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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

ganze Industrie, unser Ackerbau ohne die indirecte Beihülfe der Naturwissenschaften noch auf der untersten Stufe ständen, daß sie gar nicht im Stande wären, die jetzige Bevölkerung der Staaten zu ernähren, bleibt ihnen immer unfaßbar. Noch weniger ist ihnen der Nutzen der Kunst begreiflich. Daß der Mensch sich vorn Thiere auch dadurch unterscheidet, daß er auch andere als körperliche Bedürfnisse hat, daß er andere als sinnliche Freude erstrebt, und daß eben die Befriedigung der geistigen Bedürfnisse und das Gehobensein durch geistige Freuden den Menschen zum wahrhaft sittlichen Wesen macht, wird leider noch von viel zu Wenigen eingesehen. Wer also keinen Begriff von dem Werthe der Kunst hat, wird ganz richtig den Künstler für einen unnützen Menschen halten. Will man sich keiner Täuschung hingeben, so muß man zugestehen, daß so noch jetzt von einer großen, großen Zahl von Leuten geurtheilt wird.

In dieser Nichtachtung stehen sich übrigens nicht alle Künste gleich. Etwas höher geschätzt werden die plastischen Künste. Der Baumeister schafft allerdings Werke, die neben der Schönheit handgreiflichen Nutzen haben, der Bildhauer und Maler schafft Werke, mit denen man seine Häuser schmücken, seiner Eitelkeit Befriedigung gewähren kann, und die – zuweilen – theuer bezahlt werden – vor dem Erwerb aber hat der Philister ungemeine Achtung. Allein die andern Künste? Das Thema über die schlechte Stellung eines Dichters ist so unendlich oft besprochen worden – es mag hier unerörtert bleiben. Etwas besser steht ein Theil der Musiker. Doch nur ein Theil. Während die Orchestermusiker schlechter als die Hausknechte bezahlt werden und ihr Leben lang mit den Sorgen des Lebens kämpfen müssen, werden Componisten und Virtuosen von der sogenannten guten Gesellschaft gehätschelt, und man reißt sich um sie. Ob das wahre Kunstliebe ist, oder ob man diese Musiker liebt, weil ihre Talente sich leicht zum geselligen Vergnügen ausbeuten lassen, soll nicht weiter untersucht werden.

Am schlechtesten in der Meinung des Volks stehen aber immer noch die Schauspieler. Sonderbar! Das Theater ist für jede größere Stadt zum Bedürfniß geworden, über nichts wird so viel gesprochen, wie über das Theater, über nichts wird so viel geschrieben, – und doch ist das Vorurtheil gegen das Theater das stärkste von allen. Es ist freilich uralt, es stammt noch von den Römern her (die übrigens in Bezug auf andere Künste, die sie von griechischen Sclaven treiben ließen, nicht besser dachten), und es wird von Seiten der frommen Richtungen fort und fort genährt, die das Theater für ein Werk des Teufels halten, weil sie im Bewußtsein ihrer eigenen Sündhaftigkeit fortwährend von der Furcht vor dem Teufel geplagt werden. Man sollte nun meinen, bei der allgemeinen Theilnahme, die das Theater einflößt, müßte dieses Vorurtheil schwinden. Allein das ist nicht der Fall. Der Nutzen der Schauspielkunst, des Theaters wird nicht anerkannt. Man betrachtet es wie ein Vergnügen jeder andern Art, wie einen Ball, ein Vogelschießen. Seitens des Gesetzes steht es mit diesen Dingen auf gleicher Stufe, vielleicht noch tiefer, denn die Vertragsverhältnisse der Schauspieler werden gesetzlich nach den Normen der Dienstboten beurtheilt, seitens vieler Behörden werden die Verhältnisse des Theaters nach denselben Grundsätzen behandelt, wie die der Seiltänzer, Bärenführer, Kunstreiter, Affenkomödien u. s. w. Es ist eine alte Klage der wohlmeinendsten und tüchtigsten Männer, daß dem Theater von Seiten des Staats keine bessere Beachtung geschenkt wird. Man macht dabei immer den sittlichen Einfluß geltend, den das Theater auf das Volk ausübe. Vielleicht schlägt man dabei den directen sittlichen Einfluß zu hoch an, der indirecte aber ist jedenfalls ein sehr großer. Wenn man sich die Thatsache nicht verhehlt, daß in den letzten Jahrzehnten, wo fast jährlich neue Schauspielhäuser gebaut werden, das Theater zu einem Bedürfniß für die bloße Belustigung geworden ist (wenigstens steht es für die Mehrzahl des Publicums nicht höher), so muß man auch anerkennen, daß das Theater das schönste und reinste Vergnügen gewährt, und daß die Tausende, die jeden Abend das Schauspiel besuchen, ohne dasselbe zu Zerstreuungen ihre Zuflucht nehmen würden, die nachtheilig wirken müßten. Doch mag der sittliche Einfluß des Theaters, der schon so vielfach besprochen worden ist, dahin gestellt bleiben; es giebt noch einen andern Nutzen, den das Theater bringt, einen andern Werth, den die Schauspielkunst hat, der bisher noch wenig oder gar nicht gewürdigt worden und der von der höchsten Bedeutung ist.

Das ist der Einfluß auf die Sprache. Es sind zwei Punkte, welche in dieser Beziehung berücksichtigt werden müssen.

Nur die gesprochene Sprache ist die wirkliche Sprache, die geschriebene oder gedruckte ist nur ein Abbild derselben. Seit der ungemeinen Entwickelung des Buchdruckes, seit der, wenigstens in Deutschland, fast allgemein verbreiteten Kenntniß des Lesens und Schreibens, ist uns dieser Umstand fast aus dem Bewußtsein geschwunden. Der größte Theil alles staatlichen, gerichtlichen, gewerblichen Verkehrs wird jetzt schriftlich abgemacht, wir lernen und bilden uns mehr durch Lesen, als durch das lebendige Wort des Lehrers. So großen Vortheil auf der einen Seite die Buchdruckerkunst gebracht, so ist es doch eine Schattenseite derselben, daß sie die gesprochene Sprache, das lebendige Wort in vielen Fällen überflüssig gemacht hat. Ja, die allgemeine Fertigkeit des Lesens und Schreibens hat die lebendige Rede oft da verdrängt, wo sie unersetzlich ist, z. B. in gerichtlichen Verhandlungen. Das lebendige Wort aber, namentlich die öffentliche Rede, hat eine Bedeutung, eine Wirkung, eine Macht, die man nicht genug würdigen kann. In den letzten Jahren, wo das Volk zur lebhafteren Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten gelangt ist, hat sich die Macht der öffentlichen Rede auf das Glänzendste bewiesen. Diese Beziehung mag hier nicht weiter entwickelt, allein darauf muß aufmerksam gemacht werden, daß die Werke der Dichter eigentlich nicht zum Lesen, sondern zum Vortrag gemacht sind, daß sie wenigstens erst durch diesen ihre volle Wirkung erhalten. Ein gesprochenes Gedicht, ein vorgetragenes Drama hat eine hundertfach stärkere Wirkung, als ein gelesenes. Große Dichter gab es lange vor der Zeit, wo man allgemein lesen konnte, lange vor Erfindung der Buchdruckerkunst. Alle diese Dichter übten die große Wirkung auf das Volk durch ihre Werke, indem sie dieselben öffentlich vortrugen. Man erinnere sich an die griechischen Rhapsoden, an die Barden, die Troubadours, die Minnesänger. Während unsere Dichter den Namen Sänger nur bildlich führen, waren die Dichter der Vorzeit wirklich Sänger, indem sie ihre Werke selbst vortrugen. Die Zeit hat die Sitten und Lebensweise der Völker wesentlich geändert, der Dichter kann heute nicht zugleich Sänger in obigem Sinne sein. Die einzige Möglichkeit in unserer Zeit, die Werke der Dichter dem Volke durch das lebendige Wort zu vermitteln, ist das Theater. Während früher Sänger und Dichter eine Person war, hat sich das geändert, der Dichter bedarf des Vortragenden, um seine Worte durch das lebendige Wort in das Volk bringen zu können. Dadurch hat sich die Schauspielkunst, abgesehen von ihrer eigenen Bedeutung, als Vermittlerin zwischen dem Volke und dem Dichter herausgebildet. Wenn nun das Theater die einzige nennenswerte Gelegenheit giebt, wo man des Dichters Werke nicht blos lesen, sondern auch hören kann, so ist das Theater wiederum die einzige Anstalt, wo die öffentliche Rede als Kunst gepflegt wird, ja sie ist die einzige Schule des öffentlichen Vortrags, der lebendigen Sprache. Denn die Leistungen unserer staatlichen und gerichtlichen Oeffentlichkeit, so anerkennenswerth sie auch sein mögen, sind doch nur noch Anfänge, und der öffentliche Vortrag auf der Kanzel ist in den überwiegend meisten Fällen mehr ein Beispiel des schlechten Vortrags, als eines nachahmenswerthen. So wenig sich nun auch behaupten läßt, daß unser Theater auf der höchsten Stufe der Ausbildung stehe, so wenig die Mehrzahl der Schauspieler als Meister in der Kunst des Sprechens gelten können, so sind sie doch bis jetzt noch die einzigen, welche diese Kunst überhaupt ausüben. Muß man aber zugeben, daß die Dichtung erst durch den Vortrag zur vollen Geltung kommt, so kann man auch nicht leugnen, daß die Kunst des Vortrags von der höchsten Bedeutung für uns ist – und daß demnach schon in dieser Beziehung das Theater eine ganz andere Beachtung seitens des Staats und des Volks in Anspruch nehmen kann, als ihm bisher gewährt worden ist.

Allein nicht blos für die Geltendmachung der Dichtung hat das Theater großen Werth, sondern für die Sprache selbst.

Die Sprache ist die edelste Blüthe des Volksgeistes. Nichts charakterisirt die Verschiedenheit der Völker so stark, nichts bringt die Vorzüge und Mangel der Völker so zur klaren Anschauung, als die Sprache.

Eine Sprache ist nie ein fertiges Ganzes. Sie entwickelt sich fortwährend im Laufe der Zeiten, wird immer eine andere. In jeder Sprache machen sich bei der Entwickelung zwei Elemente geltend: das logische, welches immer mehr nach Richtigkeit und klarem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_342.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)