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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 36. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Weihnachts-Heiligerabend.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“

Manches Jahr ist schon dahin gegangen, als ein heiliger Weihnachtsabend mir sehr trübe, schwere Stunden brachte. Ich hatte sie in der Ausübung meines Amtes als Criminalrichter, die mir nie so schwer geworden ist, wie damals.

Ich erzähle Dir die Geschichte, lieber Leser, um Dir zu zeigen, wie leicht die Schwäche den Menschen zum Verbrecher machen kann. Um sie Dir zu erzählen, muß ich noch weiter in mein früheres Leben zurückgehen.

Ich war sehr jung zur Universität gekommen, darauf auch sehr jung Oberlandesgerichtsauscultator geworden, und stolz oder eitel darauf, Referendarius titulirt zu werden und der College von meist schon gereiften Männern zu sein, von denen ein großer Theil sogar als Offiziere die Freiheitskriege mitgemacht hatte. Ich war fast ein Kind unter ihnen.

Gerade diese meine große Jugend brachte mir eine eigenthümliche Stellung in der Gesellschaft ein. Das Oberlandesgericht, bei welchem ich „Referendarius“ war, hatte seinen Sitz in einer kleinen Provinzialstadt. In der Stadt befanden sich außerdem nur untergeordnete Localbehörden. Sie besaß keinen Handel und keine Garnison. Das Oberlandesgericht war deshalb darin Ein und Alles für das gesellige Leben. Es gab den Ton an. Von den Beamten des Oberlandesgerichts thaten dies aber nicht die Präsidenten, ein paar alte, nur dem Wissen und dessen Musen, Qualen und Verdrießlichkeiten ergebene Herren; auch nicht die Räthe, fast sämmtlich vertrocknete und versauerte Actenmänner; wohl aber die jungen, lebenslustigen Referendarien, und mit ihnen im Bunde die Damenwelt des Städtchens, mochte sie aus den Damen der Beamtenfamilien oder auch der anderen wenigen Honoratioren des Ortes bestehen. Zu den Referendarien hielten sich zwei junge Assessoren des Oberlandesgerichts.

In der späteren Zeit gab es in diesem Lande kein traurigeres Loos als das der Referendarien, und meist auch noch das der Assessoren der Oberlandesgerichte. Es hat sich auch bis jetzt nur wenig gebessert. In dem bureaukratischen Staate entwickelt sich ein unverhältnißmäßig großer Andrang zu der Beamtencarriere. Jeder junge Mann mit und ohne Talent will ein Ring in dieser großen Kette der Staatsherrschaft werden. So findet man bei einem einzigen Oberlandesgerichte oft hundert, anderthalbhundert bis zweihundert Referendarien, und zwanzig, dreißig bisweilen fünfzig Assessoren, von denen Allen kein einziger auch nur einen Groschen Gehalt bekommt, die demnach Alle auf eine Anstellung mit Gehalt warten, und die, eben um der großen Ueberfüllung willen, zehn bis fünfzehn, bis zwanzig Jahre warten müssen, bevor sie angestellt werden. Sie werden darüber arm und alt und verdrießlich. So war es zu jener Zeit doch nicht. In dem ganzen Staate gab es damals vielleicht keine zweihundert Referendarien und keine fünfzig Assessoren. Und die Assessoren hatten Gehalt, sobald sie ernannt wurden, und die ordentlichen Referendarien wurden mit ausreichenden Diäten als richterliche Hülfsarbeiter verwendet, sobald sie vom Justizminister bestätigt worden waren.

Unter solchen Umständen waren damals die jungen Referendarien und Assessoren begreiflich doppelte Lieblinge der heirathslustigen jungen Damenwelt, und es gab der Liebschaften bei den Oberlandesgerichten eine Menge.

Ich war ein Kind, und zwar ein nicht schwärmerisches Kind. Ich hatte keine Lust zu der Liebe, denn auch zur Liebe muß man, wie zu allen Dingen Lust haben. Dagegen wurde ich der Vertraute mancher der Liebesleute jener kleinen Provinzialstadt. Vertrauter bedarf die Liebe immer. Der reizendste Zauber der Liebe ist das Geheimniß; das größte Glück der Liebe ist ein kleines Unglück dabei. Ist es nicht von selbst da, so macht man sich eins. Hat man das Unglück, so ist auch das Geheimniß von selbst bedingt. Solcher kleinen Unglücke gab es auch dort: Unterschied der Religion; adeliger und nicht adeliger Stand; ein frivoles, irreligiöses Wort des jungen Mannes, unvorsichtig in Gegenwart der frommen Mutter oder Geliebten ausgestoßen; lautes Schreien auf der Straße in der Nacht, wodurch der Schlaf des verdrießlichen Vaters gestört ward. Am häufigsten gab es gegenseitige Eifersüchteleien. Gerade diese forderten am meisten einen Vertrauten auf beiden Seiten, besonders auf Seiten der Damen.

Der alte, würdige erste Präsident des Oberlandesgerichts hatte eine einzige Tochter; Therese war ihr Name. Sie hieß die schöne Therese; sie hieß aber auch die stolze Präsidententochter. Man hatte Recht zu beiden Benennungen. Sie war neunzehn Jahre alt, groß, von einer blendenden Schönheit. Sie war zurückgezogen, still, äußerlich kalt; keiner der Referendarien wagte ihr zu nahen. Auch der unverheirathete Assessor nicht. Sie hatte auch keine andere Liebschaft.

Dennoch wurde ich der Vertraute auch ihrer Liebe.

Der zweite bei dem Oberlandesgerichte, und zwar mit Gehalt angestellte Assessor war vor etwa drei Monaten herversetzt worden. Er war direct von der Hauptstadt nach dem kleinen, in einem sehr entfernten Winkel der Monarchie gelegenen Orte gekommen. Er hieß von Grauburg und gehörte einer armen Offiziersadelsfamilie an. Er war ein talentvoller Mensch, der schon als Knabe sich ausgezeichnet hatte, weshalb ihn die Seinigen nicht dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 477. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_477.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)