermutter hinüber, brachte das Gespräch unauffällig auf Margas bescheidene Geldbedürfnisse und fragte, ob sie in letzter Zeit wohl größere Ausgaben gehabt hätte. Die Präsidentin verneinte. „Im Gegenteil – eigentlich war sie seit ihrer Verlobung noch sparsamer. Sie wollte, wie sie sagte, doch wenigstens ein paar Pfennige Mitgift Dir mit einbringen, lieber Harald, da wir ja nur die Aussteuer geben konnten.“

Harst verabschiedete sich bald und ging nach der Nebenstelle der Städtischen Sparkasse, nahm den betreffenden Beamten beiseite und fragte, ob diesem Fräulein Marga Milden vielleicht von Ansehen bekannt sei. Der Beamte nickte eifrig. „Sehr gut sogar. Die junge Dame brachte häufig kleinere Beträge. Wir alle hier von der Nebenstelle haben ihren Tod aufrichtig bedauert. Noch am Tage vor ihrer Ermordung hat sie fünfhundert Mark abgehoben.“

„Ja – und zehn Tage vorher vierhundert Mark. – Ich bin ihr Verlobter, Assessor Harst. –Ich danke Ihnen für die Auskunft.“

Harst fuhr weiter zum Polizeipräsidium. Stolten war nicht anwesend, aber Wachtmeister Salewski konnte ihm den Bescheid geben, daß bisher von den Marga geraubten Schmuckstücken nichts bei Händlern oder Hehlern aufgetaucht wäre. Als sie noch miteinander sprachen, trat Stolten ein. Er kam von einem „neuen Fall“. An der Jannowitzbrücke hatte man eine weibliche Leiche aufgefischt, die schon längere Zeit im [21] Wasser gelegen haben mußte und deren Schädeldecke durch Hammerschläge zertrümmert worden war, während das Gesicht – fraglos von dem Mörder – durch Messerschnitte vollständig unkenntlich gemacht worden war. – „Abermals eine ziemlich aussichtslose Sache,“ meinte Stolten mißgestimmt. „Nichts ist an der Leiche vorhanden, das eine Rekognoszierung erleichtert. Aus der Wäsche sind sogar die Monogramme herausgeschnitten worden.“ Er faßte in die Brusttasche und holte ein in Zeitungspapier gehülltes flaches Päckchen heraus und warf es auf den Tisch. „Nur ein Taschentuch fand ich bei der Toten, die noch jung gewesen sein muß und deren Kleidung billigster Tand ist.“

Harst griff nach dem Päckchen mit einem „Sie gestatten doch“, wickelte das noch feuchte Tüchlein aus und sagte dann, nachdem er es berochen hatte: „Wie lange gerade Patschuli selbst im Wasser seine Duftkraft bewahrt!“

„Stimmt!“ meinte Stolten. „Auch die Seidenbluse der Ermordeten hat den Geruch noch festgehalten.“

Harst hatte alle Mühe, seine Erregung zu verbergen.

„Die Tote bleibt doch noch einige Zeit im Schauhause?“ fragte er nun. „Ich möchte sie mir ansehen. Seit dem Morde an meiner Braut interessieren mich alle Kapitalverbrechen.“ Dann verließ er das Präsidium.

Stolten sagte kopfschüttelnd zu Salewski: „Merkwürdig! Bisher habe ich nichts davon bemerkt, daß Harst für Morde größeres Interesse hat. Nun – mag er! Für den armen Menschen wär’s ganz gut, wenn er sich bemühte, sein Unglück zu vergessen.“ –

Harald Harst begab sich zu Doktor Heiker. Dieser begrüßte ihn sofort mit den Worten: „Ihre Vermutung trifft zu. Das Taschentuch muß von Tränen ganz durchweicht gewesen sein. Außerdem befindet sich darauf am Rande ein Fleck von roter Fettschminke.“

Harst dankte, zahlte vierzig Mark und kehrte, das von ihm leicht angefeuchtete Tüchlein in der äußeren Jackentasche, nach dem Präsidium zurück. Stolten war noch mit dem Bericht über den neuesten Fall beschäftigt. Das bei der Wasserleiche gefunden Tuch lag neben ihm auf dem Schreibtisch. Harst [22] fragte, ob Stolten es für zweckdienlich hielte, nochmals eine große Anzeige unter Hervorhebung der Belohnung von 20 000 Mark in die Zeitungen einzurücken. Der Kommissar meinte, schaden könnte es nichts, obwohl er die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hätte, daß der Mord an Marga Milden jemals aufgeklärt werden würde. Harst nahm das Tüchlein vom Tisch und besichtigte es, hielt es auch gegen das Licht und sagte so nebenbei:

„Die Ermordete scheint Schminke benutzt zu haben. Ich sehe hier einen rötlichen Schimmer in der einen Ecke.“

„Ganz recht, Herr Assessor. Es wird Schminke sein. Die Tote war ja auch wie eine Theaterprinzessin fünften Ranges gekleidet – alles Schein und Schund!“

Harst entschuldigte sich, abermals gestört zu haben, und fuhr mit der Ringbahn bis Schmargendorf. Er hätte „sein“ Tüchlein, das dem andern ja völlig glich, leicht gegen dieses bei Stolten vertauschen können. Er hatte es auch beabsichtigt, um das andere bei Doktor Heiker gleichfalls auf Spuren von Fettschminke untersuchen zu lassen, aber es war dann nicht mehr nötig gewesen. Er hatte ja selbst die rötliche Stelle in der einen Ecke bemerkt.

Seit Wochen spielte jetzt wieder einmal ein leises Lächeln um Harald Harsts Lippen. Es war ein Lächeln voller Zufriedenheit mit dem, was er bisher erreicht hatte.

In dem alten Hause in der Blücherstraße empfing ihn die Mutter mit der Mitteilung, der Schauspieler hätte bereits zweimal vor kurzem Harald am Telephon verlangt. „Du sollst diese Nummer hier anrufen. Ich habe sie mir aufgeschrieben, mein Junge,“ fügte sie hinzu.

Harst hatte den Komiker-Maxe, den er seiner Mutter als harmlose Zufallsbekanntschaft vorgestellt hatte, denn vor einem Taschendieb und Ausbrecher hätte selbst das mitleidige Herz Frau Augustens wohl gestreikt, sehr bald am Apparat.

„Sie ist mit Koffer, Karton, Hutschachtel und zwei Schirmen um elf Uhr von M’s direkt nach dem Stettiner Bahnhof mit der Straßenbahn gefahren,“ meldete Schraut. „Dann hat sie eine Fahrkarte nach Pasewalk gelöst und sitzt nun im Wartesaal, da ihr Zug erst zwei Uhr dreißig abgeht.“

[23] Harst hätte diese Nachricht nie vermutet. Also Helene Burg machte sich aus dem Staube! – Er hatte sie durch Schraut und den Jungen abwechselnd bewachen lassen, um dahinter zu kommen, mit wem sie verkehrte. Und nun reiste sie ganz plötzlich ab, nachdem er gerade kurz vorher Margas Zimmer durchsucht hatte! Ob er dabei etwa von ihr durch das Schlüsselloch beobachtet worden war? Möglich war’s schon! Er hätte das Schlüsselloch verhängen sollen. Nun – diese plötzliche Fahrt nach ihrer Heimatstadt, wo ja auch ihr Verlobter wohnte, war vielsagend genug.

Harst erteilte Schraut nun den Bescheid, er würde ihm seinen eigenen kleinen Koffer und eine größere Geldsumme durch Karl nach dem Stettiner Bahnhof schicken. „Bleiben Sie ihr also auf den Fersen, Schraut! Und sobald Sie etwas Wichtiges festgestellt haben, sofortige Nachricht durch Ferngespräch. – Auf Wiedersehen – guten Erfolg!“

Dann rief er die Präsidentin an. – „Liebe Mama, eure Helene wollte mir die Adresse einer guten Handschuhwäscherin geben –“ – – „Schade, lieber Harald. Sie ist vor anderthalb Stunden auf eine Depesche hin, daß es ihrem Verlobten schlechter ginge, nach Pasewalk Hals über Kopf abgereist. Ich habe den Eindruck, daß sie nicht mehr zu uns zurück will, und werde mich daher leider nach Ersatz umsehen müssen.“ – „Hat sie Dir die Depesche gezeigt?“ – „Nein. – Und – merkwürdig! – Vorhin vertraute mir Marie an, daß sie dieses Telegramm für lediglich erfunden hielte. Du scheinst ja auch diesen Verdacht zu hegen.“ – „Vielleicht, Mama. – Wiedersehen.“

Frau Auguste Harst hatte all dies mitangehört und meinte nun ganz verwirrt:

„Junge, hältst du etwa das Stubenmädchen für – für die Mörderin?“

„Aber Mutter! – Ausgeschlossen! Ich sage Dir schon zur rechten Zeit, wer mir mein Lebensglück vernichtet hat und – wen ich vernichten werde!“

Frau Harst eilte nach oben in die Küche an den geliebten Kochherd. Harald ging langsam in seine Bibliothek hinüber. Hier hing an der Wand ein Haustelephon, das nach dem Gärtnerhäuschen [24] führte. Er bestellte den Jungen zu sich. – Karl Malke sah heute wie ein junger Geck aus. Harst schenkte ihm stets seine meist noch tadellosen Sachen, die ein gefälliger Onkel Schneidermeister dem langen, dünnen Burschen dann umarbeitete.

Der Junge war natürlich Feuer und Flamme für sein „neuestes Metier“, wie er sich vornehm ausdrückte. Er durfte Detektiv spielen, – kein Wunder, daß ihm dies zusagte! – Zehn Minuten später verließ er eiligst das Haus, fuhr stolz im Auto nach dem Stettiner Bahnhof und traf hier mit Komiker-Maxe zusammen, der noch seine Verkleidung als älterer, einfacher Mann trug.

„Ich beneide Sie, Herr Schraut,“ meinte der Junge ehrlich. „Ich möchte für mein Leben gern an Ihrer Stelle nach Pasewalk fahren. Es wird dort mächtig interessant werden. Wissen Sie, ich denk’ mir, der Herr Assessor hat den Bräutigam im Verdacht –“

„Abwarten, Karl – Unser Auftraggeber wird im übrigen wohl auch hier noch für Dich lohnende Arbeit finden.“

Karl verabschiedete sich. „Unsre Pflegerin bäckt heute zu Mittag Kartoffelpuffer. Da muß ich zur Zeit zurück sein. Kalt sind die Dinger wie Leder. – Na – alles Gute, Herr Schraut!“

Er schritt dem Ausgang der Vorhalle zu. Dann kam ihm der Gedanke, sich doch noch schnell mal von ferne die im Wartesaal sitzende Helene Burg anzusehen. Er machte kehrt. Oben in der Halle vor den Bahnsteigen blieb er jedoch plötzlich stehen und trat dann hinter den Zeitungskiosk. Er hatte Schraut bemerkt, der im Gespräch mit einem sehr großen, hageren, elegant gekleideten Herrn vor der Tür des Waschraumes stand. Harst hatte ihm nun im Vertrauen mitgeteilt, daß der ehemalige Schauspieler von der Polizei gesucht würde und daß daher niemand etwas von dessen Anwesenheit im Hause erfahren dürfte. Karl hegte aus demselben Grunde ein gelindes Mißtrauen gegen Komiker-Maxe, der doch wohl verschiedenes auf dem Kerbholz haben mußte. Als er ihn nun in so eifriger Unterhaltung mit dem langen Hageren sah, regte sich in ihm sofort der Wunsch, hier mal auch ohne Auftrag handelnd aufzutreten. [25] Er wartete also, bis die beiden sich mit einem Händedruck trennten, und schlich dem Hageren dann nach. Dieser schlenderte der Friedrichstraße zu und stellte sich hier vor ein von Passanten dicht belagertes Schaufenster, in dem als Reklame für ein Spielwarengeschäft mechanische Puppen allerhand Künste zeigten. Der aufgeweckte Junge ließ kein Auge von dem Zylinder-Onkel, wie er ihn bereits getauft hatte, da der Lange eine glänzende Angströhre, dazu auch noch Monokel trug. Karl betrachtete ihn nun sehr genau aus nächster Nähe. Der Hagere hatte ein gelbliches, schmales Gesicht, aufgedrehten schwarzen Schnurrbart und sehr starke schwarze Augenbrauen. Er sah ganz wie ein Italiener aus – nach des Jungen Ansicht.

Dann beobachtete er etwas, das er noch nie in seinem Leben mitangesehen hatte. Nur gelesen hatte er darüber in Zeitungen und Büchern. Doch nun konnte er sich selbst davon überzeugen, daß es wirklich solche Leute mit so unheimlicher Fingerfertigkeit gab.

Sein Ehrgeiz aber wurde noch reger. Er mußte unbedingt herausbekommen, wo dieser lange Zylinder-Onkel wohnte, denn er wollte Harst keine halben Neuigkeiten überbringen. Mochten die Kartoffelpuffer auch kalt werden! –

Harst wunderte sich, daß Karl noch immer nicht zurück war. Die Uhr ging nun bereits auf vier. Er saß jetzt an dem im Bibliothekszimmer stehenden Stutzflügel und spielte Wagner – den Fliegenden Holländer –, wenn auch nur mit leisem Anschlag. Er liebte die Musik, und er besaß ein Gehör, das ihm gestattete, alles auswendig zu spielen. Seit Margas Ermordung berührte er heute die Tasten wieder zum ersten Mal. Vordem hatte er stets am Flügel phantasiert, wenn er eine besonders schwere berufliche Arbeit vorhatte. Niemals flogen ihm bessere, klarere Gedanken zu, als wenn seine Ohren von einer Flut von Tönen umrauscht wurden. Es war, als ob die Töne Brücken bauten von einer Schlußfolgerung zur anderen.

Er spielte – und sein Denken umspielte die bisherigen Erfolge seiner Nachforschungen.

Plötzlich stand er auf. – Er mußte herausbringen, wer [26] die unkenntlich gemachte Tote war, – diese herausgeputzte Frau, die ein Taschentuch bei sich getragen, das dem auf dem Korbsessel in allem glich: Stoff, bunter Rand, Patschuligeruch und rote Fettschminke-Flecken! – Er mußte es herausbringen, koste es, was es wolle. Geld – davon besaß er ja übergenug.

Es klopfte an der Tür nach dem Flur. – Endlich – es war Karl Malke. Harst sah ihm sofort an, daß er besondere Nachrichten mitbrächte.

„Setz’ dich! Lege los! Du bist vollgepfropft mit Neuigkeiten,“ meinte er freundlich.

„Merken Sie mir das denn an, Herr Assessor? – Ne – hab’n Sie ’n Blick! – Es stimmt nämlich!“ Und er erzählte, daß der Hagere vor dem Schaufenster einer Dame aus der Handtasche die Börse herausgefischt und daß jener darauf bei Kempinski zu Mittag gegessen hätte. „Ein Glück, daß ich so ne anständige Kluft habe. Sonst hätten sie mich bei Kempinski nich reingelassen. Ich habe dort auch gegessen. Von den zwanzig Mark zu Auslagen, die Sie mir gaben, ist nun nicht mehr viel übrig, denn nachher ging der Lange noch ins Tauentzien-Cafee, dann schließlich nach Hause. Er wohnt Kantstraße 5, drei Treppen in einem Pensionat. Ich hab’ aus dem Sohn vom Hauswart dort auch den Namen rausgelockt? Violinenkünstler Arpad Czigan. – Ein netter Violinenkünstler! Taschendieb ist er – nischt weiter!“

„Du hättest Dir diese Mühe sparen können, Junge,“ meinte Harst. „Trotzdem, wenn du wieder mal zu solchen Feststellungen Gelegenheit hast, spiele nur abermals den heimlichen Verfolger, – zur Übung! – Den Rest von den zwanzig Mark behalte. Hier hast Du weitere Fünfzig für notwendige Auslagen.“

Karl schob etwas enttäuscht ab. Er hatte gehofft, Harst[5] würde den Hageren von ihm beobachten lassen. Er bedauerte, jetzt wieder „ohne Arbeit“ zu sein. Das Abenteuer heute hatte ihm so viel Spaß gemacht, wenn ihn auch die Kellner so merkwürdig lächelnd bei Kempinski und im Tauentzien betrachtet hatten.




[27]
4. Kapitel.
Nächtliche Streife.

Harst saß wieder am Flügel. Er spielte jetzt Beethoven. Dabei überlegte er, ob er sich mit diesem Arpad Czigan, der ihm nach des Jungen Beschreibung ein völlig Fremder war, näher beschäftigen solle. Dann sagte er sich, daß es in keinem Falle etwas schaden könnte, wenn er sich diesen „Künstler“ selbst einmal ansehen würde, zumal er sich ohnedies für verpflichtet hielt, bei der Kriminalpolizei den Taschendieb anzuzeigen. Da er annehmen konnte, daß der Gauner den gegen Abend wieder lebhafter werdenden Straßenverkehr für sein nur in dichten Menschenmassen auszuübendes Gewerbe ausnutzen würde, schrieb er zunächst an Stolten einen Rohrpostbrief und erklärte darin, aus eigener Tasche eine Belohnung von 5000 Mark dem zuzusichern, der über die verstümmelte Tote nähere Angaben liefern könnte. – Dann fuhr er nach der Kantstraße, kaufte sich dort bei einem Optiker zur Vorsicht eine Sonnenbrille mit grauen Gläsern, um sich für alle Fälle wenigstens etwas unkenntlich zu machen. Es war dies sein erster Versuch auf dem Gebiete der Verkleidungskunst. Es blieb nicht der letzte. Später, als er auch hierin Besseres als der beste Schauspieler leistete, belächelte Harst noch oft diese harmlose graue Brille.

[28] Kantstraße 5 schräg gegenüber lag eine Buchhandlung. Dort vor dem Schaufenster längere Zeit die Bücherschätze sich anzusehen, konnte kaum auffallen. Harsts Geduld wurde auf eine schlimme Probe gestellt. Erst kurz vor sieben Uhr abends verließ ein Herr, auf den Karls Beschreibung in jeder Einzelheit paßte, das Haus. Im Menschenstrom der Tauentzienstraße, in dem der Hagere nun verschwand, gelang es Harst sehr bald, ihn sich genauer und aus der Nähe anzusehen. Sein Personengedächtnis und seine Fähigkeit, selbst anders zurechtgestutzte Gesichter schnell zu erkennen, bewährte sich auch jetzt wieder.

Arpad Czigan, dachte Harst, du warst früher blond, hattest einen Spitzbart und starke blonde Augenbrauen. Aber ein Taschendieb warst Du auch als Paul Menkwitz, nebenbei auch noch Einbrecher, doch stets ein sehr eleganter. Fraglos hast du auf dem Stettiner Bahnhof Deinen Zunftgenossen Komiker-Maxe wiedererkannt und angesprochen, denn umgekehrt wär’s kaum geschehen. Ich glaube nicht, daß Schraut sich über die Begegnung mit Dir gefreut hat, – genau so wenig, wie Du bei meinem Anblick in Entzücken geraten würdest.

So dachte Harst und hielt sich nun in größerer Entfernung hinter dem „Künstler“. Vielleicht gelang es ihm, Paul Menkwitz alias Monokel-Paul bei einer neuen Fingerfertigkeit zu ertappen. Ein weitergehendes Interesse hatte er nicht an dessen Person. Aber er hatte zur Zeit nichts Besseres vor, und nur deshalb gab er diese Beobachtung des eleganten Spitzbuben noch nicht auf. Sehr bald sprach ihn dann jedoch ein Bekannter an, der gleich ihm Mitglied des Universum-Klubs war, einer Vereinigung, die neben der Pflege der Geselligkeit auch wissenschaftliche Vorträge auf allen Gebieten eine verfeinerte geistige Kost bot. Harst sah gerade noch, daß Monokel-Paul den Laden des Juweliers Birnbacher betrat.

„Lieber Harst, haben Sie kranke Augen?“ meinte der Kommerzienrat Kammler und drückte ihm herzlich die Hand. „Ich hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt. Die Brille entstellt Sie sehr.“

„Nur eine ganz leichte Bindehautentzündung.“

[29] Sie schritten zusammen weiter.

„Harst, Sie sollten sich mal wieder im Klub sehen lassen,“ sagte der noch recht stattliche Großkaufmann und schob seinen Arm vertraulich in den des Assessors. „Gewiß, Sie haben Trauer. Aber die Vortragsabende versäumen Sie nicht. Heute abend spricht unser Kriminalist von Perbram – er ist ja wohl ein Schulfreund von Ihnen – über „Moderne Verbrecherjagd“. Das muß Sie als Assessor bei der Staatsanwaltschaft doch auch interessieren.“

Harst erklärte, er würde sich den Vortrag vielleicht anhören. – Dann kam der Kommerzienrat auf Margas Tod zu sprechen. „Wenn die Polizei doch nur Erfolg hätte und den Mörder erwischte,“ meinte er.

„Ich habe wenig Hoffnung. Vielleicht gelingt es einem Privat- oder einem Liebhaberdetektiv, der sich ausschließlich mit dem einen Fall beschäftigt.“

„Lassen Sie mich mit der ganzen Detektivspielerei in Ruhe!“ meinte Kammler geringschätzig. „Die Erfolge solcher Leute möchte ich mal sehen! Ich bitte Sie: wo die mit tausend Hilfsmitteln arbeitende Polizei nichts erreicht, kann doch ein Privatmann erst recht nichts ausrichten! Ich ließe gern eine runde Million springen, wenn mir jemand so ’n Wundertier mal zeigt, das zum Beispiel imstande wäre, Ihre arme Braut zu rächen. Jede Wette gehe ich ein: nur die Polizei fängt den Täter, falls er überhaupt zu fangen ist!“

„Wette – hm?! Vielleicht würde sich’s lohnen,“ sagte Harst sinnend.

Gleich darauf trennten sie sich. Kammler hatte es wie immer sehr eilig. Er war Junggeselle, schwerreich und alles in allem ein Original.

Juwelier Birnbacher wollte gerade den Laden schließen, als Harst noch Einlaß begehrte. Einen so guten Kunden wie den Assessor durfte man nicht abweisen. Birnbacher verriegelte hinter ihm die Tür und zog die Vorhänge zu.

„Herr Birnbacher,“ begann Harst, „Sie könnten mir einen Gefallen tun. Soeben muß ein Herr hier bei Ihnen gewesen sein – groß, hager, Zylinder, Monokel, Perle in der Krawatte.“ – Der Juwelier nickte. – „Würden Sie mir vielleicht [30] sagen, was dieser Herr gewollt hat?“ fragte Harst[6] weiter. „Ich nehme an, er wird Ihnen etwas zum Kauf angeboten haben.“

Birnbacher nickte wieder. „Halb und halb trifft’s zu, Herr Assessor. Er wollte etwas repariert haben. Als ich ihm dann jedoch erklärte, die Reparatur lohne kaum mehr, da sie sehr teuer werden würde, wurden wir schnell über den Verkauf handelseinig.“

„Und – was für ein Gegenstand war’s?“

Der Juwelier zog eine Schublade unter dem Verkaufstisch und legte das Betreffende auf eins der sammetbespannten Brettchen.

Harald Harst griff danach. Birnbacher sah, daß der Assessor für einen Augenblick die Farbe wechselte. Dann sagte Harst schon: „Was verlangen Sie dafür?“

Als der Assessor nun den Laden wieder verließ, hatte der Juwelier zweihundert Mark verdient. Daß Harst von ihm strengstes Stillschweigen über dieses gute Geschäft verlangt hatte, bewies ihm, daß mit dem langen Hageren irgend etwas nicht ganz in Ordnung war.

Harst stieg in der Tauentzienstraße in eine leere Taxameter-Droschke. Er hätte auch ein Auto bekommen können. Aber die langsamere Gangart der Droschke war ihm jetzt angenehmer. Sein Inneres war in einem Aufruhr wie nie zuvor. Niemals hätte er geglaubt, daß man gerade als Detektiv bei der Verfolgung einer zunächst recht unsicheren Fährte Minuten eines so alle anderen Empfindungen verdrängenden Triumphs durchkosten könnte.

Er zwang sich zur Ruhe. – Marga, Du wirst gerächt werden, dachte er. Noch schweben all diese Fäden, die ich gefunden habe, frei in der Luft. Aber ich halte sie bereits an dem einen Ende, und vielleicht kann ich sie sehr bald zu einem festen Gespinst vereinen, in dem dann eine mordgierige Wespe sich zu Tode zappeln wird. –

Die Wagenfahrt tat ihm wohl. Seine Gedanken eilten jetzt voraus zu seinen Schwiegereltern. Es würde nicht ganz einfach sein, von diesen unauffällig die Auskünfte zu erlangen, die er haben mußte. Er wollte Mildens noch nicht in seine [31] Absichten einweihen, obwohl er kaum mehr mit einem Fehlschlag rechnete.

Er fand dann nur die Präsidentin vor. Doch das war ihm lieb. Er begann vom Wetter zu sprechen, erzählte dann, er hätte soeben einen Bekannten getroffen, der leider im Leben gestrauchelt sei. – „Es ist doch recht schmerzlich, wenn man sieht, wie ein Mensch, der einmal zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, immer tiefer von Stufe zu Stufe sinkt,“ meinte er und redete all das zu einem bestimmten Zweck. „Ich kann solchen Leuten gegenüber nie hart sein, wenn sie mich anbetteln. Ein anderer hätte diese fragwürdige Bekanntschaft verleugnet und wäre weitergegangen. Ich bringe so etwas nicht fertig. Ich glaube, Marga glich mir auch in dieser Art von Mitgefühl, liebe Mama.“

Er wartete gespannt auf die Wirkung dieses letzten Satzes. – Da, – die Präsidentin neigte ein wenig den Kopf, seufzte leise und meinte: „Marga ging in dieser Beziehung sogar etwas zu weit, lieber Harald. Wenn Du als Mann mit einer solchen fragwürdigen Erscheinung zusammengesehen wirst, macht das nicht viel aus. Aber ein junges Mädchen, das aus guter Familie stammt, hat mehr Rücksichten zu nehmen.“

„Das klingt ja fast, als hätte Marga Euch gelegentlich durch ihr allzu weiches Herz kompromittiert, Mama –“

„So ist es auch gewesen, Harald. Eine Pensionsfreundin von ihr ist später auf Abwege geraten – durch Genußsucht, Leichtsinn, Arbeitsscheu. Marga hatte gerade dieses Mädchen fast schwärmerisch während des Pensionsjahres in Gotha geliebt. Jene Claire Ruckser war Waise. Ihr Vermögen hat sie auf Reisen mit einem Abenteurer durchgebracht. Dann tauchte sie hier in Berlin auf, drängte sich an Marga heran, bettelte sie an. Marga ist einmal mit dieser auffällig gekleideten Person auf der Straße von Exzellenz von Winterstein gesehen worden. Oh – das gab dann eine böse Szene hier. Mein Mann war empört.“

„Das liegt wohl längere Zeit zurück, liebe Mama?“

„Nur drei Wochen, Harald.“

Harst erinnerte sich jetzt, daß Marga ihm einst in ihrem Photographiealbum das Bild einer ihrer Pensionsschwestern [32] gezeigt und dabei geäußert hatte: „Ein armes, unglückliches Geschöpf!“ – Er hatte damals jedoch weiter kein Interesse für jenes Bild und jenes Mädchen gehabt.

Er lenkte jetzt das Gespräch auf andere Dinge. Nachher ging er in Margas Zimmer hinüber und suchte sich aus den vielen Bildern des Albums dasjenige heraus, auf dem auf der Rückseite stand: „In ewiger, innigster Liebe – Deine Claire. Gotha, Weihnachten 19…“ – Er steckte es zu sich und fuhr nach Hause.

Frau Auguste wunderte sich, daß er beim Abendbrot so schweigsam war.

„Hast du eine Enttäuschung bei Deinen Nachforschungen erlebt, mein Junge?“ fragte sie nach einer Weile.

Da glitt ein kurzes Aufleuchten über sein Gesicht. „Im Gegenteil, Mutter, – im Gegenteil! – Frage jetzt aber nicht nach Einzelheiten. – Ich bin nur nachdenklich, weil ich mich scheue, jene Lokale zu besuchen, in denen die Berliner Lebewelt dritter und vierter Güte sich trifft. Und doch werde ich’s tun müssen. Es geht nicht anders. Auch Karl wird wieder helfen müssen. Für mich allein ist die Arbeit zu umfangreich.“

Sofort regte sich in dem treuen Mutterherzen die Angst um das Leben ihres Einzigen. „Harald, Harald,“ warnte sie ernst, „laß Dich nur um Himmels willen nicht auf gefährliche Abenteuer ein! Ich weiß ja nicht, was Du eigentlich vorhast, aber – sei vorsichtig, ich bitte Dich!“

Harst streichelte ihre Hand. „Keine Sorge! Das, was mich in jene Lokale führt, ist ganz gefahrlos.“

Nach dem Abendessen bestellte er den Jungen zu sich und hatte eine lange Unterredung mit ihm, bei der er ihm das Bild Claire Rucksers zeigte und ihn auf die etwas starke Stupsnase, die großen Augen und die auffallend kurze Oberlippe aufmerksam machte.

Karl war begeistert. „Herr Assessor, Sie sollen sehen: Ich bring’s heraus! Ich bin doch helle!“

„Vermeide jedoch jedes unnötige Aufsehen, Junge. Und vergiß nicht: sobald Du den langen Hageren irgendwo bemerkst, sei besonders vorsichtig.“ –

In den Ballsälen des Nordens in der Chausseestraße [33] wurde gerade ein moderner Wackeltanz von der Hauskapelle gespielt, als Karl den strahlend hell erleuchteten Saal betrat. Oben zwischen dem Kristallkronleuchter schwamm der Tabakrauch in dichten Wolken. Die Luft war erfüllt von Bier- und Weindünsten und einem Gemisch aller möglichen Wohlgerüche. Einige sechzig Paare schoben sich bald nach dem Takte der Musik über das gewachste Parkett hin.

Der Junge in seinem vielfach geflickten Anzug mit dem umgehängten Korb voller Rosen sah ganz wie einer jener Blumenverkäufer aus, die unter dem Deckmantel eines armseligen Gewerbes doch nur Bettelei betreiben und gerade an diesen Stätten der Genußsucht und falscher Eleganz die besten Geschäfte machen. Nirgend fliegt das Geld ja leichter von Hand zu Hand als gerade hier.

Karl schlich mit demütigem Gesicht von Tisch zu Tisch, bot seine Rosen an und wußte die geschminkte Weiblichkeit durch starke Schmeicheleien stets für sich einzunehmen. An jedem Tisch fand er mindestens eine Gönnerin, an die er sich dann stets leise mit derselben Frage wandte: „Kennen Sie vielleicht die Claire Ruckser? – Ein feiner Kavalier will sie gleich im Cafee Steuer sprechen.“ – Dieses Verslein hatte er nun schon unzählige Male hergeleiert, und immer hatte dann die Gönnerin den anderen am Tisch Sitzenden zugerufen: „Wer von euch kennt eine Claire Ruckser?“ – Bereits das fünfte Nachtlokal klapperte Karl nun schon auf diese Weise ab. Bisher ohne Erfolg. Harst hatte die heute Nacht zu besuchenden Tanzstätten und größeren Bars zwischen sich und dem Jungen verteilt und je einen Treffpunkt für 12 Uhr nachts und für 2 Uhr morgens mit ihm vereinbart.

Er selbst hatte sich gegen zehn Uhr abends zunächst in ein Konzertcafee der oberen Friedrichstraße begeben. Hier forschte er sehr geschickt die Kellner aus, denen ja die Stammgäste in dieser Art von Lokalen zumeist mit Namen bekannt sind. Das Geld tat auch hier Wunder. Die Kellner erkundigten sich an verschiedenen Tischen, so daß Harst es nicht nötig hatte, selbst diese unangenehme Aufgabe zu übernehmen. – Zwei Cafees hatte er nun umsonst besucht. Das dritte, unweit der Ballsäle [34] des Nordens gelegene, betrat er etwa um halb zwölf. Abermals spendete er den Kellnern je ein Zehnmarkstück und wartete nun, bei Eislimonade in einer Ecke allein sitzend, den Erfolg ab. Der Treppenaufgang zu den Billardsälen lag gerade vor ihm. Mit wachsamen Augen verfolgte er das Leben und Treiben in dem nur mäßig gefüllten, großen Raume. Auf der Treppe vor ihm erschien jetzt ein Kellner, dessen Gesicht ihm schon vorhin aufgefallen war. Er hatte diesen blassen, schielenden Menschen fraglos bereits irgendwo und –wann im Gerichtssaal gesehen. Als Angeklagten kaum, denn dann hätte er ihn sofort wiedererkannt. Also wohl als Zeugen. Der Schielende schlenderte der Drehtür des Ausganges zu. Harsts kritische Blicke stellten in den Bewegungen dieses krankhaft bleichen Menschen etwas gemacht Nachlässiges und Harmloses fest. Er hatte den Eindruck, als wollte der Kellner so recht zum Ausdruck bringen, daß er ganz von ungefähr und ganz ohne bestimmte Absicht der Tür zuschritt, hinter deren Radwindfang er nun verschwand. Harst stand auf, trat an das nahe Fenster und spähte an der Seite durch einen Vorhangspalt hindurch, sah den Schieläugigen mit fliegenden Frackschößen über die Straße laufen und war kaum zwei Minuten später hinter dem Manne drein, der seiner Überzeugung nach irgend etwas Besonderes im Schilde führte. Er besann sich jetzt auch, daß jener, als er ihm genau wie den anderen Kellnern zehn Mark heimlich zugesteckt und ihn gefragt hatte, ob ihm eine Claire Ruckser bekannt wäre, leicht zusammengefahren war, dann aber sofort gemurmelt hatte: „Das verdammte Nervenzucken!“ Und er hatte auch wirklich noch verschiedentlich ein paar ruckartige Bewegungen mit dem Kopf gemacht. – Daß dieses Nervenzucken nur eine schlaue Bemäntelung des ersten leisen Zusammenschreckens gewesen, bezweifelte Harst jetzt nicht weiter. Der Mensch kannte Claire Ruckser, das war gewiß.

Harst erkundigte sich bei zwei Streichholzverkäufern nach dem Verbleib des Kellners. Ein Mensch im Frack und ohne Kopfbedeckung, der es so eilig hatte, mußte auffallen, zumal der Fußgängerverkehr hier nur gering war. Er hatte jedoch kein Glück. Der Schielende blieb verschwunden. Harst überlegte, [35] stellte sich dann dem Cafee gegenüber auf die Schattenseite in eine tiefe Haustür. Nach etwa drei Minuten tauchte der bleiche Kellner wieder auf und mäßigte sein Galopptempo erst dicht vor der Drehtür des Lokals, das er dann sehr gemächlich wieder betrat. Der Assessor blieb noch zehn Minuten in seinem Versteck. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß der Blasse nochmals das Cafee verließ. –

Die Ballsäle des Nordens lagen nur um die Ecke. Soeben hatte Karl wieder an eine „Gönnerin“ die bekannte Frage gerichtet. Und nun – endlich ein Erfolg! – „Ach – die Film-Claire meinst du wohl, Junge?“ – „Sie soll große Augen und ne Stupsnase haben,“ meinte Karl eifrig. – „Stimmt – det is se. Du, sag’ man dem Kavalier, daß die Film-Claire schon lange nach München abjerutscht is. Sie hat ’n Engagement dort jekriegt.“ – Karl war enttäuscht. Aber er war auch schlau genug, diese Quelle weiter anzuzapfen. – „Wissen Sie’s auch janz bestimmt?“ fragte er nun. Da deutete die „Gönnerin“ nach der einen Saaltür hin, sagte achselzuckend: „Der da mit’s Monokel könnt’ Dir wohl ihre Adresse anjeben. ’t is ihr Freund.“

Karl duckte sich plötzlich hinter ihrem Riesenhut zusammen. Das da drüben war der Zylinder-Onkel, der Violinenkünstler! Und jetzt kam auf den langen Hageren sehr eilig ein bleicher Kellner zu. Sie flüsterten miteinander, schritten der Haupttreppe zu. Karl blieb dicht hinter ihnen. Die Treppe hatte eine scharfe Biegung. Und der Junge fing nun ein einzelnes Wort auf, einen Namen, dem eine Verwünschung folgte.

„Harst! Der Teufel hole den Hund!“ –

Harald Harst sah in seinem Versteck nach der Uhr. Gleich zwölf. Und um zwölf wollte er sich mit Karl auf der Weidendammer Brücke treffen. Er schaute sich nach einem Auto um, ging dann zu Fuß der Friedrichstraße zu. Plötzlich hinter ihm eine Stimme: „Sie, Herr, – einen Augenblick –“ – Es war der bleiche[7] Kellner in Hut und Mantel. Er war ganz atemlos, hastete nun hervor: „Gut, daß ich Sie noch gefunden habe. Sie wollten doch was über die Claire Ruckser wissen. Ich war inzwischen in den Borussia-Sälen. Dort hab’ [36] ich mich erkundigt. Die Film-Claire soll jetzt Kellnerin in der Goldenen Traube in der Gartenstraße sein. Wenn Sie zehn Emmchen spendieren, Herr, hole ich sie Ihnen heraus für ’n Momang.“

Harst witterte eine Falle, denn Claire Ruckser konnte nicht Kellnerin sein – seit längerer Zeit nicht mehr! Trotzdem ging er zum Schein auf den Vorschlag des Blassen ein. Er wollte feststellen, in welchen Beziehungen dieser Schielende nun wieder zu dem an Marga verübten Morde stand. – Bis zur Gartenstraße war es nicht weit. Aber Harst hatte Eile, und da konnte es ihm nur recht sein, daß ein geschlossenes Auto jetzt langsam an ihnen vorüberfuhr. Er rief es an. Es war frei. Der Blasse nannte dem Chauffeur das Fahrtziel, öffnete die Tür mit einem höflichen: „Bitte!“ – Harst zögerte. Da erhielt er einen furchtbaren Stoß ins Genick, flog halb in den Kraftwagen hinein, wurde von innen vollends hineingezerrt, spürte zwei Hände wie Eisenklammern an seinem Halse. –

Karl beobachtete in der Vorhalle der Ballsäle stehend, wie der Zylinder-Onkel und der bleiche Kellner sich auf der Straße voneinander verabschiedeten. Da – eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter. Er sah sich zwei Herren gegenüber, von denen der eine jetzt sagte: „Wir sind Kriminalbeamte von der Wirtshauspatrouille und hinter Dir schon eine Weile her. Du hast Dich durch Deine fortwährenden –“ – Karl ließ den Beamten nicht aussprechen, denn auch der lange Hagere ging jetzt eilends davon, dem er um jeden Preis auf den Fersen bleiben wollte. Mit knappen Worten klärte er die beiden Beamten darüber auf, daß er im Auftrage des Assessors Harst hier tätig wäre. „Bitte – begleiten Sie mich,“ fügte er hinzu. „Ich lüge nicht. Ich erzähle Ihnen draußen das weitere.“ – Harst! – die Beamten wußten sofort Bescheid: 20 000 Mark-Verlobter der ermordeten Marga Milden.

So kam es, daß sie ebenfalls Zeugen wurden, wie der Hagere ein Auto anrief, mit dem[8] Chauffeur verhandelte, ihm Geld reichte, einstieg, und wie nun dieser Kraftwagen langsam davonfuhr. In einem zweiten folgten sie. Einer von [37] ihnen war neben dem Chauffeur auf den Vordersitz geklettert, hatte dem Manne zugeraunt: „Kriminalpolizei!“ – Das genügte. – Das andere Auto hielt dann an einer menschenleeren Stelle. Zwei Herren wollten zu dem Hageren hineinsteigen. – Der Beamte auf dem Vordersitz hatte gute Augen, sah trotz der Entfernung und trotz des blitzschnellen Überfalles auf den einen der beiden Herren gerade noch genug, rief seinem Nachbar zu: „Los – ran an den Wagen da vor uns – Höchstgeschwindigkeit!“ Und der Chauffeur schob sofort die Steuerung herum.




[38]
5. Kapitel.
Moderne Verbrecherjagd.

Im Universum-Klub war der Vortrag des Kriminalkommissars von Perbram längst vorüber, aber der erregte Meinungsaustausch, den er unter den Klubmitgliedern hervorgerufen hatte, dauerte noch immer an, besonders bei einer Gruppe von Herren, die sich im Lesezimmer zusammengefunden hatten. – Soeben sagte Kommerzienrat Kammler zu dem heute als Gast heute anwesenden Kommissar Stolten:

„Wir beide verstehen uns! – Ganz richtig: Diese Detektivspielerei von Leuten, die nicht die vielseitige Ausbildung unserer Kriminalbeamten genossen haben, ist lächerlich, kann nie in schwierigen Fällen Erfolge zeitigen. – Übrigens besinne ich mich jetzt: ich habe heute nachmittag den Assessor Harst getroffen, der ohne Frage doch ein sehr intelligenter Mensch ist. Aber auch er vertrat heute die Ansicht, auch ein Liebhaberdetektiv könnte, wenn er nur den nötigen Scharfsinn besäße, mehr ausrichten als der ganze große Apparat der Kriminalpolizei. Er scheint sogar Lust zu haben, eine Bemerkung von mir als Anlaß zu einer Wette zu nehmen des Inhalts, daß, wenn überhaupt der Mord an seiner Braut aufgeklärt werden sollte, dies nur durch einen Liebhaberdetektiv geschehen würde.“

„Dies ist auch geschehen!“ sagte Harald Harst langsam und begrüßte die Herren mit einer gemessenen Verbeugung. Er war unbemerkt eingetreten, hatte Kammlers letzte Sätze mitangehört, zog sich nun, ohne sich um die überraschten, teilweise [39] auch etwas verlegenen Gesichter zu kümmern, einen Klubsessel herbei und sagte dann zu Perbram:

„Es tut mir leid, daß ich Ihren Vortrag versäumen mußte, lieber Perbram. Der Detektiv hat mich aber bis jetzt in Anspruch genommen, der nun endlich das Rätsel des Mordes an meiner Braut gelöst und auch – was Sie interessieren dürfte, Herr Stolten – einen zweiten Mord gleichzeitig aufgeklärt hat, nämlich den an der unbekannten, unkenntlich gemachten weiblichen Person.“

Eine Weile tiefe Stille. Aller Augen waren auf Harst gerichtet. Diese Mitteilungen kamen zu unerwartet, wirkten tatsächlich wie eine Bombe. Dann rief Kammler:

„Ich glaube im Namen aller zu sprechen, mein lieber Harst, wenn ich erkläre, daß wir mit freudiger Genugtuung diese Nachricht aufnehmen. Es muß für Sie ein Trost sein, nunmehr zu wissen, daß das Verbrechen an Fräulein Milden gerächt werden wird. – Wer ist denn nun der Täter, und wie heißt jener Detektiv, der hier einmal ausnahmsweise erfolgreicher gewesen ist als unsere tüchtigsten Beamten?“

Harst lehnte sich leicht in seinen Sessel zurück. „Ausnahmsweise, Herr Kommerzienrat?“, meinte er. „Sie sind ein hartnäckiger Gegner aller kriminalistischen Talente ohne Beamteneigenschaft. Doch – davon später. – Ich bin gern bereit, den Herren das Ergebnis und die Hauptmomente der Nachforschungen übersichtlich zu entwickeln, die der – Liebhaberdetektiv, von einem Taschentuch ausgehend, angestellt hat. Er hat sich dabei zweier Helfer bedient, die ich hier der Kürze halber Max und Karl nennen will. Ich werde alles Nebensächliche weglassen, da die Herren selbst imstande sind, sich das Nötige zu ergänzen.

Der Mord an meiner Braut hängt ganz eng mit dem zweiten zusammen. Beide haben dieselbe Vorgeschichte. – Margas Pensionsfreundin Claire Ruckser gerät auf Abwege, fällt einem gewissenlosen Schurken in die Hände, der ihr Vermögen durchbringt, dem sie aber doch mit blinder, unverständlicher Liebe ergeben bleibt. Dieser Paul Menkwitz, Monokel-Paul, wird wegen Taschendiebstahls und Einbruchs in eine Privatwohnung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er [40] schwört dem, der ihn hat verhaften lassen, und der dann auch Vertreter der Anklage ist, und das war ich, noch im Gerichtssaal in sinnloser Wut Rache. – Vor vier Wochen war seine Strafzeit vorüber. Er vereinigte sich wieder mit jener Claire, die inzwischen als Filmstatistin sich mehr schlecht als recht durchgeschlagen hat. Er weiß von ihrer früheren Freundschaft mit Marga und zwingt sie nun, wobei er einen doppelten Zweck verfolgt, sich meiner Braut zu nähern und sie anzubetteln. Marga hebt von ihrem Sparbuch 400 Mark ab und händigt sie der Pensionsschwester auf der Straße aus. Ihre Eltern verbieten ihr jeden weiteren Verkehr mit der so tief Gesunkenen aufs strengste. Eine Weile läßt Claire meine Braut unbelästigt. Dann verschafft sie sich heimlich Zutritt zu deren Zimmer, als Mildens und die Köchin Marie abwesend sind. Nur das Stubenmädchen Helene weiß von diesem Besuch, verspricht Marga aber, zu schweigen. Claire fleht in wilder Verzweiflung über ihre trostlose Lage meine Braut abermals um Geld an und bittet diese, ihr die Summe in derselben Laube auszuhändigen, in der Marga dann am nächsten Tage von Paul Menkwitz ermordet wird, der sehr wohl wußte, daß der Verlust meiner Braut mich schwerer treffen würde als alles andere. Der Mord war also ein Racheakt von Menkwitz, dem Claire hierbei ahnungslos Helferdienst leistete, denn er hatte ihr geraten, Marga in jene Laube zu bestellen. Um nun Claire, die doch sofort geahnt hätte, wer allein der Mörder meiner Braut sein könnte, für immer stumm zu machen, beseitigt er sie in der Nacht vor Margas Tode, warf die verstümmelte Leiche ins Wasser, vergaß dabei aber eines: aus der Tasche des Kleiderrockes des armen Weibes ein Taschentuch zu entfernen!

Er vergaß ein Taschentuch! Und genau das gleiche Tüchlein hatte Claire damals in Margas Zimmer vergessen. Der Detektiv findet es, findet auch das Sparbuch. Er fragt Helene über die Herkunft dieses billigen, patschuliduftenden Taschentuches aus. Sie schweigt verlegen, will nichts verraten, reist dann unter einem Vorwand zu ihren Eltern, wohin der Helfer Max ihr folgt. – So kommt der Stein durch das Tüchlein ins Rollen. – Der Detektiv erfährt von dem anderen [41] Morde, auch von dem bei der Leiche gefundenen Taschentuch. Beide gleichen sich vollständig. Da ahnt er, daß diese Tote vielleicht die gewesen, die das andere Tüchlein in Margas Zimmer zurückließ. Er forscht Frau Milden aus, hört den Namen Claire Ruckser, hört von einem Abenteurer, mit dem sie ihr Geld verjubelt hat. Vorher schon ist er auf Menkwitz aufmerksam geworden. Dieser verkauft bei einem Juwelier ein goldenes Handtäschchen, dessen Bügel er absichtlich zerbrochen und aus dem er das Stück mit dem eingravierten Namen der Besitzerin entfernt hat. Ich habe trotzdem dieses Täschchen an einigen Fehlern in den Goldmaschen wiedererkannt. So lenkte sich der Verdacht auf Menkwitz. Der Detektiv vermutet in ihm den, der jene Claire arm und ehrlos gemacht hat. Hierüber will er sich Gewißheit verschaffen. Er und sein Helfer Karl besuchen die Stätten, in denen das Laster und das Verbrechen, Leichtsinn und Genußsucht sich ein Stelldichein geben. Er wird dann von dem Bruder des Mörders, einem Kellner, in dieser Nacht in eine Falle gelockt, in ein Auto, das Paul Menkwitz unter dem Vorgeben, er wäre Detektiv und hinter einem Verbrecher her, von dem Chauffeur[9] zur Verfügung gestellt wird. Die Brüder suchen ihr Opfer durch Würgen bewußtlos zu machen. Der Detektiv täuscht eine Ohnmacht vor. Sie wollen ihn fesseln, nachher irgendwie bei Seite schaffen. Plötzlich springt er auf, stößt die Überraschten zurück, schwingt sich aus dem Wagen, wird fast von einem anderen daherrasenden Auto überfahren, das auf Veranlassung des Helfers Karl dem ersten gefolgt ist und in dem sich zwei Kriminalbeamte befinden, die die Brüder Menkwitz festnehmen und nach der nächsten Polizeiwache bringen, wo der Detektiv den Doppelmörder zu einem Geständnis zwingt. Der Detektiv fährt nach Hause, findet hier den Helfer Max vor, der in Pasewalk das Stubenmädchen schnell dazu überredet hat, unterstützt von deren Eltern, die volle Wahrheit zu sagen. – Der Detektiv zieht sich um und – besucht den Universum-Klub. Der Detektiv – bin ich selbst, meine Herren!“

„Ich habe dies sehr bald gewußt!“ ruft Stolten. „Ich [42] gratuliere von Herzen. Sie haben Ihre Sache vorzüglich gemacht!“

Harst wendet sich an Kammler. „Sind Sie nun bekehrt, Herr Kommerzienrat? Oder – nehmen Sie in diesem Falle nur einen zufälligen Erfolg eines der von Ihnen so schlecht beurteilten Privatdetektive an?“

Kammler wiegt den Kopf hin und her. „Ehrlich gestanden, lieber Harst, mich würde nur eine Reihe von Erfolgen überzeugen,“ meint er ausweichend.

Harst erhebt sich. „Meine Herren,“ beginnt er mit jener kühlen Selbstverständlichkeit, die jeder an ihm kennt und zu der jetzt noch eine müde Gleichgültigkeit hinzugetreten ist. „Sie wissen, welch unersetzlichen Verlust ich erlitten habe. Ich werde nie darüber hinwegkommen. Ich war nahe daran, lebensüberdrüssig und trübsinnig zu werden. Da riß mich diese Detektivarbeitet wieder hoch. Sie machte mich mein leeres Dasein vergessen. Jetzt, wo sie erledigt ist, fühle ich bereits wieder jene unsagbare Interessenlosigkeit gegenüber all und jedem, die mich vielleicht zum – Selbstmord treiben könnte. Mein Beruf als Jurist kann mir hier nicht die nötige Ablenkung bieten. Er ist zu sehr eingeengt, zu wenig abwechslungsreich. Ich werde ihn aufgeben. Aber – ich will mir gleichzeitig einen anderen Pflichtenkreis schaffen. Dabei können Sie mir helfen. Kommerzienrat Kammler deutete eine Wette mir gegenüber an. Diesen Gedanken nehme ich jetzt wieder auf. Ich will mich verpflichten, eine größere Anzahl von Verbrechen oder sonstigen Vorgängen, die bisher der Kunst der Polizeiorgane gespottet haben, aufzuklären, – sagen wir zwölf! Ich wette eine Million Mark, daß ich diese zwölf Fälle, die mir nacheinander von meinen Wettgegnern genannt werden und die an Zeit und Ort nicht gebunden sein sollen, erledigen werde. Die Wetteinsätze aber sollen dann an irgend eine wohltätige Anstalt fallen. – Wie gesagt, ich will ein Ziel haben, mir einen neuen Lebenszweck schaffen. Ich will das Verbrechen bekämpfen, Wehrlose schützen, Gestrauchelte aufzurichten suchen. All das kann nur der – Liebhaberdetektiv, der frei von Dienstvorschriften und papiernen Pflichten seine Begabung ausnutzen darf.“

[43] Kammler springt auf. „Harst, – von mir aus angenommen! Ich setze eine Million dagegen! – Zwölf Fälle wollen Sie erledigen – das zeugt von einem starken Selbstbewußtsein! Sie werden Ihre Million loswerden. Ich will aus der ganzen Welt die verworrensten Rätsel zusammensuchen! Passen Sie nur auf!“ –

Die Wette wurde dann erst am folgenden Abend schriftlich festgelegt. Auf der Gegenseite beteiligten sich insgesamt fünfzehn Herren mit einer Gesamtsumme von fünf Millionen.

Als Harald Harst nach diesem bedeutungsvollen Abend nach Hause kam, ging er noch zu Max Schraut hinüber. Der war noch wach, hatte auf ihn gewartet.

„Die Wette ist zustande gekommen,“ sagte Harst gelassen. „Mein Abschiedsgesuch an meine Behörde ist auch bereits abgegangen. Ich stelle Ihnen frei, fortan unter angenommenem Namen meinen Privatsekretär und Gehilfen zu spielen oder – ins Gefängnis zurückzukehren.“

„Die Entscheidung ist nicht schwer,“ meinte Max Schraut und griff dankbar nach Harsts Hand. „Ich werde Ihnen ein treuer Helfer sein.“

„Gut denn. – Morgen abend reisen wir nach Pommern. Meine erste Aufgabe lautet: „Das Geheimnis des Szentowo-Sees“. – Und dieser See liegt in Pommern. – Gute Nacht, Schraut. – Übrigens: – falls nötig, lassen wir Karl nachkommen. Er hat sich ebenso gut bewährt wie Sie. – Also morgen – auf nach Szentowo!“




[44]
Das Geheimnis des Czentowo-Sees.[ws 1]


1. Kapitel.
Einer, der Szentowo kennt.

Harald Harst hatte soeben mit seiner Mutter den Morgenkaffee eingenommen und ihr dabei von der in der vergangenen Nacht im Universum-Klub abgeschlossenen Millionenwette und von seiner ersten Aufgabe erzählt. Frau Harst war glücklich in dem Gedanken, daß ihr Einziger infolge dieser Wette über den Verlust seiner heißgeliebten Braut leichter und schneller hinwegkommen würde, da er sich ja verpflichtet hatte, zwölf seltsame Begebenheiten oder schwierige Kriminalfälle aufzuklären. Während sie dann ihre gewohnte Tagesbeschäftigung begann, die kaum vermuten ließ, daß sie die Witwe eines vielfachen Millionärs war, prüfte ihr Sohn in seiner im Erdgeschoß gelegenen Wohnung, am Schreibtisch seines Arbeitszimmers sitzend, die große Spezialkarte von Pommern, die sein Privatsekretär und Gehilfe Max Schraut ihm frühmorgens hatte besorgen müssen.

Das Dorf Szentowo sowie das gleichnamige Schloß und der See lagen unweit des Städtchens und der Bahnstation Malchin an der Hauptstrecke Stettin-Stolp-Danzig.

Dann sah Harst das Kursbuch ein und entschied sich für den 11 Uhr-Abend-Schnellzug. Er wollte nachmittags nochmals das Grab Marga Mildens besuchen, bevor er durch die [45] Reise nach Szentowo seinen neuen Lebensabschnitt einleitete – seine Tätigkeit als Liebhaberdetektiv. Er, der bisherige Staatsanwaltschaftsassessor hatte ja gerade durch die Ermittlung des Mörders seiner Braut abermals bewiesen, wie sehr er sich für diesen ganz besonders geartete Fähigkeiten erfordernden Beruf eignete, dessen Vorbedingungen, weitumfassende Allgemeinbildung und ebenso gründliche Kenntnis aller mit der Kriminalistik eng zusammenhängenden Wissensgebiete, in seiner Person aufs beste erfüllt waren.

Er saß jetzt zurückgelehnt da und schaute sinnend durch das Fenster auf die im hellen Frühlingssonnenschein daliegende Straße hinaus. – Das Geheimnis des Szentowo-Sees. – Das war alles, was seine Wettgegner ihm mitgeteilt hatten. Um welche Art von Geheimnis es sich handelte, dies hatten sie ihm festzustellen überlassen. Es mußten jedenfalls mit diesem See mysteriöse Vorgänge verknüpft sein, die zum mindesten dort in jener Gegend ziemlich allgemein bekannt waren. Und Harst ließ seine Phantasie nun spielen und erwog, wie beschaffen diese Rätsel sein könnten. – Lag ein unaufgeklärtes Verbrechen, etwa ein Mord, vor? – Wohl kaum. Sonst hätten die Wettgegner dieser ersten Aufgabe eine genauere Fassung gegeben.

Es klopfte. Harst rief Herein. Es war Max Schraut, der frühere Komiker und Taschendieb, den er bei den Ermittlungen nach Marga Mildens Mörder bereits als treuen und gewandten Gehilfen schätzen und als reuigen Entgleisten kennen gelernt hatte. Schraut spielte hier im Hause der Frau Auguste Harst den würdigen, älteren, graubärtigen Herrn, während er doch kaum die vierzig erreicht hatte und ohne falschen Bart und Perücke ganz anders aussah. Diese Verkleidung war nötig, denn die Polizei war hinter ihm als entsprungenen Strafgefangenen drein.

„Herr Harst, ich habe soeben die Morgenblätter durchgesehen,“ begann er sofort eifrig und breitete auf dem Schreibtisch die am meisten gelesene Zeitung Berlins aus. „Denken Sie: die ganze Wettgeschichte steht schon haarklein unter Allerneuestes, und selbst unsere erste Aufgabe ist erwähnt, was für uns insofern sehr angenehm ist, als der Verfasser dieses [46] Artikels recht genau über das Geheimnis des Sees unterrichtet zu sein scheint.“ Er deutete dabei auf eine bestimmte Stelle eines längeren Aufsatzes mit der Überschrift: Eine Millionenwette im Universum-Klub.

Harst hatte sich vorgebeugt und las. Besonders interessierte ihn natürlich folgendes:

„– Tatsache ist, daß zuerst im verflossenen Herbst auf dem Grunde des Sees seltsame, wandernde Lichterscheinungen sich nachts zeigten, für die niemand eine Erklärung fand. Dann wurde dasselbe geheimnisvolle Leuchten vor fünf Wochen abermals beobachtet, und es ist seitdem in unregelmäßigen Zwischenräumen zumeist in besonders dunklen, regnerischen Nächten verschiedentlich von einwandfreien Zeugen gesehen worden, so zum Beispiel auch von einem Kriminalkommissar, der in einer nahen Kreisstadt dienstlich zu tun gehabt und die Gelegenheit benutzt hatte, diese etwas rätselhafte Angelegenheit zu prüfen, die in der dortigen Gegend schnell allerlei abergläubische Märchen von einer Seenixe hervorgerufen hat. Jener Beamte wäre dabei fast das Opfer eines ebenfalls geheimnisvollen Unfalls geworden. Als er allein in einem primitiven Nachen, einem aus Brettern zusammengeschlagenen sogenannten Seelenverkäufer, der Stelle zuruderte, wo es in der Tiefe hin und wieder hell aufleuchtete, kippte der Kahn urplötzlich ohne jede erkennbare Ursache um und traf dann den gerade wieder auftauchenden Kommissar, einen vorzüglichen Schwimmer gegen den Hinterkopf, daß der Beamte beinahe die Besinnung verloren hätte. Der Kommissar führt dieses Umkippen des Seelenverkäufers auf einen plötzlichen Schwindelanfall seinerseits zurück. Im Dorfe Szentowo kursieren jedoch allerlei Gerüchte, daß auch einem Gast des Besitzers des Schlosses Szentowo, des Grafen von Lippstedt, genau dasselbe gefährliche Mißgeschick begegnet sein soll, daß dieser Gast, ein Professor ebenfalls beinahe ertrunken wäre, und daß – die Seenixe auf diese Weise die Neugier der Menschen bestrafe. – Man kann gespannt sein, wie Herr Harst als Liebhaberdetektiv sich mit alledem abfinden wird. Auch uns erscheint es dringlich geboten, jene merkwürdigen Vorgänge aufzuklären, die unseres Erachtens vielleicht [47] doch nicht ganz harmloser Natur sind, wenn sich auch die Sachlage von hier aus kaum zutreffend beurteilen läßt.“

Harald Harst legte die Zeitung auf den Tisch zurück. Er hatte mit steigender Spannung die Zeilen überflogen. Trotzdem behielt sein Gesicht den kühl-gelassenen Ausdruck bei. Und als er nun Schraut mit einem „Wirklich recht eigenartig!“ leicht zunickte, verriet auch der Ton seiner Stimme nichts von seinen bereits der Gegenwart weit vorauseilenden Gedanken. Nur eins tat er: er entnahm seiner goldenen Zigarettendose eine jener dicken, etwas süßlich duftenden Zigaretten, die er nur für sich in einer Fabrik nach seinen eigenen Angaben aus bestimmten Tabaksorten herstellen ließ und denen er den Namen Mirakulum (Wunderwerk) gegeben hatte, zündete sie mit dem ihm[10] eigenen gemessenen und doch keineswegs gezierten Bewegungen an, blies ein paar tadellose Rauchringe in die Luft und fügte dann dem „Wirklich recht eigenartig“ ganz plötzlich lebhafter hinzu: „Ah – wir bekommen wirklich Besuch. – Gehen Sie, lieber Schraut, und öffnen Sie dem Herrn die Haustür, der da soeben die Gartenpforte zuwirft. Fraglos ein temperamentvoller Mensch! Auch etwas rücksichtslos. Würden alle Besucher die Pforte derart zuschmettern, wäre sie bald erneuerungsbedürftig. Bleiben Sie dann hier im Zimmer. Setzen Sie sich dort an den Mitteltisch und tun Sie, als ob Sie mit einer Schreibarbeit beschäftigt wären.“

Der Herr trat ein. Es war ein schlanker, sehr gut gekleideter, jüngerer Mann, etwa Ende der Zwanziger. Er trug den blonden, starken Schnurrbart lang ausgezogen und hatte ein leicht gebräuntes Gesicht mit einem nie ganz daraus verschwindenden hochmütigen Zug um den schmallippigen Mund.

„von Blenkner,“ stellte er sich Harst vor und nahm dann sofort auf dem ihm angebotenen Klubsessel neben dem Schreibtisch Platz, schlug ein Bein über das andere, schaute sich recht zwanglos in dem mit vornehmem Geschmack eingerichteten Zimmer um und sagte mit einem Blick auf den scheinbar eifrig im Hintergrunde schreibenden früheren Schauspieler: „Könnte ich Sie allein sprechen, Herr Harst?“

[48] Mein Privatsekretär ist gleichzeitig mein Vertrauter, Herr von Blenkner. – Also bitte: womit kann ich dienen?“

„Nun – wenn’s sein muß, – gut. – Ich möchte Sie als Detektiv zu Rate ziehen. Ich habe in der heutigen Morgenzeitung von der Wette im Universum-Klub gelesen und bin dadurch auf Sie aufmerksam geworden. Sofort ohne Zögern eilte ich hierher, um Sie zu bitten, mich in Malchin zu besuchen, bevor Sie nach Szentowo weiterfahren. Malchin ist ja die nächste Eisenbahnstation. Ich bewohne dort ein kleines Landhaus, das wie geschaffen für mich ist, da ich als Privatgelehrter und Schriftsteller Einsamkeit und unverfälschte Natur ringsum brauche. Ich bin ein Neffe des Grafen Lippstedt auf Schloß Szentowo, unverheiratet und halte mir nur eine bereits bejahrte Wirtschafterin. Mir ist nun vor zwei Wochen aus einem in die Wand meines Arbeitszimmers eingemauerten Stahlschränkchen ein Umschlag mit Familienpapieren verschwunden. Diese Papiere sind für mich sehr wertvoll –“ Er ließ sich nun des längeren über diesen Diebstahl aus und schloß dann mit den Worten: „Ich nehme an, Sie werden infolge der Wette und Ihrer ersten Aufgabe sehr bald nach Szentowo reisen. Dürfte ich erfahren, wann und ob Sie eine Verkleidung benutzen werden? – Ich möchte eben rechtzeitig heimkehren, damit ich Ihnen alles an Ort und Stelle nochmals erklären könnte.“

„Morgen abend fahre ich, Herr von Blenkner. Eine Verkleidung halte ich für überflüssig. Ich bin auch gern bereit, mich mit Ihrer Angelegenheit zu beschäftigen. Haben Sie schon anderweit Hilfe in Anspruch genommen?“

„Nein – nein, – ich habe sogar die ganze Sache bisher verschwiegen, weil ich – weil ich selbst versuchen wollte, den Dieb zu entdecken.“

„Wo wohnen Sie hier? – Vielleicht reise ich doch erst einige Tage später. Ich möchte Sie dann benachrichtigen.“

„Ich bin seit einer Woche in Berlin und im Fremdenheim Menkwitz am Schiffbauerdamm abgestiegen.“

„Ah – und dort haben Sie wohl beim Morgenkaffee den Bericht in der Zeitung gefunden und werden sicherlich den [49] Kopf über die etwas ungewöhnliche Wette geschüttelt haben,“ lächelte Harst liebenswürdig.

„Ganz – ganz recht. Beim Morgenkaffee – Hm – Ihre Wette ist nicht ganz ungefährlich, Herr Harst. Mir ist ebenfalls zu Ohren gekommen, daß zwei Herren, die in Szentowo –“ „Oh, das steht ja alles hier in der Zeitung, Herr von Blenkner – Können Sie mir sonst etwas angeben, was diese Lichterscheinungen anbetrifft und was dieser Artikel nicht enthält?“ – „Bedauere. Ich habe mich gehütet, mich mit der Sache näher zu befassen. Ich will gern noch ein paar Jahre leben.“ Er erhob sich und verabschiedete sich kurz. Als er gegangen war, meinte Harst zu dem ehemaligen Komiker:

„Bitte, nehmen Sie Papier für einen Rohrpostbrief und schreiben Sie. – Anschrift: An Herrn von Blenkner, Schiffbauerdamm, und so weiter. – Sehr geehrter Herr! Da Herr Harst keine Zeit unnötig verlieren möchte, hat er sich entschlossen, doch schon heute abend abzureisen. Sobald seine Arbeit in Szentowo erledigt ist, wird er sich bei Ihnen in Malchin einfinden. Mit vorzüglichster Hochachtung – im Auftrage des Herrn Harst –“ – Hier machte Harst eine Pause, sagte dann: „Sie müssen nun doch umgetauft werden, Schraut. Denn diesen Ihren wirklichen Namen dürfen Sie als mein Privatsekretär nicht mehr führen. Hier bei uns im Hause war das ungefährlich. Meine Mutter und unsere alte Köchin, die ich nun beide in Ihre Verhältnisse eingeweiht habe, sind ebenso verschwiegen wie unser kleiner Bundesgenosse Karl Malke, der für seine fünfzehn Jahre überhaupt ein fast zu frühreifer Charakter – dies nur in gutem Sinne gemeint – ist. – Wie wär’s, wenn wir Sie in Max Schüler umtauften? Meine Mutter ist eine geborene Schüler, und ihr jüngster auf See verschollener Bruder, von dem wir noch verschiedene Legitimationspapiere besitzen, hieß mit Vornamen wie Sie – Max. – Also gut: – Max Schüler fortan! Sie sind ja schließlich auch mein Schüler, wollen sich in die Geheimnisse der praktischen Kriminalwissenschaften einweihen lassen. Unterzeichnen Sie den Brief an Blenkner also: Schüler, Privatsekretär. – Nun – wie hat Ihnen dieser Privatgelehrte gefallen? – Ganz sympathische Erscheinung. – Sie schütteln [50] den Kopf? – Ganz richtig – ein wenig hochmütig und selbstbewußt. Aber auch – nicht ganz wahrheitsliebend, scheint mir!“

„Woraus entnehmen Sie letzteres, Herr Harst?“ fragte der neu erstandene Max Schüler erstaunt. „Und – weshalb sollte er Sie wohl zu belügen versucht haben?!“

Harst stand auf, zog seinen eleganten Hausrock aus und erwiderte: „Er sagte, er wäre – „sofort, ohne Zögern –“ hierher geeilt. Er betonte also, wie er auf der Stelle ohne sich lange zu bedenken, sich auf den Weg gemacht hätte. Er ist ein gebildeter Mann, Schriftsteller, von dem man annehmen muß, daß diese Häufung von Ausdrücken – „sofort, ohne Zögern“ – kein sprachliches Ungeschick gewesen, sondern bewußt geschehen ist. – Wir haben jetzt genau zehn Uhr. Wissen Sie, was vor zweieinhalb Stunden sich ganz unvermutet ereignete?“

„Ah – Sie meinen die eine Wolke, die uns einen kurzen, aber heftigen Regenguß brachte, Herr Harst, – nicht wahr?“

Harald Harst nickte. „Den Regen meine ich, ganz recht. – Haben Sie nun bemerkt, daß Blenkners Lackstiefel recht beschmutzt waren?“

„Allerdings nicht. Ich gab darauf nicht acht –“

„Sie hätten es tun sollen. Die Stiefel deuteten ja gerade darauf hin, daß er ein wenig mit diesem „sofort ohne Zögern“ geschwindelt hat.“

„Jetzt verstehe ich, Herr Harst. Die Regenfeuchtigkeit hätte auf den Straßen durch die Sonne längst beseitigt gewesen sein müssen, wenn er – er traf hier gegen halb zehn ein – wirklich erst sagen wir um neun das Pensionat verlassen haben würde, um zu uns zu kommen.“

„Sie entwickeln sich, lieber Schüler. – Ich behaupte nun sogar, Blenkner ist von dem Regen hier ganz in der Nähe überrascht worden, hat dann, da er ohne Schirm war, im Laufschritt einen Unterschlupf gesucht und sich nachher in unserer Nachbarschaft noch etwa zwei Stunden herumgedrückt, ehe er sich entschloß, mich aufzusuchen.“

Max Schraut-Schüler machte ein verdutztes Gesicht. [51] Harst lächelte unmerklich, ging ins Schlafzimmer und kam fertig zum Ausgehen zurück.

„Ich habe Arbeit für Sie,“ meinte er und füllte beide Fächer seiner Zigarrentasche. „Sie könnten mal sofort im Fremdenheim Menkwitz kurze Freundschaft mit einem der weiblichen dienenden Geister unter Zuhilfenahme eines Zehnmarkscheins schließen und feststellen, wann Blenkner heute ausgegangen ist. Er interessiert mich nämlich mehr als Sie ahnen, lieber Schüler. Er glaubte, er hätte es hier mit – Dummen zu tun. Wir wollen ihm das Gegenteil beweisen. Wer mich in zwei Punkten faustdick belügt, führt irgend was im Schilde und ist alles andere nur kein Ratsuchender. – Ich sage: in zwei Punkten. Nummer eins ist das „sofort, ohne Zögern“. Nummer zwei aber die Geschichte von den gestohlenen wertvollen Familienpapieren. – Ist Ihnen hierbei nichts aufgefallen? – Nein?! – Aber ich bitte Sie! Wenn Ihnen etwas Wichtiges gestohlen wird, werden Sie dann vierzehn Tage untätig bleiben, bis Ihnen zufällig der Name eines bisher ganz unbekannten Liebhaberdetektivs aufstößt?! Gibt es nicht hier in Berlin Privatdetektive von Weltruf? Wird da ein vernünftiger Mensch ausgerechnet auf Harald Harst und den Zeitungsbericht über die Millionenwette warten? – Guten Morgen, auf Wiedersehen.“

Harst ließ den sehr nachdenklich gewordenen ehemaligen Komiker allein und verließ das Haus, ging dann nach rechts die Blücherstraße, diesen noch wenig bebauten Straßenzug des Vorortes Schmargendorf, hinunter und betrat bald durch die Tür des Bauzaunes ein halbfertiges Gebäude, sprach hier mit einigen Ziegelträgern und schenkte jedem zwei Zigarren. Dann benutzte er das nächste freie Auto zur Fahrt nach dem Zeitungspalast des verbreitetsten Blattes der Reichshauptstadt.




[52]
2. Kapitel.
Schraut wird noch klüger.

Halb zwölf abends. – Den Wartesaal 3. Klasse des Stettiner Bahnhofs in Berlin betrat ein recht bescheiden gekleideter buckliger Mann, der außer einem großen Pappkarton noch einen Violinenkasten[11] trug. Er setzte sich in eine Ecke, bestellte ein Glas Bier und sog an seiner Zigarre, die längst ausgegangen war. Dabei überlegte er so allerlei. – Daß Harst erst später ihm nach Szentowo folgen wollte und daß er nun dort allein zunächst das „Terrain sondieren“ sollte, gefiel ihm gar nicht. Er glaubte sich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Anderseits sagte er sich aber, daß seines Herrn Vorschlag, er solle dort in der Verkleidung eines wandernden Musikanten auftreten, recht gut gewesen war. Nur erschien es ihm überflüssig, daß Harst verlangt hatte, er müßte das Haus in der Blücherstraße, in dem Frau Auguste Harst nun bereits ein Lebensalter wohnte, durch den Gemüsegarten und den hinteren Ausgang des Grundstückes verlassen. – Wozu diese Vorsicht? Das sah ja gerade so aus, als nähme sein Herr an, das Haus würde beobachtet!

Es wurde Zeit, sich ein Plätzchen in der vierten Klasse des Personenzuges nach Danzig zu sichern. Schraut-Schüler bezahlte das Bier, nahm Karton und Violinenkasten und schlurfte hinaus auf den Bahnsteig. Seine Maske war vorzüglich. Er war ja auch ein recht befähigter Schauspieler gewesen, [53] ehe er sich dem Trunke ergab und dann schließlich Taschendieb wurde. – Nun – er würde diese gefährliche Fingerfertigkeit nie mehr zum Schaden seiner Mitmenschen ausüben. Harst hatte ihn jetzt auf den rechten Weg zurückgeführt, und von dieser ehrlichen Straße wollte er nie wieder abweichen – nie wieder!

Der Andrang zu dem Personenzuge war nicht groß. Er fand in der Vierten ein Eckplätzchen und machte es sich bequem. Nach ihm kamen noch zwei Frauen mit vielen Paketen und ein älterer Mann herein. Dann nach einer Weile noch ein Kollege von ihm, ein rotbärtiger, schlotteriger Mensch mit einer blauen Brille und einer kleinen Drehorgel.

Der Drehorgelspieler nickte ihm, als er den Violinenkasten sah, kameradschaftlich zu und stellte sein Instrument auf die Bank neben ihn, sagte dazu mit heiserer Säuferstimme: „Passen Sie doch ’n bißchen auf meine Quietschkiste auf.“ Dann verließ er den Wagen wieder und kehrte erst zurück, als der Zug sich bereits in Bewegung setzte. Er nahm mit einem: „Na, da wären wir ja!“ neben Schraut-Schüler Platz und holte eine dicke Stulle hervor. – „Möchten Sie was abhaben?“ fragte er. „Ich bin von Frau Auguste Harst gut versorgt worden –“

„Sie – Sie sind’s?“ stotterte der Komiker.

„Vorsicht! – Wir sind Kollegen, die sich hier zufällig getroffen haben. Danach richten Sie sich. – Hier, greifen Sie zu, essen Sie. Wir haben mit dem Bummelzug zwölf Stunden zu fahren. – Glaubten Sie wirklich, ich wollte Sie allein reisen lassen? – Nein, da hätte ich wohl kaum unseren jungen Freund Karl Malke nachmittags mit so viel Aufträgen herumgehetzt und mir von Ihnen nicht noch schnell eine Unterrichtsstunde im Schminken, Bartbefestigen und so weiter geben lassen! – Nicht wahr, die Hausmacher-Dauerwurst meiner Mutter ist großartig! – Wenn der Schaffner die Fahrkarten nachsehen kommt, wollen wir fragen, ob wir nicht hier und in den anderen Wagen Vierter ein wenig musizieren dürfen. Vielleicht haben wir Glück und stöbern einen braven Landmann aus Szentowo oder Umgegend auf, mit dem wir uns anbiedern können. Sie verstehen, Kollege: so ein bißchen [54] aushorchen nach diesem und jenem! – Übrigens: Blenkner war vorhin auf dem Bahnsteig. Er hat wohl gedacht, wir hätten den Elfuhr-Schnellzug versäumt. Er hatte auch seinen Freund wieder mit, – denselben Mann, der heute nachmittag in der Blücherstraße patrouillierte. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? – Nein?! – Aber, Kollege, – Sie wollen doch Detektiv werden! Da muß einem alles aufstoßen, alles, jede Kleinigkeit, auch Kalkspuren am Stiefeloberleder, das einen dann auf einem Neubau hinleitet, wo man durch eine Zigarrenspende erfährt, daß Blenkner dort vor dem Regenguß Schutz gesucht hat.“

„Ah – endlich, Herr –, nein, nicht Herr, sondern Kollege, – endlich höre ich nun auch Näheres über das, was –“

„Ja – alles werden Sie hören. Es ist recht viel. Es ist das Vorspiel für Szentowo. – Also: ich war bei dem Chefredakteur der bewußten Zeitung. Diese verdankt die Einzelheiten über das Geheimnis des Sees einem Briefe mit unleserlicher Unterschrift. Das Schreiben traf gestern elf Uhr abends durch einen Dienstmann ein – eine Stunde nach Abschluß der Wette also, die ja bereits tags zuvor in Anregung gebracht worden, aber noch nicht in ihren einzelnen Bestimmungen festgelegt war. – Wie gesagt: unleserliche Unterschrift. – Einleitende Sätze etwa: „Es dürfte Sie interessieren, daß soeben im Universum-Klub – und so weiter. Ich kann Ihnen nun auf Grund eigener Sachkunde über diese erste Aufgabe, das heißt, über das Geheimnis des Szentowo-Sees, folgendes mitteilen –“ Auf diese Weise war das Blatt imstande, gleich morgens seinen Lesern jene Einzelheiten zu bringen. – Unleserliche Unterschrift und – falsche Adresse! Denn ich habe Markgrafenstraße Nr. 35 das ganze Haus abgeklappert. Da wohnt nicht einer, der Szentowo kennt. – Was hätten Sie nun nach diesen Feststellungen getan, Kollege?“

„Hm – schwer zu sagen.“

„Leicht zu sagen! – Der Briefschreiber muß doch fraglos unter den Mitgliedern des Klubs einen Bekannten gehabt haben – oder selbst zum Klub gehören. Woher sonst die schnelle Kenntnis vom Abschluß der Wette und sogar vom Inhalt der [55] ersten Aufgabe? – Ich fuhr also in den Klub und fragte zunächst den Hauswart, ob gestern abend kurz nach zehn Uhr jemand von den Herren das Klubhaus verlassen hätte. – Antwort: „Ja, Herr Doktor von Beltz – zusammen mit dem Herrn, der schon einige Male in letzter Zeit als Gast hier war.“ – Da wußte ich Bescheid. Dieser Gast konnte es sein, der die Redaktion eine Stunde später benachrichtigt hatte, und dieser Gast –“

„Ich darf wohl den Namen nennen,“ unterbrach Schraut-Schüler ihn schnell. „Es wird derselbe Herr sein, den mir heute vormittag das Stubenmädchen im Fremdenheim Menkwitz als den Intimus Blenkners bezeichnete: der Güterdirektor Bollschwing aus Szentowo.“

„Stimmt – Bollschwing, der hier in Geschäften weilt und der die Besitzungen des Grafen von Lippstedt, des Schloßherrn von Szentowo – denken Sie an den Artikel! – verwaltet, derselbe Bollschwing auch, der vorhin Blenkner die Arbeit abnahm, diesen Zug nach uns zu durchsuchen, – natürlich nur die erste und zweite Klasse, denn mich als Millionärssohn vermutete man nicht dritter oder gar vierter Güte, und der nachmittags unsere Blücherstraße unsicher machte. – So, nun wissen Sie alles, bis auf den Inhalt eines Telephongesprächs nach außerhalb und einen Besuch bei Doktor von Beltz und einen zweiten bei einem Privatdetektiv. Und nun zeigen Sie, daß Sie Schlußfolgerungen ziehen können.“

„Bollschwing und Blenkner stehen zu dem Geheimnis des Sees irgendwie in Beziehung, und – und – Ja, das wäre wohl alles.“

„Hm – etwas wenig, lieber Kollege. – Wir müssen folgendes beachten: Blenkner hat uns belogen. Er hat, wie Sie herausgebracht haben, das Fremdenheim bereits um sieben Uhr morgens gemeinsam mit Bollschwing verlassen, der eine halbe Stunde vorher zu ihm gekommen war. Und – er hatte eine Morgenzeitung überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen, als er mit dem Güterdirektor fortging. – Erst um halb zehn erscheint er dann bei mir, erfindet sehr ungeschickt als Vorwand seines Besuchs die Geschichte von dem Diebstahl und fragt, wann und ob ich in einer Verkleidung zu [56] reisen gedenke. – Ich glaube, diese Frage war der Hauptzweck seines Kommens. Der Nebenzweck aber der, mich von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, nachdem er umsonst in der Blücherstraße von etwa halb acht an darauf gewartet hatte, daß ich meine Wohnung verlassen und ihm so Gelegenheit geben würde, mich draußen genauer betrachten zu können. In dieser Zwischenzeit wird ihm dann der Einfall gekommen sein, persönlich bei mir vorzusprechen – unter einem Vorwand, den er wahrscheinlich für sehr gelungen hält. – Gewiß, Bollschwing, der mich ja im Klub gesehen haben muß, wenn ich mich auch nicht auf ihn bei der Menge der eingeführten Gäste besinne, wird Blenkner eine genaue Beschreibung von mir gegeben haben. Und nachmittags finden wir dann Bollschwing in der Blücherstraße, wo er doch nur meinetwegen sich stundenlang aufgehalten haben wird. – Was geht aus alledem mit unfehlbarer Sicherheit hervor? Sehr einfach: ein so übergroßes Interesse dieses Freundespaares an dem Manne, der sich anmaßt, das Geheimnis des Sees zu ergründen, daß man notwendig auf den Gedanken kommen muß, diese beiden Herren stehen zu dem Geheimnis in irgend welchen nicht ganz einwandfreien Beziehungen, die sie veranlaßt haben, mir jene etwas stark auffällige Aufmerksamkeit zu schenken. Kurz: sie fürchten mich, wollen daher wissen, wann und ob ich verkleidet fahren werde, und – geben sich alle Mühe, mich schon vor meiner Abreise so etwas dadurch ängstlich zu machen, daß sie – den Kommissar und den Professor für den Zeitungsbericht erfinden. Ich sage – erfinden! Mich hatte es nämlich stutzig gemacht, daß Blenkner heute vormittag bei uns erklärte, auch ihm wäre so etwas Ähnliches mal „zu Ohren gekommen“. Er gebrauchte vorsichtigerweise diese Worte, um sich nicht festzufahren. Mir fielen sie aber auf, da er doch als Neffe des Schloßherrn von Szentowo ohne Zweifel sehr genau über jene Unfälle hätte unterrichtet sein müssen und nicht behaupten durfte, ihm wäre dergleichen nur „zu Ohren gekommen“! – Ich wollte sofort Gewißheit haben und ließ mich mit dem Gemeindevorsteher in Szentowo telephonisch verbinden, bat um strengste Diskretion und fragte nach dem Kommissar und dem Professor, die beinahe auf dem See [57] verunglückt wären. Antwort: „Hier ist nichts dergleichen bekannt und auch nicht passiert – ganz bestimmt nicht. Ich müßte das wissen. Der Herr Graf von Lippstedt hat „die Sache“ nur im letzten Herbst durch einen Berliner Detektiv untersuchen lassen, dieser ist aber sehr bald wieder abgereist. Der Detektiv hieß Holzmüller und war ein Berliner.“ – So, Kollege, nun wissen Sie auch, was es mit dem vorhin erwähnten Telephongespräch nach außerhalb für eine Bewandtnis hat, und nun brauche ich nur über die Besuche bei Doktor von Beltz, meinem Klubgenossen, und bei Detektiv Holzmüller kurz zu sprechen. – Beltz lobte – er ist zuverlässig und verschwiegen – Bollschwing über alle Maßen als vornehmen Charakter und tadellosen Ehrenmann. Auch Blenkner ist ihm persönlich bekannt. Über diesen hörte ich ein ähnliches Urteil nur mit der kleinen Einschränkung: sehr adelsstolz und verschlossen. – Dann zu Holzmüller. Der war eine Niete. Wußte nichts – gar nichts von Bedeutung, hatte acht Tage im Schlosse Szentowo, das ganz dicht am See liegt, gut gegessen und getrunken, vierhundert Mark Honorar eingesteckt und – nur ermittelt, daß der See steinigen Grund hat und durchschnittlich acht Meter tief ist. Während seiner Anwesenheit blieb das rätselhafte Leuchten aus. Die Seenixe streikte eben.“

Harst hatte inzwischen zwei belegte Brote verzehrt, klappte nun den Deckel seiner Drehorgel auf, in die ein Vorratskasten oben eingebaut war und sagte: „Karl Malke hat für das Ding 200 Mark bezahlt. Es ist noch ziemlich neu, spielt drei Walzer, ein Volkslied, einen Marsch und einen Choral. – Wir werden gemeinsam hier im Zuge musizieren. Sie begleiten die Walzer auf der Geige. Diese Art Orchester ist neu.“ – Er holte ein Kognakfläschchen heraus und reichte es Schraut-Schüler. „Nehmen Sie einen Schluck. Etwas Schnapsgeruch gehört zum Musikanten,“ meinte er. „Wohl bekomm’s! Trinken wir auf einen guten Erfolg! Wir haben ja die besten Aussichten dazu. Wäre Blenkner nicht als Ratsuchender bei mir erschienen, so würden wir jetzt noch so gut wie nichts wissen. Nun aber sind wir bereits gewarnt – vor diesem Freundespaar, das uns fraglos in Szentowo gern das Leben [58] recht sauer machen würde, wenn – sie’s könnten, und das sich nun geteilt hat und getrennt seine dunklen Zwecke weiterverfolgen wird, nämlich Blenkner in Berlin und Bollschwing daheim in Szentowo, denn – der Güterdirektor sitzt vorn in einem Abteil 2ter dieses Zuges. Das ist vorläufig meine letzte Neuigkeit.“

Schraut-Schüler schaute etwas verlegen drein. „Neben Ihnen kommt man sich nicht gerade sehr geistvoll vor, Herr Harst,“ meinte er kleinlaut. „Sie haben ja bei der Ermittlung des Doppelmörders Menkwitz Vorzügliches geleistet, ich denke dabei besonders an das Taschentuch, aber – die jetzige „Arbeit“ scheint mir doch die feinere, besser durchdachte.“

„Oh – das soll sich erst herausstellen. Wir sind ja erst am Anfang. Warten wir die Fortsetzung ab. – Da ist auch der Fahrkartenschaffner –“ Er fragte diesen, ob sie nicht hier ein wenig Musik machen könnten, erhielt jedoch die Antwort, die Reisenden wollten nachts schlafen. Morgens – das wäre was anderes.

Harst hatte jedoch in diesem Falle falsch gehofft: trotz der Anbiederung mit den Reisenden sämtlicher Wagen vierter Klasse fand er dann keinen Mitfahrenden, der aus Szentowo oder der Nachbarschaft stammte.

Nachmittags gegen zwei Uhr traf der Zug auf der kleinen Station Malchin ein. Hier stieg auch Bollschwing, ein kräftiger, stattlicher Mann in den besten Jahren, aus und begab sich zu dem auf ihn wartenden leichten Jagdwagen, rief dem Kutscher zu, er solle nach dem Pommerschen Hof vorausfahren und ging dann zu Fuß in das Städtchen hinein, das sich zu beiden Seiten des Bahnhofs hinzog.

Bollschwing schritt sehr eilig dahin. Harst gab Schraut die Weisung, ihn in einer Kneipe, an der sie vorüberkamen, zu erwarten. Mit der Drehorgel auf dem Rücken hielt er sich stets einige dreißig Meter hinter Bollschwing, der bald eine Art Vorstadt betrat, deren Villengrundstücke sämtlich in einer Waldlichtung lagen und an den Forst grenzten. Das letzte Haus war des Güterdirektors Ziel. Es war von Tannen und Buchen dicht umgeben. Harst zweifelte nicht, daß es dasjenige des Schriftstellers Blenkner wäre. Nachdem er die Drehorgel [59] eiligst in einem nahen Gebüsch versteckt hatte, kletterte er von der Seite über den niedrigen Holzzaun und schlich auf das kleine, freundliche Gebäude zu. Der Garten war recht groß, und als Harst nun eine laute Stimme hörte, die wiederholt „Marie – Marie!“ rief, dachte er sogleich an Blenkners alte Wirtschafterin. Er wagte sich weiter vor. Schlimmstenfalls konnte er ja den Bettler spielen.

Marie hatte im Gemüsegarten die Erdbeerbeete in Ordnung gebracht, kam nun Bollschwing entgegengelaufen und wurde von diesem durch Handschlag begrüßt.

Harst lag jetzt hinter einem großen Jauche-Faß. Aber die beiden sprachen so leise, daß er nur wenige Worte verstand.




[60]
3. Kapitel.
Das gräfliche Paar.

Eine Stunde später überholte der Jagdwagen, auf dem der Güterdirektor nach dem Gute Szentowo fuhr, auf der Chaussee zwei Musikanten. Bollschwing saß ganz in der Haltung eines Mannes da, auf dessen Haupt allerlei Sorgen lasten.

„Ich möchte Gedankenleser sein,“ meinte Harst. „Wer weiß, worüber der jetzt nachgrübelt.“

„Dann wäre die Detektivarbeit eine Kleinigkeit, Herr Harst, – dann könnte auch ich eine Millionenwette eingehen.“

„Hm – eine Kleinigkeit! Das schon! Aber – auch eine langweilige Geschichte! Jeder Reiz würde schwinden. Gerade das macht ja das Anregende dieses Berufs aus, daß man zu stetem schärfsten Denken gezwungen ist. Ich habe mir zum Beispiel soeben nochmals die Worte durch den Kopf gehen lassen, die von dem, was ich vorhin in Blenkners Garten erlauschte allein Beachtung verdienen. Es ist dies dir halben Sätze aus Bollschwings Munde: „– nie vergessen, daß er ein sehr gefährlicher Gegner ist und –“ Ich bin nicht eingebildet, aber – ich möchte wetten, diese Worte bezogen sich auf mich. Der Direktor wird die Alte vor mir gewarnt haben.“

Max Schraut erklärte, er wäre derselben Überzeugung. Dann fragte er zögernd: „Ich weiß ja, Sie lassen sich nicht gern über Dinge aus, die nur leere Vermutungen sind, aber [61] – würden Sie mir nicht ausnahmsweise mitteilen, was Sie überhaupt von diesem rätselhaften Leuchten in den Tiefen des Sees halten?“

„Nun – eine Naturerscheinung kommt hier nicht in Frage. Es gibt zwar leuchtende Weidenstümpfe, es gibt Irrlichter[ws 2], das sind leuchtende Sumpfgase, es gibt Leuchtkäfer und so weiter, – doch all das nur auf dem Lande in sauerstoffhaltiger Luft. Unter Wasser sind – mit Ausnahme des sogenannten Meeresleuchtens im Mittelmeer – noch keine auf natürliche Ursachen zurückzuführenden Lichterscheinungen beobachtet worden. Ich habe mich hierüber daheim genau unterrichtet durch Nachlesen im Konversationslexikon. – Was sonst also? – Die Theorie, die ich mir da zurechtgebaut habe, ist zu phantastisch, als daß ich sie Ihnen auftischen könnte, lieber lernbegieriger Schüler. Sie würden mich auslachen, tatsächlich. Wenigstens innerlich, – und aus Höflichkeit würden Sie vielleicht sich so äußern: „Herr Harst, Schatzgeschichten gehören zum Rüstzeug von Familienroman-Schreibern. Trotzdem – wer kann wissen –“ Nein, lassen wir jetzt noch alles Nachsinnen als zwecklos unterwegs. Halten wir uns lediglich an das Tatsächliche. Und das ist der Verdacht gegen Bollschwing und Blenkner. Hier müssen wir die Sache anpacken. Und deshalb will ich auch, sobald wir in der Dorfherberge in Szentowo angelangt sind, zuerst zu dem Gemeindevorsteher gehen und mich diesem anvertrauen, falls der Mann auf mich einen guten Eindruck macht.“ –

Es war bereits kurz nach sechs Uhr, als Harst sich – jetzt ohne Drehorgel – zu dem Gemeindevorsteher begab, der gleichzeitig den größten Bauernhof in Szentowo besaß.

Das Dorf lag keine fünfzig Meter vom See ab auf dem flachen Nordufer. Der kleine See selbst war fast kreisförmig und im übrigen von bewaldeten, ziemlich steilen Höhen eingeschlossen. Das Schloß und die Baulichkeiten des Rittergutes Szentowo wieder erhoben sich mehr nach Osten zu ungefähr hundert Meter vom Dorf entfernt.

Der Gemeindevorsteher Schimmeck war nicht zu sprechen. Seine Frau erklärte Harst, der Herr Graf wäre bei ihrem Manne; er müsse also warten oder später wiederkommen.

[62] Als Harst noch mit ihr im Vorgarten stand, erschien auf der Dorfstraße derselbe Jagdwagen, der den Güterdirektor von der Bahn abgeholt hatte. Jetzt kutschierte eine sehr elegant gekleidete Dame, während hinten stocksteif ein Diener in Livree saß. Der Wagen hielt vor dem Gehöft. Trotzdem blieb Frau Schimmeck ruhig, wo sie war, bückte sich auch und pflücke ein paar Rosenblätter ab, auf denen Blattläuse wie besät saßen. Da rief eine helle Stimme: „Frau Schimmeck, mein Mann ist doch bei Ihnen?“ – „Jawohl, Frau Gräfin.“ Darauf ging sie langsam die Steinstufen zur Haustür empor.

Harst beobachtete alles mit den kritischen Blicken und den ebenso kritischen Gedanken des erfahrenen Menschenkenners. – Hier stimmt irgend etwas nicht, sagte er sich. Die Schimmeck benimmt sich der Gattin des Gutsherrn gegenüber in einer Weise, als gäbe es zwischen ihnen eine starke Abneigung, – mehr noch, als sähe die Bauernfrau jene nicht recht für voll an.

Die Gräfin Lippstedt stieg aus und betrat den Vorgarten. Sie war eine schlanke, große Erscheinung mit einem schmalen, stark gepuderten Gesicht und nachgetuschten Augenbrauen. Harst hatte diese Toilettenkünste mit einem schnellen Blick erfaßt, als er die Dame unterwürfig gegrüßt hatte.

Der Gruß blieb unerwidert. Harst war für die Gräfin Luft. Sie ging auf dem Hauptweg auf und ab, recht ungeduldig und hastig, schaute immer wieder nach der Haustür. Gut zehn Minuten drauf kam der Graf heraus, begleitet von dem Gemeindevorsteher. – „Auf Wiedersehen, lieber Schimmeck. Und – umgehend telephonische Meldung, sobald Sie irgend etwas Neues oder auch nur mit der Sache ganz entfernt Zusammenhängendes hören.“

Schimmeck verbeugte sich wortlos und verschwand wieder im Hause. Der Graf stutzte, als er Harst erblickte, und überhörte sogar die Frage seiner Frau: „Hat er sich nochmals gemeldet, Erwin?“

Graf Lippstedt mochte Mitte dreißig sein. Er war sehr groß, trug Spitzbart, sah auffallend bleich aus und hatte dunkle, strengblickende Augen. Seine Haltung war die eines [63] kränklichen, schwächlichen Menschen: vornübergebeugt mit vorgedrückten Schultern.

„Wer sind Sie?“ fragte er barsch. – Harst zog den schäbigen Filz und erwiderte ganz bescheiden: „Ein Drehorgelspieler – sehr zu dienen. Ich wollte –“

„Ihre Papiere? – Her damit! – Nun – wird’s bald!“

Das war eine böse Patsche für Harst. – Papiere – daran hatte er nicht gedacht.

„Ich – ich habe sie in der Herberge in meiner Drehorgel gelassen –,“ meinte er nun doch recht zuversichtlich.

„Was wollten Sie hier beim Gemeindevorsteher?“

„Um leichte Arbeit bitten. Mein Geschäft geht schlecht.“

Der Graf lachte auf. „Arbeit! Euereiner und Arbeit?!“

Da mischte sich die Gräfin ein. „Erwin, so laß doch den Mann – Bollschwing wartet auf dich.“

„Mag er warten!“ rief er unwirsch. „Du kannst Dir wohl denken, Tilla, weshalb ich –“ Er beendete den Satz nicht, wandte sich wieder an Harst: „Gehen Sie langsam voraus nach der Herberge. Aber – ich warne Sie vor einem Fluchtversuch. Ich trage einen Revolver bei mir. Ich bin hier gleichzeitig Amtsvorsteher.“

Harst verließ den Vorgarten. Der Graf und die Gräfin folgten dicht hinter ihm im Wagen. Vor der Herberge rief Lippstedt: „Holen Sie Ihre Papiere!“ – Inzwischen hatte Harst sich schon überlegt, wie er aus dieser Klemme am besten herauskäme.

Max Schraut saß im Gastzimmer und las in einem alten Kalender. Der Wirt war schnell hinter dem Schenktisch hervorgestürzt und bedienerte nun draußen das gräfliche Paar. „– Her mit Ihren Papieren,“ raunte Harst seinem Gehilfen zu. „Graf Lippstedt will sie sehen. Bisher hat er nach meinem Namen nicht gefragt. – Oh – das fehlte gerade noch!“ Er hatte einen Blick zum Fenster hinausgeworfen. „Er hat einen Gendarm herbeigewinkt. Doch – vielleicht ist’s ganz gut so. – Man wird mich sicher einsperren, Kollege. Gehen Sie zum Gemeindevorsteher und stellen Sie sich als Harald Harst vor. Die Schimmecks sind den Gutsherrschaften nicht sehr gewogen. Bitten Sie Schimmeck um strengste Diskretion [64] und lassen Sie sich alles erzählen, was hier in der Gegend in den letzten Jahren an irgendwie auffälligen Ereignissen vorgekommen ist. Ich werde versuchen, recht bald –“ – Da trat der Gendarm ein – wuchtig, schwerfällig und mit unheilverkündender Miene. Harst ging ihm entgegen. „Herr Wachtmeister, ich will ehrlich sein. Ich besitze keine Papiere. Sie sind mir letztens gestohlen worden.“

„Ach was?! Gestohlen! – Kommen Sie mit.“ – Draußen fragte der Graf den Drehorgelspieler nach dem Namen, schaute ihn dabei in einer Weise an, daß Harst aus diesen bohrenden Blicken, die dennoch eine gewisse ängstliche Unruhe verrieten, die Bestätigung einer Vermutung entnahm, die schon im Garten des Gemeindevorstehers in ihm aufgezuckt war. – „August Müller[12], gnädiger Herr,“ erwiderte er recht kläglich. – Auch die Gräfin hatte sich nun weit vorgebeugt und musterte Harst mit ähnlichen Blicken.

„Bringen Sie den Menschen sofort nach Malchin ins Amtsgerichtsgefängnis,“ befahl der Graf dem Gendarm. „Ich werde morgen persönlich mit dem Amtsrichter dieserhalb Rücksprache nehmen. Ich schicke Ihnen vom Gut einen Einspänner. Dann sind Sie noch vor Dunkelwerden in Malchin.“

Eine halbe Stunde darauf ratterte ein einfacher Kastenwagen die Chaussee entlang. Harst saß hinten auf einem Strohbündel dem Gendarm gegenüber. Er war jetzt sehr zufrieden, daß er sich nicht der Papiere Schraut-Schülers bedient hatte, denn er glaubte, abermals etwas entdeckt zu haben, das vielleicht von Wichtigkeit war. Der Graf[13] hatte zu Schimmeck gesagt: „– oder auch nur mit der Sache ganz entfernt zusammenhängendes –“, und die Gräfin hatte ihren Gatten als erste Begrüßungsworte gefragt: „Hat er sich nochmals gemeldet, Erwin?“ Hierauf verriet der Graf wieder ein recht seltsames Interesse für den Drehorgelspieler, das er dann seiner Frau gegenüber durch den unvollendeten Satz begründete:[14] „Du kannst Dir wohl denken, weshalb ich –“ Schließlich dann noch die scharf prüfenden, mißtrauischen Blicke. – All das genügte Harst zu der Annahme, daß Lippstedt ihn für den hielt, der er in Wirklichkeit war, eben für den Liebhaberdetektiv, der ja bereits einmal von Berlin aus telephonisch [65] mit Schimmeck gesprochen hatte! – Und nun ließ der Graf diesen Detektiv kurzer Hand einsperren, sogar gleich nach dem Amtsgerichtsgefängnis bringen! Wie war das nun wieder zu bewerten? – Harst grübelte über diese Frage gerade nach, als der Gendarm plötzlich sagte: „He, Sie – was haben Sie eigentlich ausgefressen, daß unser Graf mit Ihnen so streng umsprang?“

Harst meinte: „Ich hab ’n reines Gewissen. Man wird mich wieder laufen lassen müssen.“ – „Na – darauf verspitzen Sie sich man ja nicht! Wenn der Graf erst auf jemand ein Auge geworfen hat, dann –“ Er brummelte den Rest in seinen Bart. –

Schraut war froh, daß man ihn ganz unbehelligt ließ. Der Wirt fragte ihn natürlich, was der andere denn auf dem Kerbholz hätte. – „Woher soll ich’s wissen?! Ich bin dem Leierkasten-Kollegen erst auf der Chaussee jenseits Malchin begegnet,“ erklärte der Komiker gleichgültig. „Jedenfalls bin ich ein ehrlicher Kerl. Hier sind meine Papiere, Herr Wirt. – Kann ich wohl bei Ihnen ein paar Tage bleiben. Ich bin mit einem Heulager zufrieden. Und ich helfe auch gern ’n bißchen mit.“ – „Wollen sehen –“

Abends kamen ein paar Bauern zum Skat in die Dorfschenke. Schraut erzählte ihnen gepfefferte Witze und machte Kartenkunststücke. Es ging sehr vergnügt her, und der Wirt merkte, daß Max Schraut ein nutzbringender Gast war. So kam’s denn, daß Harsts Privatsekretär diese Nacht in einem Stübchen neben dem Schankraum in einem sauberen, weichen Bett schlief, während sein Herr mit den Flöhen des Gerichtsgefängnisses zu derselben Zeit einen ebenso erbitterten wie aussichtslosen Kampf ausfocht. – Am Morgen durfte Max Schüler, der Geigenkünstler, den Schweinestall ausmisten. Dann aber zog er es vor, sich zu drücken und zu Schimmeck zu gehen. Dieser arbeitete auf seinem Hof an einem Pfluge. Er war ein älterer, ernster Mann mit der ruhigen Art der alteingesessenen, wohlhabenden Bauern. Sein Gesicht verriet jene Schlauheit, die selbst höhere Bildung entbehrlich macht. Als Schraut ihn nach einigen einleitenden Sätzen fragte, ob [66] er sich auf seine Verschwiegenheit jedermann gegenüber wohl verlassen könnte, meinte Schimmeck bedächtig: „Das können Sie. – Ich merke aus dieser Frage schon, daß Sie kein echter wandernder Musikant sind. Sind Sie etwa gar – Herr Harst? Der Graf sagte gestern zu mir, der Detektiv würde wahrscheinlich in einer Verkleidung herkommen.“

„Ich bin Harald Harst,“ erklärte der Komiker leise. „Nein – danke, – nicht ins Haus. Wir können uns auch hier unterhalten. – Woher weiß der Graf, daß ich in Szentowo auftauchen würde?“

Der Gemeindevorsteher erwiderte, Lippstedt wäre gerade bei ihm im Dienstzimmer gewesen, als Harst vorgestern telephonisch um Auskunft über die angeblichen Unfälle auf dem See gebeten hätte. „Er zeigte gleich ein großes Interesse für Sie, Herr Harst, fragte, ob Sie mich schon früher mal angerufen hätten, und kam dann gestern gegen Abend mit der neuesten Berliner Zeitung zu mir, las mir den Artikel über Sie vor und war sehr aufgebracht darüber, daß – „dieser Unsinn von dem See nun wieder aufgewärmt würde“, wie er sich ausdrückte. Ich soll ihm auch sofort melden, wenn Sie sich hier blicken lassen oder mich nochmals antelephonieren. Natürlich werde ich nun schweigen. Mein Versprechen halte ich. – Hm – Sie möchten wissen, weshalb der Graf es nicht gern sieht, daß über das Leuchten in unserem See gesprochen wird. Ja, das ist nun eigentlich eine merkwürdige Sache, Herr Harst. Bevor ich mich darüber auslasse, will ich noch bemerken, daß unser Graf früher – noch vor einem Jahr – ein sehr gemütlicher Herr war. Dann aber kam seine erste Frau, eine geborene Komtesse Hildegard Hersfeld, bei dem Eisenbahnunglück bei Köslin ums Leben und er heiratete schon nach vier Monaten die jetzige Gräfin Tilla, die bis dahin in Berlin Schauspielerin gewesen sein soll. Er muß sie wohl schon vordem gekannt haben. Seine erste Gattin war kränklich, und – er fuhr sehr viel nach Berlin. Im vorigen Sommer hielt die neue Gräfin nach einer Hochzeit, der von der Verwandtschaft nur der Neffe, ein Herr von Blenkner, beigewohnt hatte, hier ihren Einzug. Nun – sie hat es schnell fertiggebracht, sich und leider auch den ganz unter ihrem Pantoffel [67] stehenden Grafen überall unbeliebt zu machen. Sie spielt sich sehr auf, tut als hätte sie niemals Mathilde Mulack geheißen, hat den Neffen schon zwei Wochen nach der Hochzeit ganz vergrault und – den Grafen zu dem gemacht, der er heute ist, – ein zerfahrener, leicht aufbrausender und körperlich ganz heruntergekommener Mann. Sie hätten ihn früher kennen sollen, Herr Harst! Da war er frisch, lebenslustig, da –“ Und Schimmeck redete in dieser Weise noch eine Weile weiter, bis Schraut ihn fragte, was der Neffe für ein Mensch wäre. „Oh, – ein sehr netter Herr. Ein richtiger Neffe vom Grafen ist’s aber nicht, nur ein Sohn einer älteren Schwester seiner ersten Frau. Er ist Schriftsteller und wohnt drüben in der Kreisstadt.“ – „So so. – Was halten Sie von dem Güterdirektor Bollschwing?“ – „Sehr viel. Ein Ehrenmann durch und durch. Wenn der nicht auf den Besitzungen des Grafen nach dem Rechten sähe, wäre längst alles verlottert.“ – „Wir sind vom Thema etwas abgekommen, Herr Schimmeck. Sie wollten mir doch erklären, weshalb es eine merkwürdige Sache wäre, daß der Graf –“ „Ach so, richtig. – Nun, zunächst das Leuchten im See – damit hat’s seine Richtigkeit. Ich habe es selbst wiederholt gesehen. Der Graf hat nun immer so getan, als ob ihm die Geschichte sehr gleichgültig wäre. Den Detektiv Holzmüller ließ er nur herkommen, weil der Amtsrichter Mörner in Malchin – es gibt dort nur den einen Richter – ihm den Vorschlag wiederholt gemacht hat, die Angelegenheit doch untersuchen zu lassen. Er hat immer über die Sache gelacht und gesagt, es wären ganz sicher Sumpfgase, die auf dem Seegrund brennen. Aber, Herr Harst, – aber in Wirklichkeit war er doch wohl anderer Ansicht, da er viele Nächte im verflossenen Herbst und in diesem Frühjahr sich in seinem Boot auf dem See heimlich herumgetrieben hat, nachdem er sehr bald nach dem ersten Auftauchen des Spuks streng verboten hatte, dort zu fischen oder Kahn zu fahren. Ja – er ließ sogar alle anderen Kähne und Boote unter einem Vorwand zerschlagen. Und dabei gab er sich vor den Leuten stets den Anschein, als wäre ihm das Leuchten im Wasser nicht mal eines Wortes wert.“

Schraut hatte sich auf einen Holzklotz gesetzt und überdachte [68] das soeben Gehörte. – Schade, daß der echte Harst nicht hier war. Der hätte vielleicht aus Schimmecks recht vielseitigen Angaben manches Wichtige herausgefunden. Schraut versuchte dies auch, aber umsonst. Er sah nur das eine mit aller Deutlichkeit: das Geheimnis des Sees wurde immer verworrener. – Wie sollte man wohl Blenkner und Bollschwing dazu in irgend eine Beziehung bringen? – Da begann Schimmeck wieder, der inzwischen ein paar Nägel in den hölzernen Pflug geschlagen hatte: „Richtig – eins fällt mir noch ein, Herr Harst, was für Sie vielleicht auch ganz interessant ist. Im letzten Herbst ist der Familienschmuck der ersten Gattin unseres Gutsherrn gestohlen worden. Der Diebstahl wurde von dem Grafen ganz zufällig entdeckt. Die Schmucksachen lagen in einem geheimen Wandfach in seinem Arbeitszimmer, das er selten öffnete. Als er’s nach einigen Wochen wieder mal tat, fand er das Schloß zerstört vor, und der Schmuck war verschwunden. Unser Gendarm hat diese Sache untersuchen müssen. Aber natürlich kam nichts dabei heraus. Seit dem Diebstahl waren ja schon Wochen vergangen, wenigstens seit dem Tage, als der Graf das Wandfach zum letzten Mal geöffnet hatte. Es wußte ja auch niemand so recht, wann die Schmuckstücke verschwunden waren. Einen Verdacht gegen irgendwen konnte der Graf auch gar nicht äußern. – Ja, Herr Harst, – und nun will ich Ihnen schließlich auch noch als letzte anvertrauen – aber Sie dürfen um Himmelswillen zu keinem Menschen ein Wort darüber äußern – daß ich persönlich der Ansicht bin, die jetzige Gräfin dürfte bei diesem Diebstahl nicht ganz unbeteiligt sein. Eine Nichte meiner Frau ist im Schlosse nämlich beim Güterdirektor in dessen Bureau beschäftigt – als Gutssekretärin. Sie hat nun mal ein paar Worte eines leisen Gesprächs zwischen Bollschwing und seinem Intimus Blenkner aufgeschnappt. Und aus diesen Worten habe ich mir zusammengereimt, daß die beiden Herren die Gräfin Tilla auch nicht für harmlos halten, was den verschwundenen Schmuck anbetrifft. Anderseits geht hier im Dorfe so ein Getuschel um, Herr von Blenkner wäre der Dieb, was der reinste Unsinn ist. Die Nichte meiner Frau meint, die Gräfin hat an diesem albernen Gewäsch [69] schuld. – Sie sehen, Herr Harst, – von den Schloßbewohnern gibt’s so allerlei zu berichten. – Hoffen Sie nun, die Sache mit dem Leuchten aufklären zu können? – Ich helfe Ihnen gern in allem, schon aus Ärger über die Gräfin Tilla, die immer so überlegen lächelt, wenn das Seeleuchten mal erwähnt wird, und die dabei doch ebenfalls so und so oft nachts ihren Mann im Boot begleitet hat. Noch vor acht Tagen habe ich die beiden bemerkt. Ich habe manche Nacht geopfert und am Ufer auf der Lauer gelegen, da ich selbst versuchen wollte, hinter diese seltsame Geschichte zu kommen. Ich bin ja nicht ganz ungebildet, Herr Harst, habe eine Landwirtschaftsschule besucht und mich dann allein aus Büchern über vieles unterrichtet.“

Schraut verabschiedete sich gleich darauf. – Wirklich – ein Jammer, daß Harst eingesperrt war, – besser, daß er sich hatte einsperren lassen, denn es wäre ihm ja ein leichtes gewesen, dem Grafen gegenüber die Maske zu lüften. Nun – er mußte wohl seine Gründe gehabt haben, daß er’s nicht tat. – Am Nachmittag half Schraut beim Unkrautjäten im Garten, und erst nach elf Uhr abends, als die letzten Gäste die Dorfkneipe verlassen hatten, stieg er zum Fenster seines Stübchens hinaus und schlich nach dem See hinab.




[70]
4. Kapitel.
Die falsche Theorie.

Es war Vollmond und klarer Himmel. Schraut hatte sehr bald den bewaldeten Teil des Seeufers erreicht und fühlte sich nun hier im Schatten der Baumkronen weit sicherer. – Der See hatte einen Durchmesser von vielleicht zweihundertfünfzig Meter. Stellenweise hatten Erdrutsche am Ufer stattgefunden, so daß eine Menge Kiefern, Eichen und Buchen halb im Wasser standen. Dies sah recht eigenartig aus. – Als Schraut dann das Schloß Szentowo, einen schlichten Bau mit einem einzigen, massigen Turm, sich gerade gegenüber hatte, setzte er sich auf die steile Uferböschung und freute sich des poetischen Bildes, das der stille Waldsee und drüben das Schloß im Mondenschein darboten. Vielleicht bekam er auch den Grafen und die Gräfin im Boot zu sehen, dachte er. Oder gar das Seeleuchten. – Doch nein – das zeigte sich ja nur in dunklen Nächten – genau so wie das gräfliche Paar als Bootsfahrer. Dann wieder fiel ihm sein Kollege, der Leierkastenmann ein. Er war neugierig, wann Harst sich wohl wieder hier einfinden und was überhaupt bei dieser ganzen Detektivarbeit herauskommen würde. Vermutlich eine Niederlage. Dann war die Wette verloren und Harst seine Million los. – Schraut unterbrach hier seine Gedankenreihe und sog prüfend die Luft ein. – Er roch etwas – etwas das er [71] erst kürzlich kennen gelernt, den Rauch einer ganz bestimmten Zigarettensorte. Dieser süßliche Geruch war unverkennbar. Nur Harsts Mirakulum duftete so. Und Harst führte im Futter seines Filzhutes sechs Päckchen Mirakulum mit sich. – Der Wind kam von Westen. Man sah’s am Kräuseln des Wassers. Schraut drehte also den Kopf nach links und – erstarrte zur sitzenden Bildsäule, – denn links, keine vier Schritt von ihm entfernt, lag – der Drehorgelspieler-Kollege lang auf dem Bauch, hatte die Arme aufgestützt auf den weichen Moosboden und nickte ihm nun gemütlich zu. – „Kommen Sie etwas näher herangerutscht, Schüler,“ meinte Harst und blies dabei den Zigarettenrauch von sich. „Es ist nicht nötig, daß wir hier zu laut uns unterhalten. – So, – guten Abend also. Wie geht’s? – Sie wundern sich, daß ich hier bin? – Ich habe obrigkeitliche Erlaubnis dazu. Der Amtsrichter Mörner in Malchin und der Gefängnisaufseher, sein Untergebener, machen sich eine Ehre daraus, mich zu unterstützen. Ich habe mich Mörner zu erkennen gegeben, und zwar, nachdem der Graf heute vormittag bei ihm gewesen und ihn gebeten hatte, mich wegen Landstreichens und Bettelns zur Abschreckung mindestens vierzehn Tage da zu behalten. Der Graf vermutet nämlich in mir jenen Harald Harst, der – und so weiter. Und da er mir auf diese Weise vierzehn Tage Loch verschaffen wollte, natürlich um mich als Detektiv hier kaltzustellen, kann man annehmen, daß er, was das Seeleuchten angeht, Entdeckungen fürchtet, die – ihn vielleicht ins Loch bringen können. – Übrigens habe ich das gräfliche Paar vorhin im Schloßpark bemerkt. Eine etwas späte Stunde selbst für eine Mondscheinpromenade. Doch – hierüber ein andermal. Waren Sie bereits bei Schimmeck, Kollege? – So, dann erzählen Sie mal, was Sie da erfahren haben. – Aha – der Graf war also während des Telephongesprächs dabei. Hab’ ich mir gedacht. – Die Ehegeschichte – zweite Heirat – kenne ich haarklein vom Amtsrichter. Auch den Diebstahl. Das können Sie sich schenken. – Wie?! Tatsächlich – Schimmeck hat den Grafen und die Gräfin nachts im Boot auf dem See gesehen – und wiederholt? Ah – das ist etwas ganz Neues! Davon weiß Mörner nichts, dem gegenüber [72] Lippstedt ebenfalls immer den Gleichgültigen gespielt hat. Das wirft meine Theorie über den Haufen – schade! Sie war so schön – alles paßte so gut ineinander, sogar der romanmäßige Schatz hatte sich dabei verwenden lassen. Und ich war sehr stolz auf diese Theorie, die mir geradezu zugeflogen kam, als Mörner den Diebstahl erwähnte und die Gerüchte, Blenkner wäre derjenige, welcher –. Blenkner ist ein Mann in sehr bescheidenen Verhältnissen. Und der Schmuck gehörte seiner Tante, der Gräfin Hildegard, der ersten Frau, und war gräflich Hersfeldsches Familieneigentum, das er dann in einer schwachen Stunde, um es der neuen Gräfin zu entziehen, die ihn doch mit ihrem Gatten zu entzweien verstanden hat, geraubt und – in den See geworfen haben konnte. Nachher, so hatte ich weiter gefolgert, tat ihm dieses übereilte Versenken der Juwelen leid, und er suchte sie mit Hilfe Bollschwings wieder – im Taucheranzug und mit einer elektrischen Laterne bewaffnet herauszufischen.“

„Ah – Taucheranzug!“ entfuhr es Schraut. „Sehr richtig. Das erklärt dann auch das Leuchten auf dem Seegrund.“

„Sie sind ja so überrascht, Kollege?! – War Ihnen denn nach meinen naturwissenschaftlichen Bemerkungen auf der Chaussee über leuchtendes Holz, Leuchtkäfer und so weiter nicht sofort klar geworden, daß hier nur ein Mann im Taucheranzug mit elektrischer Lampe und ein zweiter, der die Luftpumpe bediente, in Betracht kommen konnten? – Mir kam dieser Gedanke schon in Berlin, und auch Holzmüller hat an diese Erklärung gedacht, wie er mir sagte. Ich wußte nur nicht, was die Betreffenden auf dem Seeboden suchten. Erst Mörners Mitteilungen ließen die Vermutung in mir aufsteigen, Blenkner und Bollschwing hätten hier als Taucher gearbeitet, was technisch durchaus möglich ist, da der See nur acht Meter Tiefe hat und da man einen beliebig langen Luftschlauch als Verbindung zwischen der an Land befindlichen Luftpumpe und dem Taucherhelm benutzen kann. Ich sage: an Land befindlichen Luftpumpe, – denn diese ließ sich hier im Walde leicht ganz versteckt aufstellen, so daß die beiden Verbündeten nicht nötig hatten, ein Boot zu benutzen. – Doch – zurück zu meiner – leider verfehlten – Theorie. [73] Zu dieser paßte ja auch tadellos das Verhalten Blenkners mir gegenüber. Er fürchtete eben, ich könnte hinter den wahren Sachverhalt kommen, und wollte, so glaubte ich, durch Bollschwing hier schnell alle Spuren beseitigen lassen, die die beiden und ihre Tauchtätigkeit hätten verraten können. Des Grafen Lippstedt scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber die Lichterscheinungen im See hatte ich mir wieder so ausgelegt, daß er sehr wohl den ganzen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl und dem Seeleuchten ahnte, daß er aber aus alter Anhänglichkeit an Blenkner, den er geradezu geliebt haben soll, die Sache ihren Gang gehen ließ. Als er mich, den Liebhaberdetektiv, nun hier in der Maske des Leiermannes zu erkennen glaubte, hat er wohl ähnlich gedacht wie Blenkner, das heißt gefürchtet, ich könnte wirklich alles aufdecken. Deshalb wollte er mich für einige Zeit – kaltstellen, bis sein Neffe eben die nötigen Vorkehrungen getroffen hätte, mir jeden Erfolg unmöglich zu machen. – Sie sehen, lieber Schraut, – nein, lieber Schüler, daß diese Theorie viel Bestechendes an sich hatte. Doch – jetzt ist sie für mich erledigt, wenigstens in dem Hauptpunkt, dem Suchen nach dem Schmuck. – Sie fragen: weshalb erledigt? – Denken Sie doch mal nach. Wenn der Graf, wie ich annahm, die Dinge laufen lassen wollte, wie sie liefen, wenn er seinen Neffen bei der Taucharbeit nicht stören wollte, dann – dann wäre er doch niemals so und so oft mit seiner Frau, die den Schriftsteller förmlich zu hassen scheint und die ihn somit sicher nicht geschont, die der Graf aber aus diesen Gründen auch nie in seine Ansicht von dem See-Geheimnis eingeweiht haben würde, in dunklen Nächten gerade auf dem See umhergerudert – nein, niemals! – Ich bin hier auf falscher Fährte gewesen – auf ganz falscher. Aber – wo finde ich die richtige?“

Er versank in Nachdenken, rauchte schweigend eine zweite, dritte Zigarette, starrte zu der silbern glänzenden Mondscheibe empor und schien Schrauts Gegenwart völlig vergessen zu haben. Dann sprang er plötzlich auf. – „Kommen Sie, Kollege, ich muß mich mal auf Blenkners Grundstück näher umsehen,“ sagte er. „Der Gastwirt besitzt ein Rad. Es steht im Flur. Holen Sie es. Ich habe mir das des Amtsrichters [74] geborgt. Ich habe es dort an der Chaussee im Gebüsch. – Ich muß Gewißheit haben, ob tatsächlich Blenkner und Bollschwing die Taucher sind. Sie dürften die Ausrüstung jetzt, wo sie doch so lange in Berlin waren, bei dem Schriftsteller verborgen haben. Und – die alte Wirtschafterin wird verraten müssen, was sie weiß? – Wie? – das wird sich finden, – trotz der Warnung, die Bollschwing ihr zukommen ließ.“ –

Gegen elf Uhr vormittags machte Amtsrichter Mörner dem „Gefangenen“ einen Morgenbesuch. Harst war gerade bei einem sehr reichhaltigen Frühstück, das ihm der Gefängnisaufseher besorgt hatte. Die beiden Herren schüttelten sich die Hände, und Mörner nahm dann auf dem Holzschemel Platz, während Harst sich auf den Bettrand setzte. Der Aufseher hatte hinter seinem Vorgesetzten die Zellentür wieder abgeschlossen und war davongegangen.

„Nun, haben Sie in der verflossenen Nacht etwas Besonderes erlebt?“ fragte der Amtsrichter gespannt. „Sie wissen ja, wie sehr mich dieser Fall interessiert, mehr noch Ihre Arbeitsmethode. Bisher glaubte ich stets, wirklich geistvolle Detektive wären nur in Büchern zu finden. Übrigens – auch ich bringe eine Neuigkeit. Der Graf war vor einer Stunde bei mir und fragte, ob wir bei dem Landstreicher – also bei Ihnen – auch eine genaue Leibesvisitation vorgenommen hätten. Dann meinte er etwas zögernd, ihm hätte es geschienen, als ob der Leierkastenmann eine fuchsige Perücke und falschen Bart trüge. Ohne Frage wollte er also auf den Strauch schlagen. Ich blieb ganz ruhig und erklärte, er täusche sich. Haar und Bart wären echt. – Da ließ er ein sehr überraschtes Gesicht sehen. Und nach einer Weile wieder sagte er, als ob er plötzlich milder gegen die Vagabunden gesinnt wäre: „Meinetwegen mag der Kerl auch billiger wegkommen. Drei Tage Loch tun’s schließlich auch!“ – Ich merkte auch, daß er stark beunruhigt war, weil Sie nun doch der erwartete Detektiv nicht zu sein schienen. Er sah überhaupt sehr bleich und geradezu verfallen aus. Was ist nur aus dem einst so blühenden Mann in so kurzer Zeit geworden!“

Harst füllte sich die Kaffeetasse. „Das böse Gewissen kann einem übel zusetzen, Herr Amtsrichter. Lippstedt war ein [75] ehrlicher Mensch, bevor er die Mathilde Mulack vor zwei Jahren in Berlin kennen lernte. Jetzt – Doch davon später. – Ich habe durch den Aufseher morgens eine Depesche unter Ihrem Namen nach Berlin geschickt. Die Antwort dürfte mittags eingehen. Bitte händigen Sie mir dann doch das Telegramm sofort aus.“ Er trank die Tasse leer und bot Mörner eine seiner Mirakulum an. – „Sie sind ja ganz versteinert, Herr Amtsrichter. Vielleicht deswegen, weil ich das böse Gewissen erwähnte? – Oh – ich fürchte, zwei Ihrer Zellen hier werden schon morgen sehr vornehme Gäste bergen. Das See–Leuchten ist nämlich schon aufgeklärt. Sollte heute Herr von Blenkner zu Ihnen kommen, so bringen Sie ihn doch zu mir. Ich habe ihm in dieser Nacht – er ist morgens von Berlin eingetroffen – in seinem Landhaus einen Brief zurückgelassen, des Inhalts, daß es für seine Sache vorteilhaft wäre, recht bald sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.“




[76]
5. Kapitel.
Das Erbbegräbnis derer von Lippstedt.

Mörner machte ein sehr wenig geistreiches Gesicht zu alldem. Ihm schwirrte förmlich der Kopf. Ganz mechanisch nahm er von Harst das brennende Streichholz für die Zigarette entgegen. Er wollte dann gerade den Mund zu einer Bemerkung auftun, als draußen im Gang schwere Schritte erklangen. Es war der Aufseher, der nun Harsts Zelle öffnete und meldete: „Herr Amtsrichter, Herr von Blenkner wünscht Sie in einer sehr dringenden –“ – „Führen Sie ihn nur hierher,“ unterbrach Harst ihn. „Wir warten schon auf den Herrn.“

Der Aufseher verschwand verdutzt. – „Sehen Sie, da ist er schon,“ meinte Harst zu Mörner. „Das Vorspiel des Dramas ist zu Ende. Der zweite Akt beginnt, denn der erste spielte sich in dieser Nacht zwischen mir und Blenkners Wirtschafterin ab. Sie werden sofort alles hören.“

Blenkner trat ein. Sein Blick ruhte prüfend auf dem rotbärtigen Leiermann. – „Ah – also hier sehe ich Sie wieder, Herr Harst,“ sagte er überstürzt. Dann reichte er Mörner die Hand. – Harst war aufgestanden und bot Blenkner den Platz auf der Bettkante an. „Bitte – setzen Sie sich. Wir werden so manches zu besprechen haben. Ich stehe gern. – Zigarette gefällig, Herr von Blenkner? – Es ist eine Marke, [77] die im Handel nicht zu haben ist, meine Spezialmarke. – Wie haben Sie es in Berlin herausbekommen, daß ich bereits abgereist war? Waren Sie bei mir zu Hause? – Ah – meine gute Mutter erklärte, ich wäre krank. Ganz wie ich’s ihr angeraten hatte. – So so – und dann haben Sie sofort Lunte gerochen, daß der Vogel in Wahrheit ausgeflogen war. – Doch jetzt wollen wir den Amtsrichter nicht länger auf die Folter spannen. – Die Herren werden ja aus den Zeitungen über meinen ersten kleinen Erfolg als Liebhaberdetektiv unterrichtet sein. Die Aufklärung des an meiner Braut verübten Mordes war bedeutend einfacher als dieser Fall hier, den ich sogar jetzt noch nicht vollständig übersehe, obwohl die Hauptpunkte erledigt sind. Daß die Lichterscheinungen im See nur auf eine elektrische, von einem Taucher gehandhabte Lampe zurückzuführen sein konnten, wußte ich sofort, zumal das Leuchten ja wandern sollte und nicht auf einer Stelle beharrte. Ein Mann im Taucheranzug suchte also irgend etwas auf dem Seeboden, und ein zweiter mußte ihm die nötige Luft mittels der Pumpe zuleiten. Zwei waren also ohne Frage dabei mindestens beteiligt, zwei gute Freunde, – zum Beispiel Sie, Herr von Blenkner, und Ihr Intimus Bollschwing –“ Harst entwickelte nun denselben Gedankengang, den er in der Nacht am Seeufer Max Schüler mitgeteilt hatte. „Unterwegs auf der Chaussee riß an meines Sekretärs Rad die Kette. Ich fuhr allein weiter. Ich klingelte dann kurzer Hand Ihre Marie heraus, Herr von Blenkner. All das kennen Sie bereits. Aber dem Amtsrichter ist es neu. Ich stellte mich Marie als Privatdetektiv Meier vor, der in Ihrem Auftrage käme, um die Schritte des anderen Detektivs Harald Harst zu durchkreuzen. – Marie nickte verständnisvoll. „Vor dem Harst hat Herr Bollschwing mich schon gewarnt,“ meinte sie in ihrer Ahnungslosigkeit und – vertraute mir vollständig. Ich sagte ihr nun – und das war ein Versuch auf gut Glück! – Sie hätten mir befohlen, die Taucherausrüstung sofort im Walde zu vergraben, da sie Ihnen in dem jetzigen Versteck nicht sicher genug verborgen zu sein schiene. – Marie nickte wieder, nahm die Lampe und führte mich in den Stall, wo in [78] zwei großen, scheinbar mit Getreide gefüllten Kisten all das lag, worauf ich aus war. Als ich so sehr schnell ans Ziel gelangt war, erklärte ich dem alten Frauchen, dies Versteck genüge durchaus; wir könnten die Sachen ruhig in den Kisten lassen. Dann bat ich Ihre Wirtschafterin um etwas Genießbares. So fand ich Gelegenheit, mich mit ihr längere Zeit zu unterhalten. Sie plaudert gern, die Alte, rühmte sich, Ihr volles Vertrauen zu besitzen, und – war spielend leicht auszuhorchen. Ich tat, als hätten Sie mich nur oberflächlich in die Sachlage eingeweiht, und obwohl ich nichts wußte, genügten allgemeine Andeutungen, von dem Frauchen zu erfahren, daß Sie, Herr von Blenkner, den Grafen und seine damalige Geliebte Mathilde Mulack im Verdacht hätten, Ihre Tante, die Gräfin Hildegard, ermordet, im See versenkt und das Märchen erfunden zu haben, sie wäre nach einem Streit mit ihrem Gatten nachts heimlich auf und davon gegangen und sodann bei dem Eisenbahnunglück in Köslin mit umgekommen, wobei dem verbrecherischen Paare die Unkenntlichkeit mehrerer bei der furchtbaren Katastrophe halb verkohlter weiblicher Leichen zu statten gekommen wäre. – Ich dankte der Alten herzlichst für alles Empfangene, wobei sich mein Dank freilich mehr auf die geistige Kost bezog, und verließ das Haus. Marie hatte nun auch unter anderem erwähnt, daß die Überreste der Toten – das heißt also der unechten Gräfin – in der Familiengruft im Park des Schlosses Szentowo beigesetzt worden wären. – Ich sagte nun schon, daß ich, bevor ich meinen Gehilfen Max Schüler am Seeufer traf, bereits das Schloß eine Weile umschlichen und dabei dem Grafen und der Gräfin in der Hauptallee des Parkes begegnet war. Sie gingen auf das Schloß zu und sprachen sehr leise miteinander, aber auch sehr erregt. Es war dies genau eine halbe Stunde vor Mitternacht. – Jetzt, als Marie die Familiengruft erwähnt hatte, kam mir sofort der Gedanke: Das Paar ist vielleicht in der Gruft gewesen, um sich zu überzeugen, ob der Verwesungsprozeß an der Leiche der unechten Gräfin so weit vorgeschritten wäre, daß selbst die genaueste Untersuchung eine Entdeckung dieser Leichenunterschiebung unmöglich machte. – Eine Stunde später – der [79] Morgen begann bereits zu grauen – stand ich vor dem gemauerten, tempelähnlichen Erbbegräbnis der Grafen von Lippstedt. Ich drückte ein Oberfenster ein und kletterte in die kleine Kapelle hinein, stieg in die eigentliche Gruft hinab und – fand hier den Deckel eines Eichensarges beiseite gestellt. Dieser Sarg enthielt einen zweiten aus verlötetem Zinkblech, und – dieser zweite war an den Deckelnähten von sehr ungeübten Händen etwa zur Hälfte gewaltsam geöffnet worden. Die Werkzeuge – Blechschere, Stemmeisen und Hammer – waren in dem Sarge des Vaters des Grafen Erwin versteckt. – Wären Sie nun nicht ebenfalls auf die Vermutung gekommen, meine Herren, daß das Paar hier tätig gewesen? – Das lag so greifbar nahe. – Ich fuhr dann schleunigst heim – hier ins Gerichtsgefängnis zurück. Schlafen konnte ich nicht, wenigstens zunächst nicht. Ich ließ also alles nochmals an meinem kritischen Geiste vorüberziehen, was ich der alten Wirtschafterin an Neuigkeiten verdankte. Und, siehe da, – plötzlich machte mein Denken halt! Marie hatte mir berichtet, daß Sie, Herr von Blenkner, den ersten Verdacht gegen das jetzige Ehepaar Lippstedt deswegen gefaßt hätten, weil Ihre Tante Hildegard in einer Lebensversicherung mit 100 000 Mark eingekauft war und weil der Graf für seine Berliner Geliebte derartige Summen verschwendet hatte, daß Bollschwing als Güterdirektor ihn wiederholt warnen mußte, die Besitzungen nicht allzu stark mit Hypotheken zu belasten, – also deswegen, weil Sie argwöhnten, der Graf hätte es auf die Lebensversicherungssumme abgesehen gehabt. Es ist doch so, nicht wahr?“

Blenkner bejahte. „Ich will hier gleich noch folgendes ergänzen, Herr Harst,“ meinte er, froh, einmal zu Worte zu kommen. „Wenn ich Sie so halb als Gegner behandelt habe, so geschah dies lediglich deshalb, weil wir – Bollschwing und ich – mittlerweile doch zu der Überzeugung gelangt sind, daß mein Verdacht hinfällig ist, wenigstens was das Versenken der Ermordeten in den See betrifft. Ich fürchtete nun – denn wir waren entschlossen, weiter nach der Leiche zu suchen, – daß durch Ihr Eingreifen das verbrecherische Paar gewarnt und daß es alles tun würde, um jede, auch die geringfügigste [80] Spur, die zur Aufdeckung des Mordes führen könnte, gründlichst zu verwischen. Deshalb schrieb ich den Brief an jene Redaktion in Berlin und erfand zwei Bootsunfälle, um Sie abzuschrecken. Gewiß – ich hätte mich Ihnen anvertrauen können. Das wollte ich aber nicht, denn mein Onkel Erwin ist ganz fraglos zu diesem Verbrechen nur verführt worden. Ich wollte, falls Bollschwing und ich die Wahrheit an den Tag gebracht hätten, in aller Stille mit dem Paare abrechnen, um die gräfliche Familie nicht bloßzustellen, wollte eine Scheidung zwischen den beiden erzwingen, um dieses intrigante Weib nicht länger die Nachfolgerin meiner Tante sein zu lassen. – Mein Verdacht entstand damals sofort, als ich erfuhr, daß der Graf behauptete, seine erste Gattin wäre bei Nacht und Nebel davongelaufen und dann mittags darauf bei Köslin mitverunglückt, wo er sie nur an einem Brillantring an der linken, sonst halb verkohlten Hand wiedererkannt haben wollte. Ich bin überzeugt, er hat diesen Ring jener Leiche, die gerade am allermeisten durch das Feuer der brennenden Wagen gelitten hatte, nur übergestreift und auch ebenso dann in die Brandtrümmer, die noch glimmten, den Ehering und ein paar andere Schmucksachen hineingeworfen, um es noch glaubhafter zu machen, daß die sonst völlig unkenntlichen Reste die seiner Gattin wären. Gerade damals hatte er nämlich seine Geliebte hier in Malchin als Sommergast einquartiert, und ich habe festgestellt, daß er am Morgen nach der angeblichen Flucht meiner Tante aus dem Schlosse sehr bleich hierhin zu seiner Geliebten gefahren und nach Bekanntwerden der Eisenbahnkatastrophe und ihrer Einzelheiten – Köslin liegt ja nur zwei Stationen entfernt – sehr eilig nach Szentowo zurückkehrte, dann abermals hier nach Malchin kam und nun erst überall erzählte, er fürchte, seine Frau wäre bei der Katastrophe vielleicht mitverunglückt.“

Harst war jetzt anscheinend ein sehr unaufmerksamer Zuhörer. Irgend etwas Neues schien seine Gedanken völlig abzulenken. – „Ich wünschte, ich hätte meinen Stutzflügel hier,“ sagte er jetzt, als Blenkner schwieg. „Ich spiele sehr gern Klavier. Und beim Phantasieren über Wagnermotive – ich [81] liebe Wagner über alles – sind mir schon als Staatsanwaltschaftsasserssor stets die besten Gedanken gekommen. – Bei diesem Morde stimmt etwas nicht, meine Herren. Soeben ist mir eingefallen, daß Marie den Grafen mir ebenfalls – bis auf seine Liebschaft mit der Mulack – als einen untadeligen, gutmütigen Ehrenmann geschildert hat, der für jedermann eine offene Hand hatte und der sich früher größter Beliebtheit erfreute. – Wie sind Sie eigentlich gerade darauf gekommen, daß die Leiche Ihrer Tante in dem See versenkt worden sein soll, Herr von Blenkner?“

„Weil Bollschwing in jener Nacht, als Tante Hildegard aus Szentowo verschwand – überhaupt verschwand, kurz vor Tagesanbruch auf Anstand auf einen Rehbock ging und in der Dunkelheit auf dem See das hellgestrichene Ruderboot, das zum Schlosse gehört, mit einer einzelnen männlichen Gestalt darin auf dem See gesehen hat – ziemlich dicht an der kleinen Anlegebrücke vor der Schloßterrasse, und weil er, bevor er es bemerkte, einen lauten Schrei ebenfalls vom See her hörte. Er kann aber nicht genau sagen, ob der Schrei aus weiblicher Kehle kam. Es war auch mehr ein Ruf, irgend ein Name, der sehr laut geschrien wurde, meint er. Er hat damals diesen Beobachtungen keine Bedeutung beigemessen, und erst als –“

„Schon gut – danke,“ unterbrach Harst ihn, fragte dann: „Trauen Sie Ihrem Onkel Erwin einen Mord zu?“ – „Offen gestanden: nein! Wenn nicht so vieles gegen ihn spräche –“ – „Also nicht, Herr von Blenkner. Das genügt mir, – Ich bin jetzt überzeugt, Ihre Tante ist nicht ermordet worden. Sie befinden sich auf falscher Fährte, genau wie ich, der ich Sie erst für den Dieb des Familienschmuckes hielt und dann ebenfalls einen Mord annahm. – Der Charakter des Grafen und der Schrei sind das ausschlaggebende Moment hier.“ Er rauchte ein paar schnelle Züge. „Was halten Sie überhaupt von diesem Diebstahl?“ – „Er hat nie stattgefunden, Herr Harst. Ich behaupte, die jetzige Frau des Grafen hat ihren Mann dazu zu bestimmen gewußt, ihn zu erfinden, um die Juwelen heimlich in Berlin verkaufen zu können ohne Schädigung des Ansehens ihres Gatten. Bollschwing [82] war es, der im Winter die jetzige Gräfin in Berlin einmal heimlich verfolgt und in einem Goldwarengeschäft hat verschwinden sehen, dessen Inhaber sich dann weigerte anzugeben, was die Dame soeben bei ihm gewollt hätte. Dabei lag aber auf dem Verkaufstisch eine Perlenkette mit einem antiken Verschluß, die nach Bollschwings Beschreibung sehr wahrscheinlich aus dem Familienschmuck stammte.“ – „Das klingt durchaus glaubhaft, zumal doch der Graf anscheinend in letzter Zeit stets stark in Geldverlegenheit war. – Ah – der Aufseher mit einer Depesche. – Aus Berlin – an den Amtsrichter? – Das ist die erwartete Antwort. – Sie gestatten, daß ich vorlese: „Treffe im Auto nachmittags ein. – Wettgegner. Im Auftrage – Kammler!“ – Das ist nämlich der Kommerzienrat Kammler, meine Herren, der eigentliche Urheber der Millionenwette. Er soll an Ort und Stelle erfahren, was es mit dem Geheimnis des Sees auf sich hat und soll, so hoffe ich, genau auch wie Sie beide noch heute – die Leiche der Gräfin Hildegard Lippstedt sehen. – Bitte, fragen Sie nichts mehr, meine Herren. Finden Sie sich um zehn Uhr abends am Ausgange der Stadt auf der Chaussee hinter dem Bahnhof ein.“ –

„Ziehen Sie sich die Schuhe aus, meine Herren. Es geht nicht anders. Wir müssen jedes Geräusch vermeiden.“ So sprach Harst vor der Seitenmauer des Erbbegräbnisses im Park von Szentowo und kletterte dann als erster durch das Fenster in die Kapelle hinein. Mörner, Bollschwing, Blenkner, Kammler und Schraut-Schüler folgten. Sie alle nahmen sich sehr in acht, und so gelangten sie lautlos bis auf die in die Erbgruft hinabführende Steintreppe. Unter ihnen schimmerte Licht. Man hörte metallisches Klirren, lautes Keuchen, das Knirschen einer Stahlsäge, schließlich eine weibliche Stimme:

„Erwin – ich vergehe vor Grauen. Laß doch die Tote, wo sie ist, – ich flehe dich an! Glaube mir, Du hast zu große Angst, daß dieser Harst uns schaden könnte. Wie soll er wohl auf die Vermutung kommen, daß die Tote gerade unten im Zinksarge liegt! – Mein Gott – dieses hier übersteigt meine Kräfte. Ich – ich –“

[83] „Schweig – schweig!! Hast Du nicht den ganzen Plan ersonnen, hast Du mich nicht elend – zum Verbrecher gemacht?! Und jetzt, wo wir die Leiche von hier fortschaffen müssen, da dieser Harst fraglos schon in irgend einer Verkleidung hier herumspioniert – wenn ich nur wüßte, in welcher! – willst Du von Grauen und Angst sprechen, Du – Du, die ich jetzt als meinen bösen Geist verfluche, die mich noch zum Selbstmord treiben wird –“

Da hielt Harst die Zeit für gekommen. Absichtlich räusperte er sich laut, betrat nun die Gruft. Die anderen drängten nach. – Ein gellender Aufschrei der Gräfin. Der Graf selbst stand regungslos neben dem Sarge, schaute den Eindringlingen mehr überrascht als erschrocken entgegen.

„Herr Graf,“ begann Harst, indem er auf den Zinksarg deutete, „schon gestern Nacht verriet mir Ihre begonnene Arbeit da, daß Ihre erste Gattin sehr wahrscheinlich mit der unechten Gräfin diese letzte Ruhestätte teilte. Die Gräfin Hildegard hat sich aus Kummer über ihre unglückliche Ehe in jener Nacht im See ertränkt. Sie eilten ihr nach, riefen laut ihren Namen, konnten aber den Selbstmord nicht mehr verhindern, fischten die Leiche heraus, die wohl im flachen Wasser gelegen haben wird, verbargen sie, fuhren zu Ihrer Geliebten nach Malchin, die Ihnen dann den Gedanken eingab, die Eisenbahnkatastrophe dazu zu benutzen, den Selbstmord zu verheimlichen und einen Versicherungsbetrug in Szene zu setzen, da die Versicherungsgesellschaft bei Selbstmord die 100 000 Mark nicht auszuzahlen brauchte. – Sie sind dann, als das Leuchten auf dem Seegrunde sich zeigte, häufig nachts im Boot auf dem See gewesen, um diese Erscheinung selbst zu untersuchen, die sie bei Ihrem belasteten Gewissen beunruhigt haben wird. Anderseits wollten Sie aber auch nicht die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf dies seltsame Phänomen lenken, damit nicht etwa Schloß Szentowo und der See der Mittelpunkt Ihnen sehr ungelegener Nachforschungen würden. – Da Sie zu alledem schweigen, nehme ich an, daß ich meine Aufgabe hier restlos erfüllt habe.“

Graf Lippstedt verbeugte sich knapp, wandte sich dann [84] an den Amtsrichter Mörner: „Wir, jene Frau und ich stehen zu Ihrer Verfügung.“ –

Eine Woche später starb er im Gefängnis an plötzlichem rapiden Kräfteverfall, nachdem er noch zugegeben, daß seine zweite Gattin ihn zum heimlichen Verkauf des Familienschmuckes gleichfalls zu bestimmen gewußt hatte.

Als Harald Harst dies durch einen Brief Blenkners erfuhr, war er bereits mit der Lösung seiner neuen Aufgabe beschäftigt, die ihm seine Wettgegner gestellt hatten. Der Brief interessierte ihn kaum noch, denn seine Gedanken waren vollständig durch die schwierigen Ermittlungen in Anspruch genommen, die dem Morde an dem Geldbriefträger Schmiedicke galten.

Nur Max Schraut hob den Brief als wertvoll auf, denn Harst hatte ihm ja, als er des ehemaligen Komikers schriftstellerische Ader festgestellt hatte, geraten, alles zu sammeln, was mit den Wettproblemen zusammenhing, und dies später in Form von Erzählungen zu veröffentlichen. Auf diese Weise ist diese Sammlung von Detektivgeschichten zustande gekommen.




[85]
Der Mord im Sonnenschein.


1. Kapitel.
Der erste Tag im Hotel.

Harst sagte in jenem etwas lebhaften Tone, den er mir gegenüber zumeist anschlägt, wenn ich wieder einmal bewiesen habe, daß ich tatsächlich noch recht unzulänglich als sein Privatsekretär und Gehilfe bin: „Lieber Schraut, jeder Erfolg hängt von der Sorgfalt unserer Arbeit ab. Eine Kleinigkeit vernachlässigen, heißt das Ganze aufs Spiel setzen. Vergessen Sie nicht, daß wir diesmal als Konkurrenten der „Offiziellen“, also der Kriminalpolizei, in die Erscheinung treten werden und daß meine Millionenwette so gut wie verloren ist, wenn die „Offiziellen“ uns erkannt haben, denn dann finden wir überall mehr Steine auf dem Wege, als uns zuträglich sein kann. – Nein, unser Erfolg wird um so sicherer sein, je mehr wir dafür sorgen, daß niemand in uns Harald Harst und Max Schraut vermutet. Deshalb reisen wir auch getrennt nach Hamburg, treffen uns dort und kehren vereint hier nach Berlin zurück. Inzwischen wird dann unser junger Freund und Verbündeter Karl Malke hoffentlich die Stelle als Liftboy erhalten haben, so daß wir zu dreien an meine neue Aufgabe herangehen können.“

Als er so zu mir sprach, waren wir kaum vor zwei [86] Stunden aus Szentowo wieder in Berlin eingetroffen. Während der Eisenbahnfahrt von Malchin hatte Kommerzienrat Kammler, der Beauftragte der Wettgegner Harsts, diesem die zweite der zwölf Aufgaben genannt, die mein Gönner und Brotherr sämtlich zu lösen verpflichtet war, falls er eben nicht seinen Wetteinsatz, eine runde Million, einbüßen wollte.

Diese neue Aufgabe lautete: „Restlose Aufklärung des an dem Geldbriefträger Wilhelm Schmiedicke im Hotel Sonnenschein verübten Raubmordes.“ – Ich brauche über dieses Verbrechen, das acht Tage lang das Tagesgespräch in Berlin hauptsächlich wohl deswegen bildete, weil den Mördern nicht weniger als 13/4 Million an Bargeld und Wertpapieren in die Hände gefallen war, hier nur das Nötigste anzugeben, denn es dürfte noch ziemlich frisch in aller Erinnerung sein.

Am 3. Mai kehrte der Geldbriefträger Schmiedicke von seinem Bestellgang, auf dem er sehr viele Banken, Geschäfte und Privatleute zu besuchen hatte, nicht zurück. Da kurz vorher schon ein anderer Geldbriefträger in eine Falle gelockt, ermordet und ausgeraubt worden war, wurden an demselben Abend die sorgfältigsten Nachforschungen nach Schmiedickes Verbleib angestellt. Doch erst am 4. Mai mittags fand man ihn zufällig im Hotel Sonnenschein in Zimmer Nr. 47 tot auf, gefesselt an einen Stuhl und mit einer Leine erdrosselt. Die Kriminalpolizei hätte fraglos noch längere Zeit nach ihm suchen müssen, wenn eben nicht dem Zimmerkellner von Nr. 47 aufgefallen wäre, daß er die beiden Herren, die die Zimmer 46 und 47 seit etwa vierzehn Tagen bewohnten, seit dem 3. Mai mittags nicht mehr gesehen hatte. Er meldete dies dem Hotelbesitzer August Schütze. Ein Schlosser öffnete dann die Tür von Nr. 47, da die beiden Herren in die Schlösser mit Schützes Erlaubnis Schloßsicherungen hatten anbringen lassen, die ohne Hilfe eines Fachmannes sich nicht aufsprengen ließen, wollte man nicht die Tür halb zerstören. Zum Entsetzen der Eintretenden entdeckte man nun den verschwundenen Postbeamten, neben dem die völlig geleerte Ledertasche lag, tot auf dem Stuhl unter einer darüber geworfenen Bettdecke. Die beiden Bewohner von 46 und 47, die sich als Vater und Sohn, Kaufleute Emil und Viktor Reupert aus Bremen ausgegeben [87] hatten, waren mit ihrer Beute also längst über alle Berge, als der Ermordete gefunden wurde, und hatten einen Vorsprung von etwa 24 Stunden, was gewiegten Verbrechern – und um solche handelte es sich hier doch fraglos nach der ganzen Art der Vorbereitung und Ausführung – vollauf genügt, alle Spuren hinter sich zu verwischen. So war es auch. Die Kriminalpolizei war am 12. Mai, als Kammler meinem Brotherrn die neue Aufgabe stellte, bei der Untersuchung des überaus schwierigen Falles noch keinen Schritt weiter gekommen, wenn man von einigen unwesentlichen Feststellungen absieht. Emil und Viktor Reupert hatte geradezu der Erdboden verschluckt, obwohl der ältere, der angebliche Vater, ein auffallend langer, dünner Mensch mit einem Feuermal an der linken Wange gewesen war, während Viktor (das waren natürlich alles angenommene Namen; in ganz Bremen gab es keinen Kaufmann Reupert) einen künstlichen linken Arm gehabt hatte, beide also besondere Kennzeichen besaßen, die ihre Verfolgung wesentlich hätten erleichtern müssen. –

Am 12. Mai abends gegen 7 Uhr hatte Harald Harst jene eingangs erwähnten Sätze gesprochen und dann hinzugefügt: „Immerhin brauchen wir diesmal nicht zu befürchten, daß diese neue Aufgabe, wie es bei der vorigen der Fall gewesen, durch die Zeitungen, die ja meiner Wette spaltenlange Artikel gewidmet haben, wieder in alle Welt posaunt wird. Ich habe Kammler verpflichtet, dieses zweite Problem ebenso wie die ferneren bis nach der jedesmaligen Erledigung streng geheim zu halten. Trotzdem will ich keine Vorsicht versäumen, damit wir wirklich inkognito im Sonnenschein absteigen, wie ich schon sagte. Sie fahren noch heute abend, natürlich verkleidet, und ich folge morgen früh. Morgen nachmittag treffen wir uns im Alsterpavillon gegen sechs Uhr. Sie besorgen inzwischen in Hamburg einen eleganten fahrbaren Krankenstuhl und ein paar ältere Koffer sowie allerlei gebrauchte Sachen zum Füllen der Koffer. Wir werden reichgewordene einfache Leute darstellen. Danach richten Sie sich bei den Einkäufen.“ Während er mir diese Befehle erteilte, saß er an seinem Stutzflügel in seiner Bibliothek und [88] phantasierte leise über Motive aus Wagners Walküre. Seine geliebte, süßlich duftende Mirakulum hing ihm im Mundwinkel. Er spielte künstlerisch, und es war ein Genuß, ihm zuzuhören. Nach einer Weile erklärte er dann ganz unvermittelt:

„Ich habe die Berichte in den Zeitungen über den Schmiedicke-Fall gesammelt und sehr genau studiert. Sie doch auch, Schraut, nicht wahr?“ – „Gewiß, vor kaum zehn Minuten,“ erwiderte ich. – „Was ist Ihnen dabei aufgefallen?“

Diese Frage kannte ich schon. Mir sollte auch bei der Geschichte in Szentowo so alles Mögliche auffallen. Aber – Harst stellte eben zu große Ansprüche an mich als seine bescheidene Hilfskraft. Er maß zu sehr mit eigenem Maße. Wie konnte ich wohl wie er, der doch für den Detektivberuf geradezu hervorragend begabt ist, sofort überall da Besonderes wittern, wo ganz winzige Unstimmigkeiten in dem Tatsachenmaterial sich zeigten?! – Ich antwortete daher auch jetzt diplomatisch: „Vorläufig ist mir nichts aufgefallen. Ich werde die Berichte aber nochmals durchsehen.“ – Er schlug ein paar dröhnende Baßakkorde an, die wie ein ärgerlicher Ausruf klangen. Dann sanken seine Hände von den Tasten herab. „Ich glaube weder an das Feuermal des einen noch an den künstlichen Arm des anderen,“ sagte er. „Die beiden Burschen haben als geriebene Verbrecher diese besonderen Kennzeichen nur vorgetäuscht, um nachher desto sicherer zu sein. Wer einen solchen Millionenraub plant, darf auf der Wange keinen talergroßen rotbraunen Fleck haben und wählt sich nicht gerade einen Einarmigen zum Komplicen.“ – Ich wagte zu bemerken, daß doch der Zimmerkellner von 46, 47 verschiedentlich gesehen hätte, wie Viktor Reupert nur den rechten Arm gebrauchte, während der linke Unterarm mit der handschuhbekleideten künstlichen Hand stocksteif auf dem Tisch ruhte. – Harst stand vom Flügel auf, meinte: „Na – warten wir ab, lieber Schraut. Die Offiziellen schwören scheinbar auch auf diesen künstlichen Arm, genau so wie sie auch den Fehler begehen, dem Hause Preßburger Straße 5 viel zu geringe Beachtung zu schenken. – Doch – genug [89] jetzt davon. Rüsten Sie sich. Es wird Zeit. Ihr Zug geht 9 Uhr 45 ab Lehrter Bahnhof.“ –

Ich bin jetzt einundvierzig Jahre alt. Aber der Herr, der dann den Hamburger Zug bestieg und es sich an einem Fensterplatz 2ter, Raucherabteil, bequem machte, war mindestens sechzig. Nun – für mich als früheren Schauspieler ist „Maske machen“ nicht schwer. Harst hat’s wieder von mir gelernt. – Kurz vor Abgang des Zuges kam noch ein langbärtiger Kerl herein, der einen starken Fuselgeruch mitbrachte und der offenbar leicht angetrunken war. Sein Gesicht war die typische Säuferphysiognomie. Und trotzdem: es war Harst! – Erst als wir zehn Minuten unterwegs waren, sprach er mich an. Wir waren die einzigen Reisenden in unserem Abteil. Wir unterhielten uns nur über nebensächliche Dinge, bis Harst mir dann die neueste Abendzeitung reichte und auf eine bestimmte Stelle darin deutete. – Ich las die dickgedruckte Überschrift (es war eine Anzeige in Größe 6 mal 6 Zentimeter): „Fünf Preßburger“ – darunter – „wünschen die Bekanntschaft hübscher, heiratslustiger, junger Damen zu machen. Diskretion zugesagt. Briefe unter K W 111 an die Expedition dieser Zeitung.“ – Ich ließ das Blatt sinken. Da beugte Harst sich weit vor und flüsterte mir zu: „Es ist die erste Spur, Schraut. Merken Sie sich: Im Annoncenteil steht manchmal mehr als unter Allerneuestes. – Gute Nacht. Ich schlafe jetzt.“ – Er lehnte sich in seine Ecke zurück, streckte die Beine aus und schien wirklich in kurzem eingeschlummert zu sein. Mein Ehrgeiz hielt mich dagegen noch lange wach. Ich grübelte über Harsts Worte nach. – Erste Spur?! – Ich sann und sann. Dann – kam mir wie ein Blitz die Erleuchtung. Ich erinnerte mich: Harst hatte ja Preßburger Straße 5 erwähnt! Und in der Anzeige hieß es „Fünf Preßburger“! – Ja – diese scheinbare Heiratsannonce hielt er für den Beginn einer Fährte – ohne Zweifel! – Ich muß hier einfügen (für die Leser, die die Einzelheiten der Mordsache Schmiedicke nicht mehr genügend gegenwärtig haben), daß der Geldbriefträger lebend zuletzt im Hause Preßburger Straße 5 von der Frau Regierungsrat Walter gesehen worden war (gegen elf Uhr vormittags am 3. Mai), [90] der er eine Postanweisung auszuzahlen gehabt hatte. Er war dann also fraglos von der Walter direkt nach dem um die Ecke in der Fröbelstraße liegenden Hotel Sonnenschein zu den Reuperts gegangen, obwohl er noch in den Gebäuden bis zum Hotel hin eine Menge Bestellungen zu erledigen hatte. Daher nahm die Kriminalpolizei auch an, daß die Reuperts, die fast täglich Geldbeträge per Post erhalten hatten, ihn durch die Zusicherung eines guten Trinkgeldes dazu bestimmt hatten, gerade am 3. Mai seinen Bestellgang zu unterbrechen und zu einer gewissen Zeit sich bei ihnen einzufinden.

Ich war sehr stolz darauf, daß ich den Zusammenhang zwischen der Anzeige und Preßburger Straße 5 entdeckt hatte. Als ich dann in Hamburg Harst dies mitteilte, sah er mich fragend an. „Na – und weiter?“ meinte er. – „Ja – was denn weiter?“ sagte ich etwas unsicher. Er klopfte mich auf die Schulter: „Lieber Schraut – das weitere ist ja gerade die Hauptsache! Doch – lassen wir’s jetzt.“

Den 13. Mai über blieben wir in Hamburg. Am 14. morgens reisten wir nach Berlin. Mein Krankenstuhl stand im Gepäckwagen. Ich fuhr erster Klasse und war jetzt der frühere Gutsbesitzer Michael Schrammel aus Neuhof bei Hamburg, der infolge eines Schlaganfalls zumeist von seinem Pfleger und Diener Heinrich Hinkel, welcher bescheiden in der 3ten saß, gefahren werden mußte und der in Berlin einen berühmten Professor konsultieren wollte.

Das Hotel Sonnenschein in der Fröbelstraße war damals ein erst zwei Jahre alter Prachtbau mit allem modernen Komfort. Der Besitzer August Schütze, ein früherer Oberkellner, konnte mit seinem Einfall, sein Hotel nicht wie üblich „Astoria“, „Zentral“, „Kontinental“ oder so ähnlich getauft zu haben, sehr zufrieden sein. Sonnenschein – das behielt jeder, das wirkte erwärmend, lockend, vielverheißend. Und – Hotel Sonnenschein war denn auch immer sehr gut besetzt. Wir hatten von Hamburg aus telephonisch nach freien Zimmern angefragt, drei belegt und fanden daher bei unserer Ankunft alles in Nr. 30, 31, 32 bereit. Sie lagen den bewußten 46, 47 in der 2. Etage schräg gegenüber und dicht an der Haupttreppe und dem Fahrstuhl.

[91] Harst spielte den langjährigen, treuen und vertrauten Diener vorzüglich. Er trug eine solide Nickelbrille, leicht ergrauten, kurzen Vollbart und zu einem fertig gekauften blauen Anzug mit ehrbaren Harmonika-Hosen Schaftstiefel, die stets nach Tran dufteten. Seine leicht gerötete Nase verriet eine kleine Vorliebe für Alkohol in jeder Form. Seine Stimme war stets rauh wie ein Reibeisen, und seine Geschwätzigkeit und unterwürfige Höflichkeit gegenüber dem Hotelpersonal mustergültig. – Wir hatten deshalb drei Zimmer genommen, um im mittelsten, 31, vor Lauschern völlig sicher zu sein. Harst schlief in 32, ich in 30, und 31 war der gemeinsame Wohnraum, wo wir auch die Nebenmahlzeiten einnahmen.

So begannen wir also am 14. mittags an Ort und Stelle mit unserer Arbeit. Nun – ich will den Mund nicht zu voll nehmen, denn mein Teil an dieser Arbeit war recht bescheiden. – Gleich nach unserer Ankunft packte mein treuer Heinrich Hinkel mich ins Bett, da ich angeblich von der Fahrt sehr angegriffen war. Er brachte mir Bücher, Zeitungen, Eß- Trink- und Rauchbares und verschwand bis gegen neun Uhr abends. Ich langweilte mich über die Maßen trotz eines Kriminalromans, den er mir gekauft hatte und der recht spannend war. Wenn man aber selbst an einer Verbrecherjagd beteiligt ist, hat selbst die beste Detektivgeschichte nur wenig Reiz.

Endlich erschien mein alter Heinrich dann und erklärte, nun bei mir bleiben zu wollen, half mir beim Anziehen und führte mich in unser Wohnzimmer. Hier ließ er die Maske fallen, nachdem er die Doppeltür nach dem Flur verriegelt und über das Schlüsselloch ein Tuch gehängt hatte. – „So, lieber Schraut, – jetzt können wir mal für eine Weile wir selbst sein,“ meinte er und setzte sich in den zweiten Korbsessel, zündete sich eine seiner geliebten Mirakulum an und sog den Rauch mit Behagen ein. „Zwei von den Offiziellen habe ich schon herausgefunden,“ fuhr er fort. „Ich kenne sie noch von meiner Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft her. Tüchtige Leute sinds, besonders der Kriminalwachtmeister Schilling, der hier jetzt den Oberkellner mimt. Der andere tritt als Hotelgast, Geschäftsreisender, auf. Mit Schilling [92] habe ich mich bereits angebiedert. Er hält mich für durchaus echt als Heinrich Hinkel, das merkte ich, hält mich außerdem für einen harmlosen Schwätzer, der gern guten Kognak trinkt. – Übrigens unser Karl ist auch schon da. Er sieht in seiner Liftboy-Uniform mit angeklebtem Scheitel wie eine uniformierte Hopfenstange aus. Er hat jetzt Dienst und fuhr mit mir nach oben. Als ich mich ihm zu erkennen gab, war er nicht im geringsten überrascht, sagte nur: „Herr Harst, Sie müssen den Kopf gebückter tragen. Mit der Kopfhaltung sind Sie noch zu sehr Assessor. Ich habe Sie beide gleich erkannt, als Sie ankamen.“ – Ein tüchtiger Junge, sehr brauchbar. Er ist seit gestern hier in Stellung. Seine geringe Lohnforderung ließ ihn zwanzig Mitbewerber aus dem Felde schlagen.“

„Und unsere Sache – wie steht’s damit?“ fragte ich, denn ich konnte mir nicht gut denken, daß Harst all die Stunden erfolglos außerhalb unserer Zimmer zugebracht hätte.

„Hm – unsere Sache –, faul, oberfaul! Diesmal hat mir Kammler ein bemaltes Eisenstück als Nuß zum Knacken gegeben.“ – „Na, na – es wird schon werden,“ tröstete ich. „Sie haben doch die Anzeige zum Beispiel, die – fünf Preßburger, von denen Sie ja behaupten, es wäre die erste Spur.“

Er beschaute seine Fingernägel, die jetzt Hoftrauer zeigten, weil ein Heinrich Hinkel aus Neuhof bei Hamburg doch nicht gut mit tadellosen Nägeln herumlaufen konnte. – „Auch ein Eisenstück läßt sich schließlich breitschlagen,“ meinte er, immer im halben Flüsterton. „Das ist meine einzige Hoffnung jetzt, nachdem die erste Spur in nichts zerronnen ist.“ – „So? – Schade. Darf ich nicht Einzelheiten darüber hören?“ – „Gewiß. – Ich war auf der Zeitungsexpedition – vier volle Stunden. Um 3/46 kam eine junge Dame mit dem Ausweis und holte die eingelaufenen Offerten unter K W 111 ab. Es waren nur zwei. Mithin muß sie schon die Hauptmenge vorher geholt haben. Sie öffnete die beiden Briefe sofort im Expeditionsraum an einem der Schreibpulte, machte ein sehr enttäuschtes Gesicht und fuhr dann mit einem Omnibus bis zur Karlstraße, wo sie im Fremdenheim Pestell wohnt. Sie heißt Gertrud Hold und sieht auch recht [93] hold, wenn auch ebenso traurig aus. Sie ist die Tochter des Rechnungsrats Hold aus Eberswalde und sucht hier eine Stellung als Gesellschaftsdame, Empfangsdame oder dergleichen. Ich verdanke diese Einzelheiten der Pensionsinhaberin, der Witwe Pestell, bei der ich seit heute ein Zimmer belegt und für acht Tage für einen Neffen vorausbezahlt habe, der morgen ankommen soll und nie ankommen wird, da der arme Junge, der ja gar nicht existiert, erkranken wird. Auf diese Weise kann ich häufiger bei der Pestell mich zeigen, die offenbar für Geld alles tut – auch spionieren.“

„Aber – aber, – wozu dies alles, wenn Sie doch von der Anzeige sich nichts versprechen?“ meinte ich mit ehrlichem Erstaunen. Worauf Harst die vierte Mirakulum am Stummel der dritten anrauchte und entgegnete: „Oh – die Gertrud Hold gefällt mir, lieber Schraut, hauptsächlich deswegen, weil sie sich mit ihren Eltern eines Menschen wegen überworfen hat, der ein Taugenichts sein soll. Und Taugenichtse interessieren mich immer.“ Er gähnte zwanglos. „Ich hatte gehofft,“ fuhr er etwas lebhafter fort, „daß ein Mann die Offerten einfordern würde. Insofern ist diese Spur ein Fehlschlag – aber nur insofern, lieber Schraut. – Gute Nacht. Ich bin müde. Sie finden wohl allein ins Bett.“

Ich lag noch eine ganze Weile wach und schlief dann mit der Überzeugung ein, daß Harst es mit mir jetzt wieder genau so machte wie in Szentowo, wo er mich auch zumeist mit halben Andeutungen abspeiste. – Gertrud Hold war ihm – interessant. Arme Gertrud! Dieses Interesse eines Harald Harst für Deine holde Person ist nicht ganz ungefährlich.




[94]
2. Kapitel.
Der neue Gast.

Die beiden ersten Erfolge meines Brotherrn und Gönners, zugleich auch meine beiden ersten schriftstellerischen Versuche, (ich meine Heft 1 und Heft 2 dieser Sammlung[ws 3]) habe ich nicht in der sogenannten Ich-Form abgefaßt. Harst meinte, nachdem er sie gelesen, ich solle für diese dritte Erzählung besser die persönliche, also die Ich-Form wählen. „Ich glaube, Sie vereinfachen sich damit die Arbeit und vermeiden unnötige Längen, lieber Schraut.“ – Nun – er mag recht haben – wie immer.

Ich schlief bis gegen acht. Dann weckte mein Heinrich mich. – „Herr Schrammel, es ist heute so prächtiges Wetter. Ich werde Sie auf die Hotelterrasse bringen. Dort haben Sie die belebte Straße und den Hoteleingang vor sich.“ Dies sagte er laut. Dann ganz leise, wobei er mir den Stehkragen anknöpfte: „Falls einer der Kellner sich mit Ihnen unterhalten sollte, so suchen Sie herauszubringen, ob die Reuperts hier des öfteren den Besuch eines kleinen, pockennarbigen Mannes mit auffallend langen Armen empfangen haben.“

Eine Viertelstunde später saß ich mit Kissen im Rücken in einem Korbsessel auf der Terrasse und nahm das erste Frühstück ein. Mein Heinrich blieb bei mir, bis ich mit dem Morgenkaffee fertig war und legte mir dann eine Zeitung [95] in den Schoß, deutete auf etwas ganz dick Gedrucktes: Amnestie-Erlaß! – Dann ging er, angeblich zu dem berühmten Professor, den ich konsultieren wollte. Ich aber las – las und mein Herz hüpfte vor Freude. Mit Recht. Ich hatte ja noch etwas – auf dem Kerbholz, hatte ja einst als Komiker-Maxe eine traurige Berühmtheit als Taschendieb gehabt und war erst auf Harsts warmes, verstehendes Herz wieder auf den schmalen Pfad der Ehrlichkeit gelangt. Und jetzt die Amnestie! Ich brauchte nicht mehr zu fürchten, daß ich als aus der Strafanstalt entwichener Häftling wieder ergriffen würde! Ich war frei, frei, konnte ohne heimliche Angst unter den Menschen mich bewegen, brauchte nicht mehr als „Max Schüler“ Harsts Privatsekretär zu sein wie damals in Szentowo! –

Gegen elf Uhr fuhr ein Auto vor und brachte einen neuen Hotelgast. Ich hatte mich gerade mit Herrn August Schütze, dem Gründer des „Sonnenschein“, unterhalten und von ihm auch glücklich herausgeholt, daß die Reuperts nie bei sich Besuch gesehen hätten – niemals. Noch manches andere hatte er über die beiden jetzt steckbrieflich verfolgten Mörder erzählt, über ihre Lebensweise, ihr bescheidenes Auftreten und ihr Bestreben, mit all und jedem gut Freund zu sein.

Da kam das Auto. Ich habe vorzügliche Augen. Ich sah, daß der kleine, überelegant gekleidete Herr, der ihm entstieg und der zwei große Koffer mit sich führte, Pockennarben im Gesicht hatte, sah’s trotz des blonden Spitzbarts, der die Wangen bedeckte und den ich sofort für unecht hielt, bemerkte weiter zwei sehr lange Arme und dazu Hände von Handschuhnummer 12 etwa.

Ich saß nun buchstäblich wie auf Nadeln. Wo nur Harst so lange blieb! Er wollte doch spätestens um halb zwölf zurück sein. Wo war er überhaupt? Etwa wieder hinter der holden Gertrud her?

Dann drückte sich unser Karl in meiner Nähe herum. Ich ahnte, daß er etwas wollte. – Ich rief ihn an: – „Bringe mir ein paar Zeitschriften, Junge!“ – Es dauerte gut fünf Minuten. Dann erschien er wieder, legte mir Sport im Bild [96] in die Hände und flüsterte: „Vorn ein Zettel für Harst –“ – Er mußte ihn eben erst geschrieben haben. Ich las: „Pockennarbiger mit Affenarmen auf Nr. 29 als Ingenieur Josef Bremer. Zwei große, neue Koffer. Kommt angeblich aus Wien. Will nur vier Tage bleiben.“ – Den Zettel schob ich dann in den Ärmel. Er bewies mir, daß Harst auch unseren kleinen Verbündeten auf den Mann mit den Pockennarben aufmerksam gemacht hatte.

Erst um zwölf kam mein treuer Heinrich mit einem Auto vorgefahren, geleitete mich mit Hilfe des Portiers in den Kraftwagen und erklärte, der Herr Professor erwarte uns. Wir landeten aber im Tiergarten, saßen hier im richtigen Sonnenschein auf einer Bank und tauschten unsere Erlebnisse aus. Als Harst hörte, daß ein Pockennarbiger in unserem Hotel vorhin abgestiegen wäre, erstarrte er geradezu. Ich habe nie wieder ein so verblüfftes Gesicht an ihm gesehen wie damals. – „Unmöglich!“ meinte er, „unmöglich! – Wenn’s der ist, den ich im Auge habe und nach dem Sie die Kellner ausholen sollten, dann – dann ist die Geschichte wirklich oberfaul für uns! Denn als ich gestern abend diesen Ausdruck gebrauchte, leistete ich mir nur einen kleinen Scherz, lieber Schraut. In Wahrheit hoffte ich gestern dicht hinter unserem Wilde drein zu sein. Aber jetzt –“ Dann entnahm er einer Bastzigarrentasche eine seiner Mirakulum. „Ich werde Ihnen nun meine erste, offenbar verfehlte Theorie entwickeln, Schraut. Geben Sie acht. – Halt – zunächst: meinen herzlichen Glückwunsch der Amnestie wegen. Auch meine Mutter läßt gratulieren. Ich war für Minuten daheim in der Blücherstraße. Mein gutes Altchen erkannte den einzigen Sohn nicht! – Doch nun meine Theorie; in aller Kürze. – Die Offiziellen wissen nichts von der Anzeige. Die Preßburger Straße 5 war ihnen von vornherein zu gleichgültig. Mir nicht. Es war doch sehr merkwürdig, daß ein alter pflichtgetreuer Beamter wie Schmiedicke sich durch ein Trinkgeld sollte dazu haben verleiten lassen, seinen Bestellgang zu unterbrechen, elf Häuser zu überspringen und erst einmal ins Hotel Sonnenschein zu den angeblichen Reuperts zu gehen, – nur durch ein Trinkgeld! Ich sagte mir: hier muß [97] eine andere Art Beeinflussung vorgelegen haben, eine stärkere, die doch wiederum so beschaffen war, daß der Geldbriefträger nicht aufmerksam wurde, nicht argwöhnisch. Weshalb die Reuperts überhaupt dafür sorgen mußten, daß Schmiedicke die elf Häuser übersprang, ist Ihnen ja aus den Zeitungsberichten bekannt: In diesen Gebäuden liegen viele Geschäfte, Kontore und zwei Banken! Die Beute für die Verbrecher wäre nur ein Viertel so groß gewesen, hätte Schmiedicke erst diese Bestellgänge erledigt. – Also eine stärkere Beeinflussung. Aber welche? – Diese Frage legte ich mir schon vor, ehe wir nach Hamburg fuhren. Dann fand ich die Anzeige in der Abendzeitung auf dem Wege zum Lehrter Bahnhof. – Fünf Preßburger! – Das war nie und nimmer eine echte Heiratsannonce, das war vielleicht, so mutmaßte ich, ein Weg, auf dem die Mörder, die sich getrennt haben konnten, einander Nachricht geben wollten in Form einer Geheimschrift, zum Beispiel derart, daß die Wörter der Anzeige eine andere, vorher vereinbarte Bedeutung hatten. Ich erwartete daher eigentlich eine zweite Anzeige mit derselben Überschrift, aber anderen Inhalts, erwartete jedoch nicht, daß die Offerten auch abgeholt werden würden und lauerte daher auf der Expedition all die Stunden eigentlich nur aus alter Gründlichkeit, da ich jede, auch die entfernteste Möglichkeit, einen Schritt vorwärts zu kommen, beharrlich ausnutzte. Wie gesagt: ich war überrascht, als Gertrud Hold, versehen mit dem Ausweis der Expedition, die eingelaufenen Briefe herauserbat. – Nachdem ich dann bei der Pestell gewesen war, führte mich mein Weg nach Preßburger Straße 5. Inzwischen hatte sich nämlich in mir das Gefühl noch verstärkt, daß in diesem Hause für mich sozusagen ein Fädchen bereitlag, welches ich aufnehmen und das mich dann vielleicht allmählich an mein Ziel geleiten konnte. Dieses Gefühl war eben durch die Annonce mit der merkwürdigen Überschrift wachgerufen und dann durch – den Taugenichts, dessentwegen die Hold ihr Elternhaus verlassen haben sollte, gesteigert worden. – Sie verstehen das alles doch, Schraut, nicht wahr? Sollte Ihnen etwas unklar bleiben, so fragen [98] Sie nur.“ – „Bisher ist alles durchaus verständlich, Herr Harst,“ versicherte ich. – „Gut – also weiter. Ich nahm mir Preßburger 5 den Hauswart vor. Es genügten zehn Mark seine Kehle zum Wasserfall zu machen, er beantwortete mir jede Frage und redete mehr als mir lieb war, denn für unnütze Worte bin ich nicht. So erfuhr ich denn, daß drei alleinstehende Damen in Nr. 5 möbliert vermieten. – Ahnen Sie, weshalb mich dies interessierte?“

Ich gab mir die redlichste Mühe, wenigstens ungefähr so schlau wie Harald Harst zu sein. Aber ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich abermals meine Unzulänglichkeit bewies, die Schultern fragend hob und schwieg.

Harst schüttelte den Kopf. „Unbegreiflich, lieber Schraut. Es ist doch so einfach! (Bei ihm ist alles selbstverständlich einfach, auffallend und klar!) So sehr einfach. Denken Sie doch an die – stärkere Beeinflussung!“ – „Aha – ganz richtig!“ sagte ich schnell. Dabei hatte ich keine Ahnung! – „Na also – die stärkere Beeinflussung: – Ich hatte sie mir so vorgestellt: Die beiden Reuperts haben in Nr. 5 einen Verbündeten wohnen, der sich mit Schmiedicke ebenfalls durch häufigere Geldempfänge so etwas angefreundet hat und der dem Postbeamten gegenüber dann am Mordtage, als dieser ihm wieder Geld auszahlt, wie zufällig erwähnt, die Reuperts müßten plötzlich abreisen und hätten gern den Betrag einer erwarteten Anweisung hier noch in Empfang genommen; vielleicht mache er mal eine Ausnahme und gehe sofort nach dem Hotel Sonnenschein, um die beiden Herren noch anzutreffen. Schmiedicke wird auf diesen Köder zu seinem Verderben angebissen haben, übersprang wirklich die zwischenliegenden Häuser und – verlor sein Leben einer Gefälligkeit wegen. – So, nun wissen Sie, weshalb ich den Hauswart von Nr. 5 zum Reden brachte. Ich suchte eben diesen Verbündeten der Reuperts. Und – ich fand ihn, wenn auch nicht persönlich, so doch genug von ihm, um mir zu sagen: Das ist er! – drei Damen vermieten möbliert. Als ich bei der zweiten, einem Fräulein Müller mit dem ganzen lächerlichen Gehabe [99] der männertollen alten Jungfer, dann gleichfalls eine schön ausgeklügelte Geschichte vortrug, daß ich einen Herrn suche, der mir als Zeuge in einem Beleidigungsprozeß wertvoll wäre, den ich aber kaum von Ansehen kenne, gelang es mir binnen zehn Minuten festzustellen, daß ein Wiener Ingenieur namens Josef Bremer bei ihr das Vorderzimmer mit eigenem Eingang bis zum 15. Mai gemietet gehabt hätte, jedoch seit dem 3. Mai mittags verreist wäre – zu einer Geschäftstour. – Merken Sie auf, Schraut: am 3. Mai verreist, und zwar – mittags! – Hätten Sie da nicht auch in Gedanken vor Freude einen Luftsprung gemacht? Sicherlich! – Das weitere war eine Kleinigkeit. Ich ließ mir Herrn Bremer beschreiben. Ich brauche das Signalement nicht zu wiederholen. Es ist eben der Pockennarbige. Dann erfuhr ich weiter, nachdem ich Fräulein Klementine Müller – sie ist nebenbei Friseuse – verschiedentlich schmachtende Blicke zugeworfen hatte, daß Bremer seit dem 20. April bei ihr gewohnt hätte – und einen Tag vorher sind die Reuperts im Sonnenschein abgestiegen! – daß er sehr häufig Wertbriefe und Geld mit der Post erhielt und im übrigen wenig zu Hause war. Besuch hätte er nie empfangen, auch nie erwähnt, daß er in Berlin nähere Bekannte hätte. – Auf diese Weise kam ich dem Pockennarbigen auf die Spur. Wenn Sie nun –“

Jetzt glaubte ich einen kleinen Fehler in Harsts Schlußfolgerungen entdeckt zu haben und beeilte mich meine Weisheit an den Mann zu bringen. – „Einen Augenblick, Herr Harst,“ unterbrach ich ihn. „Ihren Ausführungen nach wäre also Schmiedicke direkt von Bremer zu Reuperts gegangen, nicht wahr? – Das trifft doch aber nicht zu, denn er hat ja nach den Ermittlungen der Offiziellen in Nr. 5 einer Frau Regierungsrat Walter das letzte Geld ausgezahlt und nicht dem Pockennarbigen.“ – „Sehr gut, lieber Schraut, sehr gut,“ lobte Harst. „Sie machen sich. Diese Einwendung ist berechtigt aber nicht stichhaltig. Schmiedicke wird eben noch schnell Nr. 5 ganz erledigt haben, damit er nicht nachher abermals all die Treppen emporklettern mußte.“ – Ich war geschlagen, nickte etwas gedemütigt und nahm mir vor, beim Entdecken kleiner Fehler in Zukunft vorsichtiger zu sein.

[100] Harst aber fuhr fort: „Wenn Sie sich nun auf das besinnen, was ich Ihnen gestern abend über Gertrud Hold erzählte, nämlich, daß sie tatsächlich eine holde Mädchenblüte ist, so werden Sie verstehen, daß ich nicht recht annehmen konnte, daß der Taugenichts, den sie liebte, gerade dieser Pockennarbige mit Affenarmen und so weiter wäre. Immerhin: die Liebe fällt verschieden, mal auf eine Rose, mal auf eine Distel! Jedenfalls unterstellte ich: Bremer ist Gertruds Erkorener! – Ich mußte nun auch meine erste Ansicht über die Heiratsannonce revidieren. Einem Nachrichtenverkehr zwischen den Reuperts diente sie nicht. Das war nun vollkommen klar. Sie wurde vielmehr zur Übermittlung von Briefen des Liebhabers der Hold an diese benutzt. Das war jetzt die zwangloseste Erklärung und stand auch mit dem enttäuschten Gesicht der Hold beim Öffnen der beiden Briefe auf der Expedition in Einklang: sie hatte auf ein Schreiben „von ihm“ gehofft, aber nur richtiggehende Offerten auf das Heiratsgesuch gefunden! – das waren die Erfolge von gestern. Heute früh erteilte ich dann Ihnen und Karl die gleichen Aufträge: Erkundigungen darüber einzuziehen, ob die Reuperts mit einem Pockennarbigen verkehrt hätten. – Und nun – nun ist dieser Bremer in unserem Hotel abgestiegen! Das wirft all meine Kombinationen über den Haufen! – Ich hielt Bremer für einen Komplicen der Mörder, ich wähnte ihn wie diese weit weg von Berlin an irgend einem Orte, von wo aus er dann an die Hold, damit diese den Brief nicht in der Pension erhielt, unter K W 111 hätte schreiben können. Jetzt wohnt er dort, wo er unbedingt eine Menge verkleideter Kriminalbeamter zu fürchten hat, jetzt hat er sich sozusagen in die Höhle des Löwen, an den Tatort selbst gewagt. Würde das wohl einer tun, der die Offiziellen zu fürchten hat, würde das jemand selbst riskieren, wenn er annehmen kann, daß bisher seine Beteiligung an dem Verbrechen nicht entdeckt ist? Niemals! – Und – was brauchten Bremer und die Hold den umständlichen Weg der Heiratsannonce für eine Mitteilung zu wählen, wenn Bremer sich so sicher fühlt, daß er sogar im Hotel Sonnenschein und unter [101] seinem früheren Namen absteigt?! – Sehen Sie ein, Schraut, daß nun mein ganzer Bau eingestürzt ist? – Ich hatte bestimmt damit gerechnet, durch die Hold die Mördersippe fangen zu können. Und nun? Ja – was nun?!“




[102]
3. Kapitel.
Die Zigarrenspitze.

Harst hatte sich zurückgelehnt und starrte in das zarte Maiengrün der Baumkronen. Sein schmales, rassiges Gesicht, das seit dem Tode seiner Braut noch magerer, noch durchgeistigter geworden war, hatte jetzt nicht jenen etwas einfältigen Ausdruck, den es als zur Rolle des Heinrich Hinkel gehörig in den letzten Tagen zu zeigen pflegte. Ich merkte, daß sein scharfer Verstand all das nochmals überprüfte, was er bisher im Falle Schmiedicke lediglich dank seiner geradezu bewundernswerten Kombinationsgabe an bisher unbekannt gebliebenen Tatsachen festgestellt hatte. Ich störte ihn durch keine Bewegung, freute mich über ein Meisenpaar, das sich jagend durch die Büsche huschte, freute mich der erquickenden Luft und war doch mit meinen Gedanken nur halb inmitten dieser vom Frühlingszauber durchwehten Natur, – denn ich war ja der Privatsekretär und Gehilfe eines Harald Harst und hatte Pflichten und – besaß sehr viel Ehrgeiz. Ich vergaß denn auch bald den Maientag und zwang mein Denken auf die dunklen Pfade des Verbrechens zurück. So vergingen wohl zehn Minuten. Dann regte Harst sich. Und seltsam, [103] – als er nun zu sprechen begann, sagte er genau dasselbe, genau, was ich ihm hatte vorschlagen wollen als Resultat meines angestrengten Nachgrübelns über Bremer und die Hold. – „Ich werde den Detektiv Holzmüller – Sie wissen, Schraut, der schon vor uns in Szentowo tätig war und der auf mich einen recht guten Eindruck gemacht hat – mit der Überwachung der Gertrud Hold betrauen. Dieses Mädchen muß – muß mir nützlich werden! Den Pockennarbigen nehme ich allein auf mich.“ Seine Stimme war wieder belebter, energischer als vorhin, denn seine erste verfehlte Theorie hatte ihn doch recht mißmutig gemacht. Solche Augenblicke seelischer Niedergeschlagenheit währten bei ihm nie lange. Er fand ja stets sehr bald in dem Trümmerhaufen als unrichtig erkannter Schlußfolgerungen einige Steine, die sich wieder zusammenfügen ließen und die dann ein festeres, wenn auch ein kleineres Ganzes ergaben.

Dann fuhren wir ins Hotel zurück. Unterwegs kam er nur noch mit einer Bemerkung auf unsere Aufgabe zu sprechen, indem er sagte: „Lieber Schraut, Sie müssen jetzt recht viel Luft auf der Terrasse kneipen. Sehen Sie zu, daß Sie irgendwie mit Bremer bekannt werden. Der Mensch muß doch zu dem Morde in Beziehung stehen, denn es ist zu auffällig, daß er so viel Geldsendungen erhielt, – die Klementine Müller meinte, fast täglich.“

***

[104] Wir speisten auf der Terrasse. Mein treuer Heinrich war rührend diensteifrig und sehr besorgt um meine Bequemlichkeit, holte mir sogar eine Fußbank und schickte den Fischgang als mir nicht bekömmlich zurück. Wir erregten – die Terrasse war stark besetzt – einige Aufmerksamkeit, und ich hörte, daß zwei Damen am Nebentisch äußerten: „Ein äußerst gewandter Pfleger –“ – Während ich dann zum Kaffee eine gute Zigarre rauchte, begab Harst sich zu Holzmüller. Ich ließ mir eine Mittagszeitung durch den Kellner bringen und – fand darin zu meiner nicht gerade angenehmen Überraschung eine Notiz mit der Überschrift: „Das Neueste über die Millionenwette im Universum-Klub.“ – Darin stand, daß – „unser findigster Reporter“ herausgebracht hat, Harald Harst nebst Privatsekretär seien nach Erledigung des Szentowo-Problems abermals aus Berlin verschwunden. „Sicherlich“, hieß es weiter, „sind sie bereits mit der gestellten Aufgabe beschäftigt. Leider ist jedoch von den Herren des Klubs nicht zu erfahren, worin diese Aufgabe besteht. Vielleicht – Beweise hierfür fehlen gänzlich – vielleicht sucht Harst diesmal die beiden Mörder des braven, bedauernswerten Wilhelm Schmiedicke. Wenn nicht, so können wir den Wettgegnern nur empfehlen, Harst auf diese angeblichen Reuperts zu hetzen, die leider noch immer samt der erbeuteten 13/4 Million frei umherlaufen, womöglich gar in Berlin selbst.“ – Oh – das war eine peinliche Überraschung, diese Notiz, – sehr peinlich. Die im Sonnenschein tätigen Offiziellen würden jetzt fraglos jeden Gast sehr kritisch daraufhin mustern, ob er nicht Harst oder – ich wäre. – Sehr peinlich! Und trotzdem: meine Eitelkeit fühlte sich etwas durch diese Notiz geschmeichelt, – der Privatsekretär war ja mit erwähnt worden! – Als ich jetzt von der Zeitung aufblickte, zuckte ich leicht zusammen. – Zwei Tische vor mir [105] saß – Bremer und – unterhielt sich mit Schilling, Kriminalwachtmeister Schilling, der hier nun Oberkellner spielte. Ich spitzte die Ohren. Die Terrasse hatte sich inzwischen geleert. Und – ich hörte, wie der Pockennarbige sagte: „Meinen Sie wirklich, daß die Polizei die Verbrecher noch fangen wird?! Ich bezweifle das. Wenn erst so viele Tage seit der Tat verstrichen sind, ist es –“ Das weitere entging mir, da ein Lastwagen auf der Straße vorüberfuhr. Dann wieder erklärte der „Ober“: „Für mich ist’s nicht gerade angenehm. Alle Gäste wollen die Zimmer 46 und 47 sehen, bieten mir weiß Gott was, um einen Blick hineinwerfen zu können. Und dabei hat die Polizei sie doch noch mit Beschlag belegt. Wir dürfen dort nicht aufräumen – nichts! Vorläufig soll dort noch alles so bleiben, wie es bei der Entdeckung des Mordes lag und stand.“ – Dann sprach wieder Bremer. Ich hörte die Worte – „leicht begreifliche Neugier – Sensationshunger –“ – Darauf flüsterte er mit dem „Ober“, der nun lächelnd erklärte: „Es geht wirklich nicht –“ und mit einem Bückling verschwand. Auch Bremer schob jetzt die Kaffeetasse beiseite, ließ sich noch eine Zigarre geben und machte Miene, die Terrasse zu verlassen. – Ich mußte diese Gelegenheit benutzen! Und – die Mittagszeitung glitt von meinem Schoß auf den Fliesenboden. Ich suchte sie aufzuheben, angelte danach mit meinem Stock, ächzte laut. Eines meiner Rückenkissen fiel herab. – Ah – endlich! Bremer wurde aufmerksam, sprang zu, hob die Zeitung und Kissen auf, stopfte mir letzteres wieder in den Rücken. Ich dankte und fügte hinzu: „Es ist ein Elend, so hilflos zu sein. Nun, auch Sie haben schon eine schwere Krankheit durchgemacht, mein Herr. Pocken sind furchtbar. Ich habe meine Eltern daran verloren.“ – So gelang es mir, ihn festzuhalten. Er zeigte sich gesprächiger, als ich zu hoffen gewagt hatte, setzte sich zu mir, stellte sich vor und bald waren wir beim Fall Schmiedicke angelangt. Ich tat sehr ängstlich, schalt auf meinen Diener, der gerade dies Hotel gewählt hätte, und meinte, ich begriffe nicht, wie Leute sich für Verbrechen lediglich aus – Sensationshunger interessieren könnten. – „Nun,“ erklärte [106] er, „auch ich gehöre zu diesen Leuten.“ Er lächelte etwas dabei. Und dieses Lächeln war voller Ironie. „Ich will Ihnen sogar gestehen, Herr Schrammel, daß ich soeben dem Ober hundert Mark geboten habe, wenn er mich in Nr. 47 einläßt.“ – Ich zuckte die Achseln: „Mir unverständlich! Hundert Mark! Mich brächten nicht zehn Pferde in das Zimmer hinein!“ – Da störte uns der Liftboy Karl. – „Dieser Brief ist soeben für Sie abgegeben worden, Herr Schrammel.“ – Er reichte ihn mir und ging wieder. Auch Bremer verabschiedete sich mit einem „Gute Besserung. Vielleicht können wir nochmals ein wenig plaudern –“ – Ich schaute ihm nach. Viel hatte ich nicht gewonnen durch diese Unterhaltung mit ihm. Nur – das Lächeln, das Lächeln! – Dann öffnete ich den Brief. Die Tinte auf dem Umschlag war noch halb feucht und schlecht mit dem Löscher getrocknet worden. Der Briefbogen mit dem Hotelstempel enthielt nur die Worte: „In seinem Mantel, Brusttasche, steckt eine Zigarrenspitze aus Papier mit dem Aufdruck: „Hotel Deutscher Hof, Warnemünde.“ – Karl.“ – Karl war also ebenfalls eifrig an der Arbeit. Diese Zigarrenspitze war wertvoll – ohne Frage! Sie bewies, daß der Pockennarbige zuletzt wohl in Warnemünde gewesen war.

Um sechs Uhr erschien mein treuer Heinrich und brachte mich sofort mit Hilfe Karls, den er sich holte, auf unser Zimmer, wo der schlaue Junge dann noch in aller Hast von seinem Funde erzählte. – „Die Spitze muß ich haben,“ meinte Harst. Und – kaum vier Minuten später hielt ich sie in der Hand. Inzwischen hatte ich ihm bereits mitgeteilt, wie ich Spitze bewertete. Er trat jetzt damit ans Fenster. Dann setzte er sich neben mich auf das Korbsofa unseres gemeinsamen Wohnzimmers. – „Ich bezweifle, daß Bremer unlängst in Warnemünde war,“ sagte er und hielt mir die Papierspitze hin. „Das Loch der Federpose ist vollständig mit allerlei Taschenschmutz – Stoffäserchen, zerriebenem Papier und anderem – gefüllt, die Pose selbst ganz braun von Zigarrenrauch, dazu zweimal eingeknickt, das Papier oben halb verkohlt, eingerissen und die Öffnung ebenfalls halb verstopft mit [107] Taschenschmutz. All das beweist, daß die Spitze unbeachtet längere Zeit in der Brusttasche gesteckt hat. – Bemerken Sie sonst noch etwas daran, Schraut?“ – „Natürlich. Hier ist ein Rest von Ölfarbe auf dem Papier. Es sieht so aus, als hätte Bremer mal mit Farbe hantiert und dabei geraucht. Der beschmutzte Finger hat dann diesen Fleck an der Spitze zurückgelassen.“ – „Ganz recht. – Sonst noch was?“ – „Nein –“ Ich sah wirklich nichts mehr. – „Gut – lassen wir’s,“ meinte Harst und schob die Papierspitze in die Tasche. „Berichten Sie nun mal, was Sie vorhin andeuteten. Sie haben Bremer also kennen gelernt?“

Ich erzählte mit allen Einzelheiten. Als ich fertig war, fragte Harst: „Wie steht’s mit Haar und Bart? Echt oder nicht?“ – Ich mußte zugeben, daß ich mich heute vormittag getäuscht hätte, als ich den Spitzbart auf die Entfernung hin für falsch hielt. „Bremer ist in keiner Weise verkleidet,“ betonte ich dann nochmals. „Nein – denn er sieht hier ja genau so aus, wie ihn mir die Müller beschrieben hat,“ sagte Harst langsam und mit Betonung des „genau so“. – „Desto schwieriger liegt der Fall aber auch für uns, lieber Schraut,“ fügte er ebenso bedächtig hinzu. „Stellen Sie sich vor: Bremer wagt sich unverändert hierher! Ist das nicht der Beweis eines guten Gewissens? – Doch nein: vielleicht nur der Beweis unerhörter Kühnheit eines riesigen Selbstvertrauens und zweifelfreisten Sicherheitsgefühls! Denn, darin gebe ich Ihnen recht: Das ironische Lächeln, das gar nicht am Platz war, macht ihn verdächtig. Noch mehr aber –“ Er brach plötzlich ab, stand auf, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab – sehr hastig mit gesenktem Kopf, blieb dann vor mir stehen. – „Schraut, ich muß noch schnell in einen Eisenwarenladen. Ich bin gleich wieder da –“ Er eilte von dannen. Und ich saß und grübelte über seine Worte nach: „Noch mehr aber –“ – Ja, was konnte wohl Bremer noch mehr verdächtig machen, was nur? – Als Harst zurückkehrte, grübelte ich noch immer, erlaubte mir nun die Bitte: „Sie beendeten vorhin einen Satz nicht ganz, Herr Harst. Dürfte ich Sie um –“ – „Weiß schon Bescheid. Nun, – der Sensationshunger [108] – übersehen Sie den nicht, lieber Schraut!“ fiel er mir ins Wort und öffnete das mitgebrachte Päckchen. Es enthielt einen Zentrumsbohrer, eine Tube weiße Ölfarbe und – zwei frische Brötchen.

Ich machte zu diesen Einkäufen ein etwas erstauntes Gesicht. Harst nickte mir zu: „Etwas bunte Zusammenstellung, nicht wahr? – Nun – der Bohrer wird mir zu einem Guckloch in der Außentür meines Schlafzimmers verhelfen. Mit der gekneteten Brötchenkrume werde ich das Loch wieder füllen, und die Farbe wird diese kleine Sachbeschädigung dann vollends verdecken.“ Er schloß das Päckchen in seinen Koffer ein, kam dann zu mir an den Tisch zurück, setzte sich und meinte: „Wir sind auf dem besten Wege zum Erfolg. – Die Idee, Holzmüller hinzuzuziehen, habe ich aufgegeben. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich weiß, wo der jüngere Reupert – den wirklichen Namen kenne ich noch nicht – sich zur Zeit befindet.“

Kein Wunder, daß mir der Atem stockte.

„Sie – Sie wissen?“ stammelte ich. „Woher denn? – Bitte, speisen Sie mich diesmal nicht mit Andeutungen ab. Sie können sich denken, wie sehr –“

„Sie sollen alles erfahren,“ unterbrach er mich und warf ein kleines, silbernes Handtäschchen auf den Tisch, dessen Kette zerrissen war. „Da ist des Rätsels Lösung. Das Täschchen gehört Gertrud Hold. Ich habe es vor etwa anderthalb Stunden auf recht rohe Art an mich gebracht, nämlich – ihr auf der Treppe zur Pension Pestell – geraubt. Sie schrie um Hilfe, und beinahe hätte man mich ergriffen. Es waren scheußliche Minuten, die dann aber vollauf durch den Inhalt des Briefes aufgewogen wurden.“ – „Sie meinen – Inhalt des Täschchens,“ gestattete ich mir ihn zu korrigieren. – „Nein – des Briefes, der in dem Täschchen jetzt noch liegt und den die Hold von der Expedition wieder unter KW 111 abholte, wobei ich sie beobachtete. Und – diesmal bekam sie dort vier Briefe ausgehändigt – beim Lesen des einen zitterten ihre Hände leicht, wurde sie erst blaß, dann rot. – Und [109] – das war der rechte – der von Reupert-Sohn.“ Er knipste das Täschchen auf. „Lesen Sie, Schraut,“ sagte er triumphierend. „Lesen Sie. Der Umschlag ist in Doberan in Mecklenburg abgestempelt. Halten Sie sich damit nicht auf.“




[110]
4. Kapitel.
Der Oberkellner und wir.

„Mein Liebling! Erst heute kann ich Dir schreiben. Ich war krank. Die Aufregungen hatten mir ein leichtes Fieber eingebracht. Heute früh las ich dann die Zeitung. Und da sah ich, daß ich schreiben darf, daß man Dich – nicht belästigt. Die Preßburger haben ihre Schuldigkeit getan. Es war also doch ein guter Gedanke von mir. – Mir geht es wieder jetzt ganz gut. Nur die Angst will nicht weichen, daß Du mir nicht völlig verziehen hast und daß Du Dich von mir lossagen könntest! – Liebling – tu’ mir das nicht an! Du warst meine Retterin! Bleibe es! Ich werde nie – nie wieder mich Deiner unwürdig zeigen. Die Zeiten, wo man mich als „verlorenen Sohn“ betrachtete, sind vorüber. Entziehe mir nicht Deine Liebe, Deine stützende Hand, diese Hand, die mich und den anderen noch im letzten Augenblick vom[15] Rande des Abgrundes wegriß –“ Dann folgten Bemerkungen über Doberan und die Wohnung des Briefschreibers bei einem alten Ehepaar. Der Schluß lautete: „Leb wohl! Wann es ein Wiedersehen zwischen uns geben wird, hängt von so vielem ab. Behalte mich lieb, mich, der Dir nochmals schwört: [111] Mag der Schein auch noch so sehr gegen uns sprechen – es ist die volle Wahrheit, die ich Dir damals beim letzten, kurzen und so schmerzlichen Beisammensein sagte. – Ewig Dein V.“ – Nachschrift. – „E. ist in Norwegen.“

Ich legte den Brief auf den Tisch zurück. – „Nun?“ fragte Harst. „Geben Sie mal die Erläuterungen dazu, Schraut. Das heißt, nur über die Punkte, die zweifelhaft sein können.“ – Ich nahm den Brief wieder zur Hand, begann:

„Der Schreiber ist der angebliche Viktor Reupert. Die Heiratsannonce sollte ihm, der nach Doberan geflüchtet ist, zeigen, daß Gertrud Hold von der Polizei nicht beobachtet – nicht belästigt – wird. Hm – und der zum Schluß erwähnte E. dürfte Reupert-Vater sein.“

Harst trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. „Aber die Hauptsache, Schraut, – die Hauptsache! Wo bleibt die?“ – „Ehrlich – ich finde sie nicht,“ sagte ich kleinlaut. – „Er findet sie nicht! Aber Mensch, Schraut, – hier in dem Brief steht doch ganz klar zu lesen, daß dieser V. – also vielleicht wirklich ein Viktor – bestreitet, den Mord begangen zu haben! Hier heißt es – „noch im letzten Augenblick vom Rande des Abgrundes –“ und weiter – „Mag der Schein auch noch so sehr –“ – Das alles ist nur so zu deuten: die Hold und dieser Viktor haben sich nach der Ermordung Schmiedickes noch gesprochen – flüchtig nur, und dabei hat dieser Viktor erklärt, weder er noch der „andere“ sei der Mörder des Mannes, den man nun bald tot auffinden würde. – So, mein lieber Schraut, ist hier zwischen den Zeilen zu lesen. – Und – wie hat sich nun die Hold zu dieser Behauptung gestellt? Glaubt sie dem Geliebten? – Ich denke ja. Sonst hätte sie nicht die Anzeige eingerückt!“

Ich starrte Harst ganz kopflos an. Meine Gedanken suchten Klarheit in ein Chaos von Widersprüchen zu bringen. Umsonst! Das Chaos wurde nur noch größer. Schließlich meinte ich dann unsicher: „Aber – aber – wie kann die Hold denn einer so unsinnigen Behauptung wohl Glauben [112] schenken, Herr Harst? Der „Andere“ und Viktor können ja nur die Mörder sein! Wer sonst?! Die Kriminalpolizei hat ja ermittelt, daß die Reuperts allein in ihren Zimmern zwischen elf und zwölf Uhr mittags waren. – Wer also sollte –“

Harst drückte meinen Arm, so daß ich schwieg. „Schraut,“ flüsterte er, und seine grauen, dunkelbewimperten Augen funkelten förmlich, „Schraut, dieser Kriminalfall schien ganz klar zu liegen, so klar, daß man eben nur noch die Mörder aufzustöbern brauchte. Schien! Dieser Brief hier hat einen Sturm von Zweifeln in mir entfacht. Sind die Reuperts wirklich die Mörder? Wenn nicht – auf wessen Konto kommt dies Verbrechen? Wie konnte Gertrud Hold ihrem Geliebten glauben, er sei unschuldig? Was mag Viktor ihr anvertraut haben bei jener letzten Aussprache? Hat er sie dabei schlau belogen? Was für ein Märchen erfand er, das so beschaffen war, sie zu überzeugen? – Schraut, ich sage Ihnen: im Vergleich zu diesem Problem ist die Szentowo-Geschichte fraglos lächerlich einfach gewesen! Doch gerade das freut mich!“ Er holte eine Mirakulum hervor und rauchte ein paar schnelle Züge. – „Ich muß mich beruhigen, Schraut. Ich leide an Jagdfieber. Ich muß mich entschließen, was ich tun soll. Es gibt für mich jetzt drei Wege. Erstens: nach Doberan! Ich könnte hinfahren und Viktor ins Gebet nehmen. – Zweitens: Gertrud Hold! Ich könnte sie zwingen, sich mir anzuvertrauen. – Drittens: ich kann der neuen Fährte folgen, das heißt, mich auf meine Findigkeit verlassen und erst hier weiter arbeiten und volle Klarheit schaffen.“ Er sprang auf. Dreimal durchquerte er das Zimmer. Dann sagte er, indem er mir die Hand auf die Schulter legte: „Schraut, ich habe diesen Brief durch gemeinen Überfall an mich gebracht. Das war meiner nicht würdig! Ich werde weiter dem Pockennarbigen nachstellen, werde so tun, als wüßte ich nichts von dem Inhalt dieses Schreibens, das ich hiermit sozusagen aus meinem Hirn auswische! Sie, Schraut, müssen’s auch – verstanden? – Wir wollen nicht als Handtaschenräuber Erfolge erzielen! Ich werde der Gertrud Hold [113] das Silbertäschchen nebst Inhalt sofort wieder zustellen. – Halt – das geht nicht! Sie könnte argwöhnisch werden. Lassen wir’s also! Aber – der Brief existiert für mich nicht mehr –“

Wir aßen dann im Wohnzimmer zu Abend. Um halb zehn brachte mein Pfleger mich zu Bett. – „Gute Nacht, Herr Schrammel,“ sagte er, bevor er mich verließ. „Vielleicht komme ich in der Nacht mal nach Ihnen sehen.“ – Ich verstand. Er wollte mir mitteilen, ob er mit dem Guckloch Erfolg gehabt hätte. Aber – was er eigentlich beobachten wollte, wußte ich nicht recht. Gewiß – es konnte sich nur um Bremer handeln. Doch – vermutete er etwa, daß dieser nachts auf dem Flur umherschleichen und irgend etwas unternehmen würde? Was denn in aller Welt?

***

An Schlaf war unter diesen Umständen für mich nicht zu denken. Ich las und rauchte vier Zigarren. Ich stand auf und öffnete die Fenster, um dem Rauch Abzug zu verschaffen. Es wurde zwei – drei Uhr morgens. Da schlief ich doch ein, schlief bis gegen zehn Uhr. Harst rüttelte mich, sagte: „Es ist gleich zehn, Herr Schrammel. Wir haben drüben im Wohnzimmer Besuch. Raten Sie mal, wen?“

[114] „Gertrud Hold?“ flüsterte ich. – „Nein, Herr Schrammel. – Höheren Besuch!“ – „Dann weiß ich nicht, wer’s sein mag.“

„Nun – die Offiziellen!“

Ich fuhr empor. Da tadelte er: „Aber – Sie sind doch halb gelähmt! Bitte das nie zu vergessen!“

Er half mir wieder bei der Toilette. Aber er beeilte sich. Dann öffnete er mir die Tür zum Wohnzimmer. Ich trat ein.

Im Korbsessel links saß – der Oberkellner – der Wachtmeister Schilling.

Harst drückte die Tür hinter sich ins Schloß. – „So, nun brauchen wir uns keinen Zwang weiter aufzuerlegen,“ meinte er. „Nun können Sie beginnen, Herr Schilling.“

„Was heißt beginnen, Herr Harst? Ich bin doch nur hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich Sie und Schraut erkannt habe. Ich gebe zu – erst nachdem ich gestern das Mittagsblatt gelesen hatte, in dem eine Notiz über Sie beide stand.“

„Und mehr wollten Sie nicht von uns?“

„Nein – höchstens mal anfragen, ob Sie die Spur der Mörder gefunden haben.“

„Wir dürfen hier also ungestört weiter wirken?“

„Selbstredend – selbstredend. – Ich habe bisher niemandem etwas davon gesagt, wer Schrammel nebst Diener in Wahrheit sind. – Wie ist’s denn nun mit der Spur, Herr Harst? Die beiden Halunken sind nicht zu finden.“

„Oh – ich würde erst mal den einen suchen –“

„Den einen? Welchen?“

„Nun – den Mörder. Die beiden anderen sind harmloser.“

Schilling pfiff leise durch die Zähne. „Was Teufel – drei sind’s gar? – Erzählen Sie doch bitte, Herr Harst.“

[115] „Noch nicht. Morgen früh – oder besser – in der kommenden Nacht. – Jedenfalls kann ich Sie vorzüglich brauchen, Herr Schilling. – Weshalb – wozu? – Etwas will ich doch jetzt schon preisgeben. Ich habe in der verflossenen Nacht von elf Uhr ab hinter der Außentür meines Schlafzimmers an einem schräg nach rechts gebohrten Guckloch gestanden. Rechts gegenüber liegen nämlich 46 und 47. Gegen ein Uhr morgens versuchte jemand in 47 einzudringen. Es gelang ihm aber nicht. Die Dietriche, die er mit hatte, genügten nicht. Er verschwand wieder und gab die Sache auf – fürs erste. Aber er wird’s nochmals probieren. Und ich bin überzeugt – dann sind seine Werkzeuge besser, und dann werden wir drei den Herrn empfangen. Sie verstehen mich: wir werden in aller Heimlichkeit in 47 uns verbergen. Und dazu brauche ich Sie eben. Wenn Sie jetzt nicht hier erschienen wären, hätte ich mich Ihnen entdeckt.“

Der Kriminalbeamte dachte angestrengt nach. Dann erklärte er plötzlich: „Ich weiß, wer der Herr ist. Er hat mir gestern 100 Mark geboten, falls ich ihm für eine halbe Stunde Zutritt zu 47 verschaffen würde. Er wollte das Zimmer zeichnen – für ein Wiener Blatt. Er ist Ingenieur und nennt sich Bremer.“

Ich gestehe ohne weiteres ein: in diesem Moment schämte ich mich meiner geringen geistigen Regsamkeit wegen. Schilling hatte ja sehr bald gerade das herausgefunden, was mir nicht gelungen war, – daß Bremer, die Sensationslust und Nr. 47 mit Harsts Guckloch zusammenhingen!

Harst hatte zu Schillings Worten zustimmend genickt. Dann sagte er: „Übrigens stelle ich eine Bedingung, Herr Wachtmeister. Ich werde Ihnen den Mörder in die Hände spielen, aber dafür müssen Sie einen anderen Menschen unbehelligt lassen, einen, auf den sich dies hier bezieht –“ Er nahm eine Morgenzeitung vom Tisch und las aus dem Anzeigenteil vor:

„Fünf Preßburger. – Auf das jüngst hier erschienene Inserat zur Nachricht, daß wir vollen Glauben zu der Aufrichtigkeit d. V. haben. Trotzdem weiteres vorläufig nicht erwünscht.“

[116] Ich begriff sofort. Die Anzeige galt Viktor. Und der letzte Satz besagte, daß Gertrud Hold infolge des Raubes ihrer Handtasche und des Briefes ängstlich geworden war und ihrem Geliebten nahelegte, vorläufig nicht mehr unter KW 111 zu schreiben. – Harst bestätigte mir nachher, daß diese Auslegung richtig war.

Wer diesmal nicht begriff, war Schilling. Er fragte jedoch nicht weiter, schüttelte nur den Kopf und meinte: „Das scheint ja wieder eine höllisch verzwickte Geschichte zu sein, Herr Harst.“

„Allerdings. Sogar so verzwickt, daß auch ich noch nicht völlig klar sehe. Mir wäre es daher auch lieb, wenn Sie mich recht bald für eine Weile in 47 einschließen wollten. Dieser Gedanke ist mir soeben erst gekommen. Vielleicht finde ich dort in 47 das, was mir noch in meiner Beweiskette fehlt – es handelt sich nur um wenige Glieder.“

„Gern, Herr Harst. – Ich werde sofort nachsehen, ob die Luft rein ist. Bremer ging vorhin aus. – Darf ich nicht mitkommen? Oder stört Sie meine Anwesenheit?“

„Keineswegs. Dann nehmen wir auch Schraut mit.“




[117]
5. Kapitel.
Der dritte Koffer.

Ich warf Harst einen dankbaren Blick zu. Er verstand mich, meinte freundlich: „Sie gehören doch zu mir, Schraut. Wo der Herr, da auch der Sekretär –“

Schilling hatte schon das Zimmer verlassen. Harst fuhr fort: „Diesmal sollen die Offiziellen von der Öffentlichkeit die Sieger sein, und wir bleiben ganz im Hintergrund. Es ist besser so. Die Achtung vor der Tüchtigkeit unserer Kriminalpolizei darf nicht untergraben werden. Schließlich habe ich ja auch tatsächlich nur etwas mehr Glück gehabt als sie. Hätte ich nicht die Annonce bemerkt, so wären wir genau so auf dem toten Punkt stehen geblieben wie die Offiziellen.“

Na – hiergegen hätte sich manches einwenden lassen, denn gerade dieses „Bemerken“ der Heiratsanzeige hatte ja nur abermals Harald Harsts trefflich arbeitende Kombinationsgabe bewiesen. Wem würde wohl sofort dieses „Fünf Preßburger“ aufgefallen sein?! Doch nur dem, der in seinem Hirn alle,[16] auch die kleinsten Nebenumstände dieses Verbrechens stets gegenwärtig hatte! – Wie sehr dies zutraf, über welch absolut zuverlässiges Gedächtnis Harst verfügte, sollte ich dann kaum zehn Minuten drauf wiederum erfahren.

[118] Es klopfte. Es war Schilling. „Ich habe die Tür von 47 aufgeschlossen und nur angelehnt,“ raunte er uns zu. „Vorwärts – der Flur ist leer.“

Wir huschten die wenigen Schritte über den Gang. Dann waren wir in 47. – Die Fenstervorhänge waren zurückgezogen. Blendende Helle erfüllte den Raum. Ich befand mich zum ersten Mal an dem Schauplatz eines Mordes. Ich fühlte ein ganz leichtes Gruseln. Wozu soll ich’s leugnen? Besonders auf dem mitten im Zimmer stehenden Eichenstuhl, um den noch die Stricke hingen, mit denen das Opfer gefesselt gewesen, ruhten meine Blicke wie gebannt. Daneben auf dem Fußboden lag die Bettdecke, die über den sitzenden Toten gebreitet gewesen war, und die Ledertasche. Links an der Wand standen zwei Koffer übereinander; oben drauf eine Handtasche; davor ein sogenannter Musterkoffer, sehr groß und mit Blech beschlagen.

Harst ging sofort auf einen Korbsessel rechts am Fenster zu, setzte sich und zeigte schweigend auf das rotlackierte Korbsofa. Das hieß für Schilling und mich: „Setzt Euch gleichfalls.“ Er schaute sich dann im Zimmer um. Nein – umschaun ist doch wohl nicht der richtige Ausdruck. Es war ein Prüfen, Abwägen und Vergleichen jeder Einzelheit. Dann blieben seine Augen auf den Koffern haften, ließen sie nicht mehr los.

Plötzlich griff er in die Tasche. – Ah – eine Mirakulum. Das war stets bei ihm das Zeichen erhöhter Geistesanspannung. Er brauchte den süßlichen Rauch sozusagen als Anreiz. – Er sog wie immer die ersten Züge in die Lunge ein, formte dann tadellose Rauchringe.

Abermals langte seine Hand in die Tasche. Die Papier-Zigarrenspitze kam zum Vorschein. Nun sagte er zu mir: „Schraut – der Farbenfleck – Sie besinnen sich doch. Hier ist die Spitze –“ Er warf sie mir zu. „Erklären Sie Schilling das Nötige.“

Ich tat’s, flüsterte aber, um ihn nicht abzulenken. Er war aufgestanden und an den Musterkoffer herangetreten, [119] hatte sich über ihn gebeugt, hob ihn nun an einer Seite an. Der Schlüssel steckte. Er schlug den Deckel hoch. – „Wem gehört dieses Ungetüm?“ fragte er Schilling.

„Nun, den Reuperts.“

„So? – Sie kamen doch nur mit zwei Koffern und einer Handtasche hier an, die sie dann bei ihrer Flucht zurückgelassen haben und die ja auch hier stehen. – Woher der dritte Koffer? – Ich habe ihn in keiner Zeitung erwähnt gefunden. Und dabei haben Sie doch die Presse sehr genau von allem unterrichtet.“

„Gewiß – über alles, was wichtig war, Herr Harst. Der Musterkoffer erschien uns ohne Bedeutung. Er wurde den Reuperts am 3. Mai mittags gegen halb zwölf von einem Dienstmann gebracht, wie wir einwandfrei festgestellt haben. Der Dienstmann war selbst noch hier im Zimmer. Die Reuperts waren allein und machten recht erstaunte Gesichter. Er überreichte ihnen einen versiegelten Brief, der den Schlüssel enthielt. Den Koffer hatte ihm ein Herr auf der Straße übergeben, der in einem Auto saß und den Koffer neben sich hatte. Er hatte dem Dienstmann gesagt: „Ich habe mir diesen Koffer von den Herren Reupert geliehen, die im Hotel Sonnenschein wohnen. Bringen Sie ihn sofort hin. Hier sind zehn Mark für die Besorgung.“ – Jedenfalls war der Mord noch nicht geschehen, als der Koffer kam. Mithin hatte er für uns keine Bedeutung.“

Harst sah Schilling versonnen an. „So – keine Bedeutung? – Und doch – ist er eins der fehlenden Glieder meiner Beweiskette. – Hier – bitte sehen Sie her – hier ist an der Seite des Koffers irgend ein Zeichen oder sonst was mit Ölfarbe –“ Er sagte all das ganz langsam. „Und der Fleck auf Bremers Zigarrenspitze zeigt dasselbe auffällige Rosa. Es ist nun alles klar, – bis auf Bremers Wunsch, hier mal eine halbe Stunde allein zu sein. – Was mag er hier suchen wollen? Ob er etwas beiseite schaffen will, das ihm gefährlich dünkt? Wohl kaum! Läge für ihn eine so nahe Gefahr vor, daß man ihm auf die Spur kommen könnte, hätte er sich [120] niemals hierher getraut. – Nein – etwas – etwas anderes. – Was – was?“

Wir, Schilling und ich, standen ganz atemlos da, ganz regungslos. Wir ahnten beide, daß nun endlich die Wahrheit über diesen Mord an den Tag gekommen, daß aber auch alles, was man bisher als feststehend angenommen, falsch gewesen.

Harst zündete die zweite Mirakulum an, sagte wie zu sich selbst: „Was will er hier? Was in aller Welt? – Ah – sollte etwa –“ Sein Kopf war hochgefahren.

„Schilling, sind diese Zimmer 46 und 47 ganz sorgfältig durchsucht worden?“ fragte er schnell. – Der Wachtmeister nickte. – „Ich will’s trotzdem nochmals tun. Setzen Sie sich wieder. – Ich fange in 46 an.“

Die Verbindungstür war halb offen. Er verschwand.

„Begreifen Sie die Geschichte?“ meinte Schilling leise. „Was hat er nur mit dem Koffer? – Nun – mag sein, daß das Ding Bremer gehört, daß Bremer es war, der mit rosa Farbe eine Signatur darauf ausgelöscht hat! Aber – mit dem Morde hat das doch nichts zu schaffen?!“

Ich zuckte die Achseln. „Ich verstehe genau so wenig wie Sie davon. Harst hält jedenfalls Bremer für den Mörder. Das ist sicher. Aber –“ Doch meine Zweifel behielt ich für mich. – Schilling holte seine Zigarrentasche hervor. „Rauchen wir auch, Herr Schraut! – Übrigens gratuliere ich zur Amnestie.“ Er drückte mir die Hand. Dann schwiegen wir und warteten. Wir hörten Harst in 46 hin und her gehen. – Vor den Fenstern von 46 und 47 zog sich ein schmaler Balkon hin. Auf dem Eisengitter standen an den Ecken zwei große Blumentöpfe mit hängenden Petunien. Jetzt tauchte Harst dort auf. Wir schauten hin. Er nahm den einen Topf und – kippte ihn um. Der Blumenballen fiel auf den Balkon. – Harst stand vor uns, ließ uns in den Topf hineinsehen. Auf dem Boden lag eingepreßt ein in feuchtes, braunes Papier gehülltes Päckchen.

[121] „Das habe ich gesucht,“ meinte Harst und nahm es heraus. „Es dürfte einen Teil der Beute enthalten.“

Schilling öffnete es. – Es stimmte: es waren 180 000 Mark in Banknoten und 150 000 Mark in Wertpapieren.

„So,“ sagte Harst, „nun brauchen wir die kommende Nacht nicht mehr. Nun suchen Sie nachher Bremer auf und bieten Sie ihm an, ihn für 200 Mark hier einzulassen, Schilling. Und zwar gegen drei Uhr nachmittags. Bis dahin werde ich auch Gertrud Hold zur Stelle schaffen, und wir drei, die Hold, Schraut und ich, wollen Sie und Bremer hier erwarten. Bringen Sie Handschellen mit – nicht vergessen!“ –

***

[122] Um halb drei betrat Harst mit einer tief verschleierten Dame unser Wohnzimmer. – „Fräulein Hold – mein Sekretär Schraut,“ stellte er vor. – Sie schlug den Schleier zurück. Ich war überrascht von so viel Liebreiz, aber auch von Mitleid erfüllt ihres verhärmten Gesichts wegen.

„Gehen wir,“ meinte Harst sogleich. „Schilling hat mir das Zeichen gegeben.“ – Wir eilten über den Flur und dann in 46 dicht hinter der nur angelehnten Verbindungstür. – Harst begann leise zu sprechen. „Fräulein Hold, ich möchte diese Zeit dazu benutzen, meinen Gehilfen und treuen Mitarbeiter in das einzuweihen, was Sie mir auf der Herfahrt erzählt haben. – Sie haben Viktor Klein vor einem Jahr in Eberswalde kennen und lieben gelernt. Er ist Künstler – Maler. Obwohl er ein Bruder Leichtfuß ist und allerlei dumme Streiche in Eberswalde machte, hielten Sie doch fest zu ihm, da Sie hofften, die Liebe würde ihn bessern. Sie überwarfen sich mit Ihren Eltern und suchen nun seit vier Wochen hier eine Anstellung. Auch Viktor Klein hat hier in einem Atelier für Theaterdekorationen gearbeitet, und Sie waren häufiger zusammen. Eines Tages – es mag etwa drei Wochen her sein – führte er Ihnen gegenüber allerlei Reden, die Sie erschreckten. Er sprach von einem großen Unternehmen, an dem er sich beteiligen wolle, – er und sein Bekannter Ernst Zahn, auch ein Maler. Die beiden hatten die Bekanntschaft eines dritten gemacht, von dem Klein immer nur als von dem Preßburger sprach. Dieser sollte „die große Sache ausgeknobelt“ haben. – Sie ahnten, daß es sich um etwas Unrechtes handelte, beschworen Klein, sich nicht daran zu beteiligen, drohten, ihn aufzugeben. So kam der 3. Mai heran. Gegen ein Uhr mittags schickte Ihnen Klein einen Zettel ins Pensionat. Er müsse Sie sofort unten vor dem Hause für Minuten sehen. Sie eilten hinab. Sie fanden ihn [123] leichenblaß, völlig verstört vor. Fliegenden Atems berichtete er, daß der Schurke, der Preßburger, ihn und Zahn, die zuletzt von der Sache nichts mehr hätten wissen wollen, entsetzlich hineingelegt hätte –“ Er unterbrach sich hier. „Ah – sie kommen – ganz still!“ flüsterte er und zog einen Revolver aus der Tasche. Gertrud Hold zitterte wie Espenlaub. Auch mir war siedend heiß vor Aufregung.

Wir hörten in 47 Schritte, Stimmen. – „So, da wären wir,“ sagte Schilling. – „Endlich!“ meinte Bremer lachend. „So – nun danke ich Ihnen sehr. Ich bin beim Zeichnen gern allein.“

Harst hatte sich erhoben, riß die Verbindungstür ganz auf. In demselben Moment packte Schilling den Verbrecher blitzschnell bei den Handgelenken. Und – alles verlief in Sekunden – nun saß der erdfahl gewordene Bremer mit Stahlbändern um die Hände in einem Korbsessel.

Auch wir nahmen Platz. – „Geben Sie zu, Schmiedicke ermordet zu haben?“ fragte Harst dann den Pockennarbigen, der sich sehr bald wieder gefaßt hatte. – „Herr – Sie müssen verrückt sein!“ brauste Bremer auf[17]. – „Sie werden Ihren Ton ändern,“ meinte Harst gelassen. „Ich kann Ihnen genau schildern, was damals am 3. Mai vorgegangen ist.“ – „Wer sind Sie, zum Teufel?“ – „Natürlich Kriminalbeamter. Das ist wohl nicht schwer zu erraten. – Ich habe gestern aus Wien telegraphisch über Sie Auskunft verlangt. Die Antwort lautete etwa: Zivilingenieur Bremer, sehr befähigt, sehr ehrgeizig, stets große Projekte, ebenso große Fehlschläge, sucht schnell reich zu werden; Spieler, Lebemann, Verschwender nebenbei. – Sie heißen also wirklich Bremer. Ihr letztes Projekt war ein Verbrechen. Als Verbündete hatten Sie die bis dahin recht harmlosen Kunstmaler Klein und Zahn gewonnen. Diese mußten hier im Hotel Sonnenschein absteigen – als Reuperts, Vater und Sohn. Klein spielte den Mann mit dem künstlichen Arm vortrefflich. Jeder glaubte, der linke Unterarm wäre nur eine Prothese. Und Zahn hatte sich ein Mal auf die Wange eingebeizt, das sich leicht entfernen [124] ließ. – Hier im Hotel sollte Schmiedicke überfallen, geknebelt und beraubt werden, – nicht ermordet, denn darauf hätten sich Klein und Zahn nie eingelassen. – Sie selbst, Bremer, wohnten Preßburger Straße 5 bei der Klementine Müller. Alles schien gut zu gehen, als Klein die Reue packte. Seine Braut hatte ihm gedroht, ihn aufzugeben, falls er irgend etwas Unrechtes beginge. Auch Zahn wurde schwankend, und auch er erklärte Ihnen dann, daß er sich nicht weiter beteiligen würde. Die Reuperts wollten also unverrichteter Sache das Hotel wieder verlassen. – Da – handelten Sie allein, Bremer. Am 3. kam Schmiedicke zu Ihnen mit einer Anweisung. Sie schickten ihn jedoch erst eine Treppe höher zu der Regierungsrätin; Sie seien noch nicht angezogen, werden Sie vorgeschützt haben. Schmiedicke zahlte also erst oben das Geld aus. Auf diese Weise riefen Sie den Eindruck hervor, er wäre vorher schon bei Ihnen auf seinem Bestellgang gewesen, und tatsächlich hat sich dann zunächst auch niemand um Sie gekümmert; keine Spur von Verdacht fiel auf Sie. – Schmiedicke kam also wieder zu Ihnen herunter. Sie erdrosselten ihn, packten die Leiche in den vorher besorgten Musterkoffer, legten die Ledertasche hinein und auch einen Teil der Beute – den Sündenlohn für Klein und Zahn. Der Dienstmann brachte den Koffer, auf dem Sie eine Signatur übermalt hatten, nach dem Hotel zu den Reuperts, auch den Schlüssel. Die „Reuperts“ ahnten das Furchtbare, fanden auch die Leiche, schlossen den Koffer wieder ab und verließen völlig kopflos geworden das Hotel, trennten sich auf der Straße und haben sich nicht mehr seitdem gesehen. Zahn floh ins Ausland und hat von dort seinem Genossen Klein irgendwie Nachricht gegeben, daß er entkommen sei. – Klein aber wollte mit Ihnen abrechnen, traf Sie gerade vor dem Hause Preßburger Straße 5 und wurde dann von Ihnen doch schnell überzeugt, daß er als Mitbeteiligter am besten tue, zu schweigen und gleichfalls zu verschwinden. Als er Ihnen gegenüber erwähnte, daß er den „Sündenlohn“ in dem Koffer auf der Leiche hätte liegen lassen und daß er den Zimmerschlüssel von 47 bei sich trüge, tauchte in Ihnen ein besonderer Gedanke [125] auf. Klein mußte Ihnen den Zimmer- und den Kofferschlüssel geben. Unbemerkt kamen Sie ins Hotel, betraten ebenso unbemerkt Nr. 47 und fesselten hier die Leiche an den Stuhl, um die Polizei irrezuführen. Tatsächlich hat man ja auch bis heute angenommen, Schmiedicke wäre hier ermordet worden. Den Sündenlohn aber verbargen Sie in einem Blumentopf, der damals noch hier im Zimmer auf jener Säule gestanden hat. Dann machten Sie sich aus dem Staube. Viele Tage vergingen. Sie merkten, daß die Polizei an Sie auch nicht im entferntesten dachte. Sie fühlten sich vollkommen sicher. Da suchten Sie den Beuteanteil der beiden glücklich Entronnenen, den Sie wohl deshalb nicht mitgenommen hatten, weil Sie den Raub für alle Fälle getrennt verbergen wollten, wieder an sich bringen. Mit einer Kühnheit und Kaltblütigkeit, die ganz der Vorbereitung und Ausführung dieses Verbrechens entsprach, erschienen Sie hier als Hotelgast. Inzwischen waren wir auf Fräulein Hold und Preßburger Straße 5 aufmerksam geworden. Als Sie hier auftauchten, waren Sie uns kein Fremder mehr. Aber heute erst hat uns der Musterkoffer mit der rosa Ölfarbe und eine in Ihrem Mantel gefundene Zigarrenspitze den wahren Zusammenhang herausfinden lassen, – nämlich, daß Schmiedicke anderswo erdrosselt und dann erst die Leiche hierhin geschafft worden war. – Für all dies, was ich Ihnen hier vorhalte, gibt es Beweise. Sie sind vollkommen überführt – vollkommen. Sie sehen, daß die Kriminalpolizei doch schlauer war als Sie! – Geben Sie jetzt zu, daß –“

„Ja! – Was hilft hier wohl das Leugnen?!“ stieß Bremer hervor. „Meine verfluchte Sucht, schnell reich zu werden, kostet mich den Kopf! Die beiden anderen – das sind nur Verführte. Ich bin kein so hartgesottener Schurke, dies nicht einzugestehen. Ich allein entwarf den Plan, gab auch das nötige Geld dazu her. – Allen Respekt vor der Polizei! Ich hätte nicht gedacht, daß sie die Geschichte so vollständig aufdecken würde –“ –

––––––––

[126] Jetzt, wo ich dies niederschreibe, sind Gertrud Hold und Viktor Klein längst ein glückliches Paar. Die beiden gehören mit zu den vielen, die Harald Harst als ihren Wohltäter segnen. –

Am Abend nach der Verhaftung Bremers reisten der Gutsbesitzer Schrammel und sein treuer Pfleger plötzlich ab – angeblich nach Hamburg zurück. Sie kamen aber nur bis nach der Blücherstraße in dem Vorort Schmargendorf, denn dort wohnte ja Harald Harst, und dort empfing uns der telephonisch hinbestellte Kommerzienrat Kammler als Beauftragter der Wettgegner und nannte dann meinem Brotherrn und Gönner die neue, die dritte Aufgabe. Sie lautete: „Wer ist der sogenannte Einbrecherkönig Andreas Nemo?“




[127]
Inhalts-Verzeichnis




Zwei Taschentücher Seite 03
Das Geheimnis des Czentowo-Sees
44
Der Mord im Sonnenschein
85




[128]
Empfehlenswerte


Kriminal-Bücher:


Die Lahore-Vase.

Kriminalroman von W. Kabel.


Der hüpfende Teufel.

Kriminalroman von W. Kabel.


Der Tempel der Liebe.

Kriminalroman von W. Kabel.


Das Haus am Mühlengraben.

Kriminalroman von W. Kabel.


Die Brettldiva.

Kriminalroman von R. Ortmann.


Frau Zoes Rache.

Kriminalroman von H. Hosken.

Preis pro Band Mk. 1,50.


Zu beziehen durch jede Buchhandlung sowie vom

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin SO. 26.


[129]
Der Detektiv.
Band 11: Ein furchtbares Geheimnis.
Band 12: Das Gespenst der „Queen“.
Band 13: Das Geheimnis der schwarzen Perle.
Band 14: Die Hand mit den vier Fingern.
Band 15: Das einsame Haus im Moor.
Band 16: Die Blutfürstin der Pußta.
Band 17: Zwei Taschentücher.
Band 18: Die Jagd auf einen Namen.
Band 19: Die Augen der Jolante.
Band 10: Der Fluch eines Geschlechts.
Band 11: Die verschwundene Million.
Band 12: Die Festung des Ali Azzim.
Band 13: Die tote Lady Rockwell.
Band 14: Der Fakir von Nagpur.


Weitere Bände sind in Vorbereitung.


Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.



Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: einer
  2. Vorlage: Tauentzinstraße
  3. Vorlage: Standsteinbau
  4. Vorlage: Horst
  5. Vorlage: Horst
  6. Vorlage: Horst
  7. Vorlage: leiche
  8. Vorlage: der
  9. Vorlage: Schofför – siehe S. 37.
  10. Vorlage: ihn
  11. Vorlage: Violinkasten siehe gleiche Seite, nächster Absatz.
  12. Vorlage: Mller
  13. Vorlage: De rGraf
  14. Vorlage: begründete?
  15. Vorlage: von
  16. Vorlage: Hirn, alle
  17. Vorlage: au

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die Schreibweise Czentowo anstellen von Szentowo findet sich im Titel der ersten Auflage und in Titelverzeichnissen über die erste Auflage wieder.
  2. Siehe hierzu auch den Artikel Das Neueste über Irrlichter von Walther Kabel. Erschienen in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 12, S. 234–236.
  3. Diese beiden ersten Erfolge (Zwei Taschentücher, Das Geheimnis des Czentowo-Sees) sind jedoch erst in der dritten Auflage als Heft 1 und Heft 2 erschienen. In dieser ersten Auflage erschienen hingegen die ersten beiden Erfolge zusammen mit dem dritten Erfolg (Der Mord im Sonnenschein) als Heft 7. In der zweite Auflage erschienen dann nur noch die ersten beiden Erfolge, ersatzlos gekürzt um den dritten Erfolg, als Heft 7.