Zweierlei Recht für die Reichen und für die Armen in England

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Titel: Zweierlei Recht für die Reichen und für die Armen in England
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 216–220
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Zweierlei Recht für die Reichen und für die Armen in England.
Die Processe Townley und Wright in England.

„Ein Mörder begnadigt und ein Todtschläger gehängt,“ – „Zweierlei Recht für den Armen und für den Reichen“, – so las man im Januar dieses Jahres in den Londoner Blättern, und brausend drang der Wiederhall dieser Anklage durch die Straßen der Weltstadt.

Im December vorigen Jahres waren nämlich vor den englischen peinlichen Gerichtshöfen zwei Criminalfälle verhandelt worden, die ein ganz außerordentliches Aufsehen auf sich gezogen und das Publicum in fieberhafte Aufregung versetzt hatten.

Der eine dieser Processe führt uns einen modernen Othello vor, der, den besseren Ständen der englischen Gesellschaft angehörig, unter einem gesetzten Aeußeren und feinen Manieren einen unbeugsamen Willen und unerbittliche Rachsucht bergend, mit kalter Berechnung und entsetzlichem Vorbedacht die Ermordung seiner ihm untreu gewordenen Desdemona beschließt und ausführt, während im andern Proceß ein armer Arbeiter, der immer für einen gutartigen Gesellen galt, in einem Anfalle ungezügelter Leidenschaft die mit ihm in wilder Ehe lebende Geliebte ergreift und in augenblicklicher Wuth tödtet. Beide Verbrecher wurden des Mordes angeklagt und dieser Anklage nach den Gesetzen für überführt erklärt, der Erstere durch das Verdict der Jury, der Zweite auf seine eigene Schuldigerklärung hin; – gegen Beide mußten Todesurtheile ausgesprochen werden; aber nur eines derselben wurde vollzogen, das gegen den armen Arbeiter, während der Reichere dem Vollzug dieser Strafe entging. Beide Processe sind von höchstem psychologischen Interesse und werfen so charakteristische Streiflicher auf die englische Justiz, daß wir nach den stenographischen Aufzeichnungen unseren Lesern das culturgeschichtlich merkwürdige Bild zu zeichnen versuchen wollen. –

Die Verhandlungen des ersten Processes, die am 11. und 12. December vor der Jury zu Derby vor sich gingen und denen mit höchster Spannung eine dichtgedrängte Menge lauschte, gaben folgendes Resultat:

George Victor Townley, 25 Jahre alt, der älteste Sohn eines Commissionshändlers von Hemdhamvale bei Manchester, ein Mann von guter Erziehung, sanftem Charakter und angenehmen Manieren, der in der Schule mit Leichtigkeit fremde Sprachen lernte und durch eine bedeutende musikalische Begabung sich auszeichnete, hatte vor etwa vier Jahren in Manchester Miß Elisabeth Goodwin, die damals neunzehnjährige Tochter des Herrn Henry Goodwin und Enkelin des nunmehr vierundachtzig Jahre alten, angesehenen Capitains Goodwin zu Wigwellhall in Derbyshire, kennen gelernt, bei welch Letzterem das Fräulein wohnte.

Die jungen Leute liebten sich und verlobten sich miteinander trotz der Warnungen der Freunde und Verwandten des Mädchens, denen nicht unbekannt war, daß der begabte Musiker weder Geschick noch Lust hatte zu einem ernsten praktischen Beruf und eben darum keinen festen Fuß im Leben fassen konnte. Vier Jahre dauerte das Verlöbniß, vier Jahre lang schrieben sich die Verlobten die zärtlichsten Briefe, – noch immer aber war keine Aussicht da, das ersehnte Ziel zu erreichen, George hatte weder eine Anstellung, noch Hoffnung auf solche. Da, am Mittwoch den 12. August 1863, wurde er von einem Briefe seiner Geliebten überrascht, in welchem sie ihm mittheilte, sie habe vor einigen Wochen in Wigwellhall einen Geistlichen kennen gelernt, „den liebenswürdigsten Mann, den sie je gesehen; der Großvater meine, dieser Geistliche wäre eine passende Partie für sie, aber das gehe ja nicht …“ Der Brief schließt mit der Versicherung ihrer unveränderten Zärtlichkeit. Schon am Samstag, den 15., erhielt George indeß einen neuen Brief von Elisabeth, in welchem sie sagt: „sie habe ihm Vieles zu schreiben, der Großvater habe ihre Correspondenz mit ihm entdeckt und sei ungehalten darüber, daß seinem Plan etwas im Wege stehe; George sollte sie deshalb ihres Versprechens entbinden, damit sie sagen könne, sie sei frei. Sie werde trotzdem nicht heirathen, wenn sie anders dem entgehen könne ...“

Dieser Brief versetzte George in die höchste Aufregung. Er „erschütterte“, wie seine Mutter vor den Geschworenen aussagte, „das Gehirn meines Sohnes“. George nahm den ganzen Tag so gut wie nichts zu sich und ging am Samstag Nacht nicht in’s Bett. Am Sonntag, den 10., aber schrieb er an „seine theuerste Bessie“: „er sei furchtbar niedergeschlagen, werde ihren Wünschen aber nicht im Wege stehen; nur wolle er noch aus ihrem eigenen Munde vernehmen, was sie beschlossen. Er habe einen Antrag erhalten, England zu verlassen, wolle sie aber vorher, zum letzten Male, sehen, sie möge bestimmen, wo.“ „Dein Dich stets liebender George.“

Nachdem er den Brief abgeschickt, legte er sich auf’s Sopha, fand aber keine Ruhe. Seine Hände und Füße zuckten krampfhaft, so daß seine Mutter ihm etwas Morphium gab. Am Sonntag aß George wieder nicht zu Mittag, schrieb aber nach Tisch einen zweiten Brief an seine Geliebte, in welchem er den Wunsch aussprach, daß die Zusammenkunft am Donnerstag, den 20., Abends, oder Freitag, den 21., Morgens stattfinden möge, – „nach der letzten Zusammenkunft werde es Beiden besser zu Muthe sein.“

Am Dienstag Vormittag ging George Townley nach einer schlaflosen Nacht nach Manchester, wo er eine französische Stunde gab. Schweißtriefend kam er zurück. Am Mittwoch erhielt er einen Brief von Bessie, in welchem sie ihm (unwahrer Weise) „in größter Eile“ mittheilte, sie reise heute ab von Wigwellhall und wisse nicht, wann sie zurückkehre, sie wolle ihn nicht mehr sehen; es sei besser für Beide, auf diesem Wege sich Lebewohl zu sagen. Nach Verfluß von drei Tagen könne er ihr nicht mehr schreiben, da von dieser Zeit an Briefe an sie abgefaßt und erbrochen würden.

Dieses letzte Schreiben seiner Braut empfing George am Donnerstag. Am nämlichen Tag reiste er mit der Eisenbahn nach Derby, um daselbst zu übernachten und am andern Tag Bessie in Wigwellhall aufzusuchen. Am Freitag Morgen, den 21., fuhr Townley von Derby nach Whatstandwell, der letzten Station vor Wigwellhall, ging an jenem Ort in ein Wirthshaus, trank nach einander zwei Glas Brandy mit Wasser, bestellte ein Bett für die Nacht und machte sich dann auf den Weg. Dieser führte ihn nach Wirksworth, 11/2 englische Meilen von Wigwellhall, wo er den Pfarrer, den Hausfreund und Vertrauten seiner Bessie, aufsuchte und ihm bemerkte: „Elisabeth habe ihm geschrieben, sie wolle ihn nicht mehr sehen, er aber müsse aus ihrem eigenen Munde hören, daß sie von dem Verlöbniß zurücktrete; er wisse wohl, daß er keine gute Partie sei, und wolle ihr daher nicht im Wege stehen.“ Der Pfarrer, welchem George „ganz ruhig und gefaßt“ erschien, gab ihm den Rath, Miß Goodwin zu Hause aufzusuchen. Auf das Begehren Townley’s ihm den Namen des Geistlichen mitzutheilen, der vor drei bis vier Wochen in Wigwellhall gewesen sei, ging der Pfarrer nicht ein.

Abends gegen fünf Uhr verließ George Townley den Pfarrer. Zwanzig Minuten vor sechs Uhr kam er in Wigwellhall an und wurde daselbst von der Dienerin in’s Besuchszimmer zu Miß Goodwin gewiesen. Beide gingen miteinander in den Garten und setzten sich auf eine Bank nahe beim Hause. Nach einer halben Stunde holte das Dienstmädchen Miß Goodwin in’s Haus. Hier blieb dieselbe bis ein Viertel vor sieben Uhr, wo sie sich wieder zu George in den Garten begab. Wiederum saßen die Beiden beisammen auf der Bank. Was sie aber miteinander verhandelten, ist Geheimniß geblieben. Ein Viertel nach sieben Uhr wurde Miß Goodwin zum Thee gerufen. Die jungen Leute saßen noch immer am gleichen Ort. Bessie erwiderte, sie werde gleich kommen. George Townley benahm sich ruhig und gefaßt, „wie andere Leute“.

Elisabeth aber kam nicht zum Thee. Sie verließ vielmehr mit ihrem früheren Geliebten den Garten, und Beide spazierten miteinander auf die Landstraße und in einen engen Heckenweg. Hier sah sie um halb neun Uhr in eifriger Unterhaltung ein Arbeiter. Gleich darauf vernahm in derselben Richtung ein anderer Arbeiter einen Jammerruf, eilte darauf zu und – welch’ schrecklicher Anblick! – Miß Goodwin, mit einer furchtbaren Halswunde, Gesicht, Hände und Kleider mit Blut überzogen, tastete sich an der Mauer Wigwellhall zu. Das Mädchen bat den Mann, sie nach Hause zu führen, und sagte, „es sei ein Gentleman da, der sie umgebracht habe.“ Townley war etwa siebzig Schritte hinter seinem Opfer, kam jetzt heran und erwiderte auf die Frage des Arbeiters, wer Miß Goodwin ermordet habe: „Ich habe sie erstochen.“ Von dem Arbeiter um den Leib, von ihrem Mörder am Kopfe gestützt, wurde das verblutende Mädchen weiter dem Hause zu geführt. George Townley nannte Elisabeth mehreremale seine arme Bessie und sagte zu ihr: „Du hättest mir nicht untreu werden sollen.“ Bessie gab [217] keine Antwort. Endlich legten die Zwei das Mädchen nieder. Townley bat seinen Gefährten um irgend Etwas, das er um den Hals der Verwundeten legen könne, das Blut damit zu stillen, und sandte ihn fort, um Hülfe zu holen. Als der Arbeiter nach vier bis fünf Minuten zu der Gruppe zurückkam, hatte Townley seine Bessie verbunden. Er rief dem Ankömmling zu, sie lebe noch; sie aber wimmerte: „Bringt mich nach Hause.“ Wiederum ging der traurige Zug ein wenig weiter. Da kamen zwei Nachbarn und fragten: „Wer hat es gethan?“ Townley erwiderte: „Ich habe es gethan.“ Einem dritten Nachbar entgegnete er auf die gleiche Frage: „Ich habe es gethan und werde dafür gehängt werden.“ Immer kälter und starrer wurde der Körper der armen Elisabeth, die endlich mit den Worten: „Ich sterbe jetzt,“ – den letzten Athemzug thut. Jetzt hört man die Worte ihres Mörders: „Ich fürchte, sie ist todt,“ und George Townley beugt sich über die Leiche und küßt sie. Die Leiche wird in’s Haus getragen, der Zug stößt auf den greisen Großvater. Derselbe fragt, was es gegeben habe, worauf Townley ganz gleichgültig autwortet: „Es ist Eure Enkelin Bessie, ermordet, und ich bin der Thäter.“ Der Capitain fragt weiter: „Wer seid Ihr?“ Townley antwortet: „Ich heiße George Townley,“ – und auf die Frage des Alten, warum er den Mord verübt habe, erwiderte Jener: „Sie hat mich betrogen, und das Weib, das mich betrügt, muß sterben. Ich sagte ihr, daß ich sie tödten werde; sie kannte mein Temperament.“ Darauf ging George Townley mit dem Greis in’s Besuchzimmer und händigte ihm daselbst zwei Pakete Briefe der Ermordeten ein mit dem Bemerken: „der Capitain könne dieselben lesen, verbrennen, damit thun, was er wolle; er, Townley, wolle die Briefe nicht mitnehmen in den Gerichtshof.“ Der Capitain verbrannte dann die Briefe ungelesen.

Als ein Polizeibeamter kam, ging ihm Townley mit den Worten entgegen: „Ich wünsche mich als den Mörder der jungen Lady verhaften zu lassen,“ und erwiderte auf die ernste Frage des Beamten, ob er auch wisse, wessen er sich anklage, – : „Ja wohl, ganz gut, und ich werde ruhig mir Ihnen gehen; nur will ich Bessie zuvor noch einmal sehen.“ Townley nahm dann das blutige Messer, mit dem er die That verübt hatte, aus der Tasche – es war ein gewöhnliches Einschlagmesser – und übergab es dem Beamten, der ihn nun in die Küche führte, wo der Leichnam lag. Townley betrachtete denselben lange und starr, sprach aber kein Wort. Auf dem Weg zum Gefängniß äußerte er: „Ich bin jetzt viel glücklicher, seit ich es ausgeführt habe, und ich bin überzeugt, auch sie ist es.“ Othello selber, wenn er seinen verhängnisvollen Irrthum nicht entdeckt, hätte sich kaum charakteristischer ausdrücken können.

Bei der Obduction fand man drei Wunden an der rechten Seite des Halses der Ermordeten: einen Stich, wahrscheinlich von hinten, unter dem rechten Ohr, einen solchen vorn, unbedeutend, noch weiter vorn aber, drei Zoll lang und fast bis zum Kinn reichend, eine schreckliche Wunde, welche die äußere Carotis und die innere Drosselader durchschnitt. Sie war absolut tödtlich. Auf diesen Belastungsbeweis hin beantragte der Ankläger, der in den Fällen von absichtlicher Tödtung auch im englischen Verfahren immer ein öffentlicher ist, gegen Townley das Schuldig des Mordes, indem er beifügte, die Vertheidigung werde wahrscheinlich die Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten behaupten, der Nichtschuldig plaidirt hätte. Um aber mit dieser Behauptung auszukommen, müßte bewiesen werden entweder, daß der Angeklagte in einem Zustande des Wahnsinns gehandelt habe, in welchem er die Natur und Beschaffenheit seiner Handlungsweise nicht kannte, oder daß er, wenn er die Natur seiner That kannte, nicht gewußt habe, daß er rechtswidrig handle.

Die Vertheidigung brachte zwei Aerzte vor die Schranken. Dieselben deponirten, sie haben den Angeklagten zweimal im Gefängniß [218] besucht, das erste Mal am 18. November (also drei Monate nach der That) und das zweite Mal unmittelbar vor dem Gerichtstage. Beidemal sei das Benehmen des Angeklagten ganz natürlich, nicht erkünstelt gewesen. Derselbe bestreite, ein Verbrechen verübt zu haben, und fühle weder Schmerz, noch Reue, noch Zerknirschung über seine That. Miß Goodwin, so behaupte er, sei sein Eigenthum gewesen, das man durch einen Act der Gewalt ihm habe entreißen wollen; er habe seine Braut angesehen wie seine Gattin, die einen Ehebruch begangen und über deren Leben er eben darum habe verfügen dürfen wie über das Geld in seinem Beutel. Um das ihm gestohlene Eigenthum wieder zu gewinnen, habe er Elisabeth getödtet; er würde es gerade so mit einem Dieb machen, der ihm ein Gemälde stehle. Er gestehe Niemandem das Recht zu, über ihn zu Gericht zu sitzen, denn er sei ein freier Mann; da er sich nicht selber in die Welt gesetzt, so könne er denken und handeln, wie es ihm beliebe, ohne Rücksicht auf irgendwen. Der Angeklagte, so finden die Aerzte, habe ganz falsche Moralbegriffe, derselbe sei auch Atheist, ja mehr als das, er leugne Gott und Unsterblichkeit. Zudem stehe er im Wahn, schon einige Wochen vor dem 21. August das Opfer von sechs Verschworenen geworden zu sein, die sein Verderben beschlossen hätten, eine Verschwörung, welche ihren Fortgang genommen habe während seiner Verhaftung; er wolle deshalb, sobald er wieder frei, das Land verlassen. Aus alledem schließen die Aerzte, daß George Townley, der zumal „wild und wahnsinnig“ aussehe, wenigstens seit dem November v. J. geisteskrank sei.

Nachdem die drei Vertheidiger, mit denen der Angeklagte erschienen war, darzuthun versucht hatten, daß George Townley, immer ein liebenswürdiger und sich selbst beherrschender Mann, durch den „furchtbaren Schlag, den seine Gefühle erlitten,“ verrückt geworden sei, entgegnete der Ankläger: sämmtliche Handlungen des Angeklagten, seine Briefe an die Ermordete, das Benehmen auf der Reise nach Wigwell, seine Aeußerungen nach der That seien die eines geistig Gesunden. Allerdings möge Townley gewisse von denen der übrigen Menschen abweichende philosophische Ansichten haben, die aber unverträglich seien mit dem Wohlbefinden der bürgerlichen Gesellschaft; das Gesetz dulde es wohl, solche Ansichten zu hegen, allein es verbiete, daß sie zu Handlungen werden; gewiß wäre es sehr gefährlich, Denjenigen, der das Stehlen nicht für unmoralisch halte, ungestraft rauben zu lassen. Die von den beiden Aerzten neuentdeckte Species von Geisteskrankheit, „die allgemeine moralische Zerrüttung“, wäre unverträglich mit der Existenz der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Vorsitzende Richter erläuterte den Geschwornen: „Der Angeklagte habe gewiß durch die Untreue seiner Geliebten so viel gelitten, als je ein Mann litt, sein Gemüth sei wahrscheinlich krank gewesen am 21. August; daraus folge aber noch nicht die Unzurechnungsfähigkeit für seine That. Wenn George Townley wußte, daß seine Handlungsweise wahrscheinlich den Tod der Miß Goodwin zur Folge haben werde und daß er dabei gegen das Gesetz Gottes handle und gesetzliche Strafe zu erwarten habe, so ist er für seine Handlung criminell verantwortlich. Die Geschworenen haben diese Fragen zu beurtheilen und zu entscheiden nach den Aeußerungen und Handlungen des Angeklagten zur Zeit der That; eine solche Aeußerung sei: „Das Weib, das mich betrügt, muß sterben,“ hierin liege das Motiv zur That, und in der weiteren Aeußerung: „Ich werde dafür gehängt werden,“ das Bewußtsein von der Strafbarkeit dieser That. Miß Goodwin möge den Angeklagten betrogen haben, deshalb aber dürfe er ihr nicht die Kehle durchschneiden. Der Angeklagte beanspruche zwar jetzt ein mit seinen eigenen brieflichen Aeußerungen im Widerspruch stehendes Recht, über sein Weib und seine Verlobte zu verfügen wie über ein Stück Vieh, – das sei aber keine zur Unzurechnungsfähigkeit führende Sinnestäuschung, sondern nichts als eine von den gewöhnlichen Ansichten abweichende und den göttlichen Gesetzen widersprechende Ansicht.“

Nach dieser vortrefflichen Belehrung zogen sich die Geschworenen zur Berathung zurück. Schon nach fünf Minuten verkündigte der Obmann das Schuldig. Der Richter aber setzte die schwarze Kappe auf, erklärte sich einverstanden mit dem Wahrspruch der Geschworenen, da eine Freisprechung in ihren Folgen gefährlich gewesen wäre für die Gesellschaft, forderte den Angeklagten auf, seinen Frieden mit Gott zu machen, und verkündigte mit bewegter Stimme das Todesurtheil.

Kann man dem Angeklagten, der in verzweifelnder Liebeswuth zum Mörder seiner Geliebten wurde, auch die Theilnahme nicht versagen, so wird man doch den Spruch der Geschworenen gerecht finden müssen. Auch der berühmte Mohr von Venedig hätte nach menschlichen Gesetzen zum Tode verurtheilt werden müssen.




Vier Tage nach dieser interessanten Verhandlung, am Mittwoch, den 16. December 1863, wurde vor dem Central-Criminal-Gerichtshof in London ein ähnlicher Fall verhandelt, bei dessen Erzählung wir uns kürzer fassen können.

Samuel Wright, dreißig Jahre alt, dessen Herkunft uns indeß die Londoner Blätter nicht melden, ein fleißiger und ordentlicher Maurer, wohnte seit vier Monaten in London, im Süden der Themse mit der zweiundvierzigjährigen Anna Green friedlich zusammen. Beide galten, ihrer ruhigen und geregelten Lebensweise wegen, für Mann und Frau. Sie waren aber nicht verheirathet. Am Samstag, den 12. December 1863, Abends acht Uhr waren sie noch in ihrer Wohnung, „glücklich und zufrieden“. Hernach gingen sie mit einander in’s Wirthshaus. Hier soll es Streit und das Weib dem Wright zwei Streiche gegeben haben, wovon aber Letzterer selber nichts sagt. Sonntag, den 13. December, Morgens zwischen drei und vier Uhr kam das Paar nach Hause, das Weib, wenn nicht betrunken, so doch in sehr erregtem Zustand. Um vier Uhr erwachte durch einen starken Lärm in dem Zimmer über ihr eine im ersten Stocke wohnende Schneiderin. Bald darauf hört sie lautes Stöhnen. Sie wird von Angst befallen, steht auf, macht Licht und geht die Treppe hinauf, um nachzusehen, was es gebe. Auf der Treppe begegnet sie dem Wright, der nur halb angekleidet ist. Seine Hemdärmel sind aufgeschlagen, Gesicht und Arme blutig, sein Blick verstört. Auf die Frage der vor Angst fast ohnmächtigen Schneiderin: „Was giebt’s?“ erwidert er: „Sieh selber nach!“ Sie tritt hinein in die Stube und sieht hier – Anna Green, völlig angekleidet, auf den Händen und Knieen kauernd, mit einem schrecklichen Schnitt in der Kehle. Das Blut floß in Strömen auf den Fußboden. Auf dem Heerd brannte frisch angezündetes Feuer. Auf den Ruf der Schneiderin: „Um Gotteswillen, Frau Wright, was giebt’s?“ erwidert diese in schwachem Ton: „er hat mir den Hals abgeschnitten.“ Aus den Blutflecken im Zimmer schien hervorzugehen, daß ein Kampf zwischen den Beiden, stattgefunden hatte.

Als die sofort herbeigeholte Polizei und ein Arzt kamen, war Anna Green, der die Hauptarterien auf beiden Seiten des Halses durchschnitten waren, todt. Hinter der Stubenthür aber stand Samuel Wright, der auf die Frage des Constabel: „Was hat es gegeben?“ vortrat und antwortete: „Ich hab’s gethan und es ist aus.“ Auf dem Tisch lag ein blutiges Rasirmesser. Wright deutete darauf hin und sagte: „Mit dem hab’ ich’s gethan.“ Ein großes Tischmesser mit Elfenbein-Handhabe lag in der Nähe der Todten. Als der Constabel auch dieses zur Hand nahm, rief Samuel Wright aus: „Das ist das Messer, das sie gegen mich aufhob.“ Dann bat der Unglückliche, man möge ihn abführen, er könne es hier nicht länger aushalten, die Schneiderin aber möge seinen Freunden mittheilen, in welcher Lage er sich befinde.

Am andern Tag, Montag den 14. December, wurden in Gegenwart des Wright die Zeugen vom Friedensrichter des Southwarkdistricts vernommen. Auf seine Frage, ob Wright über die Aussagen derselben etwas zu bemerken habe, erwiderte derselbe mit schwacher Stimme: „Ich habe nichts zu bemerken,“ worauf der Beweis für vollständig erklärt und Samuel Wright wegen Ermordung der Anna Green in’s Gefängniß von Newgate geschickt wurde. Tags darauf, am Dienstag, nahm der gerichtliche Todtenbeschauer, der Coroner, die Leichenschau vor: die Getödtete hatte zwei schreckliche Wunden am Hals, die eine auf der rechten Seite desselben war fünf, die andere auf der linken Seite neun Zoll lang. Zufällig saß gleichzeitig die große (Anklage-)Jury des Londoner Central-Criminal-Gerichtshofes, der Coroner überwies ihr den Fall; dieselbe versetzte Samuel Wright in Anklagestand, und schon am folgenden Tag, Mittwoch, den 16. December, stand derselbe, ehe noch die Leiche seines Opfers begraben war, vor dem Lord Oberrichter des Central-Criminal-Gerichtshofes, um sein Urtheil zu empfangen. Samuel Wright erschien aber nicht, wie George Townley, von drei Vertheidigern begleitet vor der Jury, – der arme Mann, der keinen Vertheidiger bezahlen konnte, erschien ohne einen solchen! Man eröffnet ihm, daß er angeklagt sei, am 13. December die Anna Green mit Vorbedacht und aus bösem Vorsatz ermordet zu haben.

[219] Der Angeklagte erklärt sich schuldig.

Es ist in den Annalen der englischen Strafjustiz fast unerhört, daß Jemand, der capitalen Verbrechens angeklagt ist und zudem nicht einmal einen Fluchtversuch gemacht hat, sich unbedingt schuldig erklärt. Der Richter sah sich deshalb zu der Frage veranlaßt: „Habt Ihr auch vollständig verstanden, wessen Ihr Euch schuldig erklärt, und kennt Ihr die Folgen dieser Erklärung? Mit dem „Schuldig“ gesteht Ihr nicht nur zu, der Anna Green die tätlichen Wunden zugefügt, sondern auch, dies mit Vorbedacht und ohne Entschuldigungsgrund (without excuse) gethan zu haben. Es ist nicht Sache des Richters, den Angeklagten zum Widerruf einer Schuldigerklärung zu bewegen, falls derselbe weiß, was er thut; überzeugen aber möchte ich mich, ob Ihr die Bedeutung Eurer Erklärung verstehet?“

Angeklagter: „Ja, Mylord, ich verstehe sie.“

Der Ankläger: „Der Angeklagte ist soeben erst den Assisen überwiesen worden und hat wahrscheinlich noch keine Zeit gehabt, sich nach gesetzlichem Rath oder Beistand umzusehen. Ich habe die wider ihn abgelegten Zeugnisse gelesen und es scheint mir, der Angeklagte könnte, wenn er gut berathen würde, geneigt sein, seine Erklärung zurückzuziehen.“ Diese Bemerkung des Anklägers war um so mehr begründet, als ja der Angeklagte unmittelbar nach der That behauptet, die Getödtete habe ihm mit einem Messer gedroht.

Der Richter: „Es scheint mir, wenn der Angeklagte die Bedeutung und die Folgen seiner Erklärung kennt, und darüber ist er allein Richter, so bleibt nur übrig, daß er sein Urtheil empfange. Es liegt nichts in dem Beweise, was mich bestimmen könnte, seine Schuldigerklärung umzustoßen. (Zum Angeklagten:) Verstehet Ihr vollständig die Natur und Bedeutung der Schuldigerklärung?“

Angeklagter: „Ja, Mylord.“

Der Gerichtsschreiber: „Ihr seid auf Euer eigenes Geständmß hin des Mordes überwiesen. Habt Ihr einen Grund dafür anzuführen, warum etwa der Gerichtshof die Todesstrafe gegen Euch nicht aussprechen sollte?“

Der Angeklagte giebt keine Antwort.

Der Richter setzt die verhängnißvolle schwarze Kappe auf, bemerkt, der Angeklagte habe Schuldig plaidirt, sein Verbrechen eingestanden und darin recht gethan, sofern er wirklich die Wirkung seiner Erklärung gekannt habe. Der Angeklagte möge daher seinen Frieden mit Gott machen, denn in dieser Welt sei nicht die geringste Hoffnung auf Gnade für ihn. Darauf erfolgt die Verurteilung zum Tode, und der Angeklagte, der sich kaum aufrecht halten konnte, wird abgeführt.

Am Sonntag früh die verbrecherische That, am Mittwoch darauf das Todesurtheil. Das ist eine unerhört schnelle Justiz! Unerhört ist aber auch die Verurtheilung eines Menschen zum Tode ohne vorausgegangene Vertheidigung durch einen Anwalt. Zwar gilt im englischen Verfahren der Satz: der Richter ist der Vertheidiger des Angeklagten; aber dieser Satz hat seine Grenzen, und es widerspricht den ersten Geboten des Rechtes, der Humanität und des kriminalistischen Anstandes, den eines todeswürdigen Verbrechens Angeklagten ohne Vertheidiger zu lassen, weil er einen solchen aus eigenen Mitteln nicht zu bezahlen vermag, ja es ist geradezu empörend, die Todesstrafe über einen Menschen auszusprechen und zu vollziehen, der nicht den Schutz eines Vertheidigers genossen hatte. Wer bürgt denn dafür, daß Samuel Wright den Unterschied zwischen Mord und Todtschlag kannte? Und doch bedingt dieser Unterschied den Kopf!

Erst nach seiner Verurtheilung zum Tode erfuhr man im Publicum, Wright habe erzählt: „In der verhängnißvollen Nacht habe Anna Green gedroht, ihn zu verlassen. Deshalb sei zwischen ihnen Zank ausgebrochen. Darauf habe er sich schlafen gelegt, Anna aber ihn geweckt, geschüttelt und erklärt, sie lasse ihn nicht schlafen, sie werde ihm ein Messer in den Leib stechen; da sei er aus dem Bette gesprungen, habe das Rasirmesser ergriffen, das auf dem Tisch gelegen, und ihr damit den Hals abgeschnitten. Ihr letztes Wort sei gewesen: „O, Samuel, ich wollte das nicht thun!“ (d. h. mit dem Messer Dich nicht verwunden.)

Spricht diese Erzählung nicht eher für Tödtung im Affect, also für Todtschlag, denn für Mord? Spricht nicht der friedliche Charakter des Verurtheilten gegen vorbedachten Mord? Hätte nicht ein Vertheidiger diese für Todtschlag sprechenden Momente hervorheben und den Angeklagten bestimmen müssen, seine Schuldigerklärung für Todtschlag anstatt für Mord abzugeben? Wäre es in einem Falle, wo es sich um einen Kopf handelt, nicht zum Mindesten gerathen gewesen, die Frage der Seelenstimmung, in welcher der Angeklagte gehandelt, der Entscheidung der Jury zu unterbreiten?




Townley und Wright waren zum Tode verurtheilt. Ein Todesurtheil darf in England nicht vollzogen werden ohne ausdrückliche Ermächtigung des Ministers des Innern. Die Königin kann nicht begnadigen ohne vorhergegangenen auf Begnadigung gerichteten Antrag dieses Ministers. Nur in seltenen Fällen stellt aber der Minister einen solchen Antrag. Die Engländer lieben das Schauspiel des Hängens wie die Spanier die Stiergefechte. Der Vollzug der erkannten Todesstrafe bildet die Regel, nicht wie in andern Staaten die Ausnahme.

Am Tage nach der Verurtheilung Townley’s machte der Vorsitzende Richter von diesem Urtheil Mittheilung an den Lord Grey, den Staatssecretair des Innern, und lenkte dabei, ohne indessen einen Antrag zu stellen, die Aufmerksamkeit des Lords auf die Thatsache, daß vor der Jury zwei Aerzte den Beurtheilten für derzeit geisteskrank erklärt haben. Sir George Grey ließ nun den Geisteszustand Townley’s im Gefängniß durch eine Commission von Sachverständigen untersuchen. Diese erklärten, nach sorgfältiger Prüfung, am 28. December, der Geisteszustand des Verurtheilten habe sich seit seiner Verhaftung am 21. August nicht verändert: Townley habe extravagante Ansichten und verkehrte Moralbegriffe, seine Begriffe von Recht oder Unrecht aber, ob falsch oder nicht, seien zusammenhängend und der Angeklagte ihrer Tragweite sich bewußt; insbesondere aber wisse derselbe, daß seine Ansichten abweichen von den gewöhnlichen. – Die Commission hatte also keinen neuen Thatbestand gefunden, welcher der erkennenden Jury nicht vorgelegen hätte, denn gerade so hatten die Aerzte in der Verhandlung vom 11. und 12. December den Geisteszustand des Angeklagten beurtheilt und trotzdem die Geschworenen, in ausdrücklicher Uebereinstimmung mit dem Lord Oberrichter, das Schuldig ausgesprochen. Die Todesstrafe hätte also jetzt wenigstens vollzogen werden sollen. In der That drang auch die Presse von dem Standpunkt des Ansehens der Jury aus, und zwar schon vor dem Ausspruch der Commission, auf den Vollzug der Todesstrafe; „der Delinquent,“ so riefen die Blätter aus, „sei nach Ordnung und Recht verurtheilt worden. Der Ausspruch der Geschwornen müsse respectirt werden.“

Die Presse fand eine mächtige Unterstützung in dem Auftreten der Richter der Grafschaft Derbyshire. In einem in der Times abgedruckten Memorial an Sir George Grey erklärten mehr als vierzig Friedensrichter dieser Grafschaft: „Townley’s Geisteszustand sei vollständig und öffentlich untersucht worden, der Verurtheilte sei Mörder mit Vorbedacht und mit dem Bewußtsein der Gesetzesverletzung; nie habe früher seine Familie ihn für geisteskrank gehalten. Jetzt nehme man eine geheime neue Untersuchung seines Geisteszustandes vor, dabei werden keine Zeugen beeidigt, kein Kreuzverhör mit denselben angestellt. Ueber dieses einseitige Verfahren herrsche große Unzufriedenheit und die beklagenswerthe Meinung, es gebe in England ein Gesetz für den Reichen und ein anderes für den Armen, die Macht des Geldes vermöge den Lauf des Gesetzes zu hemmen, und Townley wäre, wenn er und seine Freunde arm gewesen wären, hingerichtet worden. Auf diese Weise werde die Achtung vor der Justiz tödtlich untergraben.“

Auf diese Demonstration erwiderte, freilich erst nach dem Ausspruch der Commission, der Minister: „Es sei ihm soeben ein neues Separat-Gutachten dreier Aerzte und zweier Friedensrichter aus der Grafschaft Derby übergeben worden, in welchem behauptet werde, Townley sei gegenwärtig geisteskrank; da nun eine Parlamentsacte von 1840 bestimme, „daß, wenn immer ein zur Deportation, zum Gefängniß oder zum Tod Verurtheilter von zwei Aerzten und zwei Friedensrichtern innerhalb des Bezirks, da er gefangen, für geisteskrank erklärt werde, ein solcher vom Minister des Innern in eine Irrenanstalt zu versetzen sei“, so bleibe ihm nichts übrig, als den Delinquenten Townley in eine Irrenanstalt bringen zu lassen.“

Während die Presse nicht nur den Minister zu tadeln fortfuhr, der schon vor dem Eingang jenes Separat-Gutachtens die Vollstreckung des Todesurtheils gegen Townley gehemmt habe, sondern auch die „absurde“ Parlamentsacte geißelte, die es vier Privatpersonen möglich mache, jeden Verbrecher von der Todesstrafe zu befreien, [220] sofern ein vermöglicher Verurtheilter immer zwei beliebige Aerzte finden werde, welche zwei sentimentale Friedensrichter bestimmen können, ihn für geisteskrank zu erklären, und das um so eher, je gräulicher ein Mörder sei;[1] während die Presse also in dieser Weise, zum Theil mit großer Bitterkeit, gegen den vermöglichen Townley auftrat, wurde in entgegengesetzter Richtung für den armen Wright agitirt. An der Spitze dieser Agitation stand der Advocat der Anklage selber, Herr Sleigh. Derselbe war rastlos in seinem Bemühen, Sir George Grey zu bewegen, bei der Königin den Gnadenact zu befürworten, indem er seine Ueberzeugung aussprach, „daß der Angeklagte, hätte er einen Vertheidiger gehabt, von den Geschwornen nur des Todtschlags schuldig befunden worden wäre.“ In gleicher Weise verwendeten sich bei dem Minister die das Gefängniß besuchenden Richter. Eine Monstreversammlung von Arbeitern bat in einer motivirten Eingabe, unter Hervorhebung der unerhörten Ueberstürzung der Untersuchung, um Begnadigung des Verurtheilten; ebenso sechshundert Handelsleute in Lambeth, dem Hauptbezirke Londons, in dem Wright gewohnt hatte. Sir George aber erwiderte: „Hätte Wright sich nicht selber schuldig erklärt, so würde eine ihrer Pflicht bewußte Jury dies gethan haben. Nichts spreche für eine von Seiten des Weibes gegen den Delinquenten verübte Gewaltthätigkeit, wodurch derselbe gereizt worden sei. Allerdings sei die Ermordete „von heftigem Charakter und bösartig“ gewesen, dies sei aber kein Beweis dafür, daß sie am Sonntag, den 13. December, in der Frühe den Verurtheilten angegriffen habe. Der gleichen Ansicht sei der Vorsitzende Richter.“ Sir George bedauert, einen Mann von „bisher gutem Charakter“ zum Tode verurtheilt zu sehen, kann sich aber, im Hinblick auf die bisherige Praxis (!), nicht entschließen, bei Ihrer Majestät die Begnadigung zu beantragen. Eine Petition an den Prinzen von Wales wurde abgewiesen, weil jedes Einschreiten seinerseits „inconstitutionell“ wäre, und eine der Königin direct übergebene Bittschrift mit der Antwort abgefertigt, „daß Ihre Majestät es nicht unternehmen könne, ihren Räthen zu rathen.“

Auf Dienstag, den 12. Januar 1864, wurde die Hinrichtung festgesetzt. Die Regierung befürchtete Unordnungen und traf deswegen Vorsichtsmaßregeln in großem Maßstabe. Dieselben waren jedoch überflüssig, denn das Volk demonstrirte in anderer Weise, friedlich, aber ergreifend. Am Montag, den 11., circulirten im südlichen Stadttheil Londons, wo die Execution vor sich gehen sollte, Zettel mit Trauerrand, des Inhalts: „Feierlicher Protest gegen die Hinrichtung Samuel Wright’s. Männer und Frauen von London, haltet Euch fern von dem traurigen Schauspiel der Ungerechtigkeit! Nur der Himmel soll auf das Verbrechen schauen, das der Henker begeht. Schließet und verhüllet alle Fenster! Engländer, wenn Wright gehängt wird, dann giebt es zweierlei Recht in England: eines für den Armen, und eines für den Reichen!“ Die Protestation wirkte. Nur Gesindel der niedrigsten Art sammelte sich am Dienstag vor dem Horsemongerlane-Gefängniß, wo die Hinrichtung stattfinden sollte. Das betrunkene Gesindel jauchzte und verhöhnte den „Hängeminister“ Sir George. Alle Läden und Fenster in den umliegenden Straßen waren geschlossen und verhängt. Arbeiter besetzten die Zugänge, die Neugierigen beschwörend, den „Platz der Schande und des Justizmords“ zu meiden. Während sonst mehr als 20.000 Menschen dem traurigen Schauspiel einer Execution in London beizuwohnen pflegen, waren diesmal kaum 3000 erschienen, darunter wenigstens 1000 Constabler.

Um neun Uhr wurde Wright auf’s Schaffot geführt. Gefaßt und festen Schrittes ging der Mann zum Tode. Er wurde mit furchtbarem Zuruf empfangen. Das Volk sah in ihm nicht den Missethäter, sondern nur das Opfer eines störrigen Bureaukratismus. Wright dankte für die Anstrengungen, die das Volk gemacht habe, sein Leben zu retten. Dieses aber schrie und brüllte: „Schande, Schande, Justizmord! – Wo ist Townley?“ Wright verbeugte sich tief. Zwanzig Mal drang zu ihm der Zuruf allgemeinen Mitleids; zwanzig Mal verbeugte er sich, selbst als ihm schon die weiße Kappe über die Augen gezogen war. Eine Minute später hing er leblos am Galgen, während wahnsinniges Gezisch, Pfeifen und das Geschrei: „Wo ist Townley?“ durcheinander tobte.

Das entmenschende Schauspiel einer solchen Hinrichtung giebt kein vortheilhaftes Bild von dem Culturzustande des „freien“ Volkes von England. Am 13. Januar aber erfolgten in London neue Monstreversammlungen, welche Adressen an’s Parlament beschlossen für Abschaffung der Todesstrafe, zugleich erklärend, Sir George Grey habe sich des Postens eines britischen Ministers unwürdig gemacht. In den Londoner Blättern geht indessen der Streit über die Bedeutung der Parlamentsacte von 1840 fort. Die Einen behaupten, in Folge des „Separat-Gutachtens“ müsse Townley lebenslänglich in einem Irrenhause verwahrt werden, während die Anderen anführen, sobald die Geisteskrankheit desselben geheilt, worüber die Irrenärzte zu entscheiden haben, sei Townley wieder wie zur Zeit der Verurtheilung und müsse dann der Spruch vollzogen werden.

Die Freunde der Humanität und die Gegner der Todesstrafe werden aus beiden Fällen, aus dem Fall Townley sowohl, wie dem Fall Wright, bedeutendes Capital machen für Abschaffung dieser Strafe, allen aber liefern die merkwürdigen Processe den schlagendsten Beweis, daß die Handhabung der Gerechtigkeit sehr übel bestellt ist in einer Nation, die sich in ihrem Uebermuthe gern in jeder Beziehung für die Musternation der modernen Zeit hält.


  1. Der berühmte Criminalist Köstlin äußerte: die Aerzte geben sich nie mehr Mühe, das Leben eines Menschen zu retten, als wenn ihm die Justiz dieses Leben abgesprochen hat.