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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

ja eine richtige Furie.“ Fräulein Dora sah sie vorwurfsvoll an, Frau Martin kehrte wieder in die Schranken des unterwürfigen Respektes zurück. „Also solche Leute werden bestraft?“ fragte sie abweichend. „Ich dächte, es könnte am Ende jeder sich so viel schneiden, wie er will und – Ernst ist es der Gnädigen nicht gewesen, Fräulein, wahrhaftig nicht.“

Theodore blickte verwundert zu ihr auf. „Sie meinen?“ stammelte sie abgebrochen, weil sie um Alles in der Welt nicht den Namen Richard’s nennen konnte.

„Ich meine, das Messerchen ist schärfer gewesen, wie die gnädige Frau Poldine gedacht hat.“

„Sie meinen also, Frau Poldine hätte sich selbst den Schnitt beigebracht,“ erwiederte Theodore gefaßter und schüttelte dann trübe den Kopf.

„Ei, wer denn sonst, Fräulein, wer denn sonst?“ fragte Frau Martin lebhaft. „Die Annliese hat ja gesehen, wie sie das Messerchen von der Erde aufgenommen, wie sie es rasch aufgeklappt hat und ritsch damit an den Hals gefahren ist; darauf hat sie ein Gekreisch erhoben, als wenn sie am Spieße stäke.“

Theodore hatte mit weit aufgerissenen Augen zugehört.

„Die Annliese hat das gesehen? Wo? Wie hat sie das sehen können?“ fragte sie mit stockendem Athem.

Jetzt überlief die alte Köchin eine helle Röthe der Verlegenheit. „Nun,“ stotterte sie, „hab’ ich einmal so viel verrathen; Fräulein, werden Sie nicht böse. Ich schickte die Annliese auf den Taubenthurm, um zu sehen und zu hören was wieder los sei.“

„Und von dort kann man Frau Poldinens Zimmer übersehen?“

„Bis in die kleinsten Winkel,“ gestand die Alte, beschämt niederblickend.

Theodore, gut geschult in den Regeln der vornehmen Zurückhaltung, stand in vollkommener Ruhe und Fassung vor der Köchin, obwohl ihr Blut vor freudiger Wallung alle Adern zu durchsprengen drohete. Es wäre für alle Fälle thöricht gewesen, einen still gehegten Verdacht in Rücksicht auf Richard auszusprechen, jetzt aber lag ihr die Verpflichtung ob, sogar zu verhehlen, daß jemals ein Verdacht der Art aufgetaucht war. Sie reichte herablassend der Köchin die Hand.

„Der Himmel wird geben, daß die unglückliche Frau nicht stirbt. Es ist mir ein Trost, daß sie mehr aus Uebereilung, als aus Lebensüberdruß gehandelt hat; sorgen Sie nur dafür, daß Annliese nicht allzuviel von der Geschichte plaudert.“

Frau Martin nickte zufriedengestellt und entfernte sich mit dem Bewußtsein, das Fräulein durch ihre Theilnahme getröstet zu haben.

Was that nun aber Theodore? Weinte und klagte sie?

Nein, sie handelte! Energisch schritt sie sogleich zur Ausführung des Vorsatzes, der in ihr Wurzel gefaßt hatte bei der Erzählung der Köchin. Sie ging hinauf in das Krankenzimmer. Frau Poldine lag mit offenen Augen in den Kissen und sah sich die Welt an, der sie von Neuem geschenkt war. Die jähe Veränderung ihrer Züge verrieth, daß sie den Eintritt Theodorens nicht erwartet hatte und daß er ihr unerwünscht war. Theodore aber, von andern Gefühlen und Ansichten beseelt als am Morgen, nahm davon nicht die geringste Notiz, sondern fragte ganz gleichmüthig: „Wie befinden Sie sich?“

„Schlecht!“ antwortete die Dame mit leiser gezogener Stimme.

„Das glaube ich wohl,“ meinte Theodore lakonisch. „Aber, Sie hätten auch bedenken sollen, daß ein Schnitt in den Hals gefährlicher ist, als in den Finger.“

„Ich – bedenken sollen?“ wiederholte Frau Poldine noch leiser, warf aber einen prüfenden Blick in Dora’s jetzt merkwürdig ruhig frohes Gesicht.

„Bei dieser Affaire muß man mich doch wohl als passiv betrachten,“ setzte sie hinzu.

„Passiv? Sie verwechseln die Begriffe, Frau Poldine,“ erklärte Dora ganz in dem trockenen, zurechtweisenden Tone, welchen sie bei Gelegenheit annehmen konnte, wenn es galt; „activer kann der Mensch doch gewiß nicht sein, als wenn er ein Messer, das herabgefallen ist, aufhebt und sich die Gurgel damit zu durchschneiden versucht.“

Sie hielt bei diesen Worten die Blicke so fest auf die der Gnädigen geheftet, daß diese ihr nicht ausweichen konnte. Dora selbst fühlte das Risiko, einer Kranken gegenüber solche Härte anzuwenden, allein es mußte ihr Alles daran liegen, jetzt gleich von vorn herein eine Aufklärung über dunkel gebliebenen Scenen des Vorfalles vom vorigen Tage herbeizuführen, ehe die Schritte des Gerichtes auf Richard’s Entschließungen Einfluß gewannen.

Sie hatte auch richtig die Maus in der Falle. Frau Poldine schob trotzig wie ein Kind den Kopf herum und sagte ärgerlich: „Sie haben also doch wieder gelauscht! Pfui, über diese Neugierde.“

„Nein, nicht ich habe gelauscht, nicht ich war Zeugin des Unglückes, als dessen Urheber Sie vorhin den armen Richard nannten –“

„Er ist auch Schuld an meinem Unglücke,“ jammerte die Dame recht kindisch, „er ist Schuld! Hat er mich nicht von sich geschleudert, wie man ein Ungeziefer von sich wirft? Wäre er noch im Zimmer gewesen als ich sein Messer an der Erde fand, ich hätte es ihm in’s schwarze Herz gestoßen!“

„Seien Sie froh, daß das nicht geschehen ist,“ sagte Theodore ruhig. „Jetzt schlafen Sie, der Doktor wird bald wieder kommen.“

Sie verließ etwas beeilt dan Zimmer, um sogleich an den Criminalrath zu schreiben. Ehe eine halbe Stunde verflossen war, trottete der Hausbursche mit der wichtigen Depesche der Stadt zu, wo er gerade einpassirte, als der Doktor zum Thore hinausfuhr, um nach seiner Patientin zu sehen.

Theodorens Bote fand den Rath nicht zu Haus. Er gab deshalb den Brief blos ab und empfahl ihn seinen Hausgenossen einer ganz besonderen Beachtung. Allein, wie dies oft zu gehen pflegt, man vergaß über andere Erlebnisse diesen Auftrag, legte den Brief sorglos zu andern Packeten und Briefen, und somit wußte der Rath noch nicht eine Silbe von der freudigen Aufklärung, als spät am Nachmittage der Doktor mit einem unmäßigen Gelächter in sein Zimmer trat und ihm zurief: „Was sagen Sie denn nun, mein Hochwohlgeborner? Ha ha ha, das ist magnifique! Meine Erstochene ist auf und davon und ihr Mörder ist ein ehrlicher Edelmann! Nein, so dupirt bin ich doch mein Lebtage noch nicht –!“

Der Criminalrath blickte etwas ärgerlich von seiner Arbeit auf. „Sie scheinen es darauf anzulegen, mich zu stören; was gibt’s denn wieder?“

„Haben Sie denn Fräulein Theodorens Brief noch nicht erhalten?“

„Nein,“ entgegnete der Beamte aufmerksamer.

„Ei das wäre! Er muß hier sein: da, da sehen Sie, das muß er sein!“ Ganz ungenirt schüttelte der Doktor eine Parthie Briefe untereinander und nahm ein zierliches Briefchen heraus, „Ad acta mit dem Mordversuch, Großinquisitor, ad acta!“ sprach er dabei. „Lesen Sie, dann kommt der Schluß von meinen Lippen.“

Der Rath las; erst bedenklich, dann freudig. „Sehr gut! Die Neugierde der alten Weiber hat doch schon manchmal Gutes gestiftet,“ sagte er lächelnd. „Frau Poldine gewinnt aber bei dieser Geschichte nicht in meinen Augen.“

Der Doktor lachte wieder überlaut. „Wissen Sie, wo Frau Poldine jetzt ist?“ fragte er. Der Rath verneinte es. „Auf dem Wege nach der Residenz!“

„Wie? Und das gaben Sie zu?“

„Wer kann wider Eigenwillen kämpfen.“

„Aber Sie haben Verantwortung. Das Leben der Dame ist durch diesen Eigenwillen gefährdet.“

„Nicht schlimm!“

„Sie ist kaum dem Tode entronnen.“

„Freilich!“ Der Doktor rieb sich frohlockend die Hände. „Hören Sie, Criminalrath, wir wollen es Niemand verrathen, aber dumm sind wir alle Beide und Sie diesmal noch einen Grad dümmer als ich, denn ich merkte die Geschichte heute früh schon und ärgerte mich schwer, daß ich mich hatte dupiren lassen. Gestern die Ohnmacht – Verstellung. Heute die Bewußtlosigkeit – Verstellung. Das bischen Bluten hat der Dame nicht so viel geschadet (er knipste mit den Fingern), sie ist frisch, wie ein Fisch, hungrig, wie ein Wolf, lebendig, wie ein Aal, aber ärgerlich und bissig wie eine Meerkatze. Denken Sie, als ich, blos um mich meines Verdachtes zu vergewissern, vor einer Stunde hinauskam, finde ich meine todkranke Patientin im reizendsten Kostüm vor einem Tische, der mit Suppe, Braten, Kompot und allerlei Leckereien besäet ist und sie selbst in voller Activität,

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