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Seite:Die Gartenlaube (1862) 664.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

sein, wenn ihnen nicht die Großartigkeit des englischen Lebens zum hohen Piedestale (Untergrunde) diente. Wenn ein untergeordneter Eisenbahnbeamter, wie der vor einigen Jahren verurtheilte Redpath, ein Commis in einem Bankgeschäft, wie der berüchtigte, auf seiner Ueberfahrt nach Australien verstorbene Pullinger, ein Secretair einer Actiengesellschaft, wie der zur Zeit wegen seiner Frömmigkeit gepriesene Robson, Hunderttausende von Pfunden und Millionen von Thalern durch die einfache Fabrication einiger Nullen unterschlagen können, so beweist dies nicht nur die Großartigkeit des englischen Geschäfts, welche so kolossale Diebstähle ermöglicht, sondern auch das unbedingte Vertrauen, welches in der englischen Geschäftswelt herrscht und den systematischen Betrieb solcher Betrügereien erleichtert. Im Ganzen und Großen betrachtet, ist der Geist, welcher die englische Geschäftswelt belebt, ein solider. Die Unsittlichkeit der neumodischen Börsenspeculation, die im kaiserlichen Frankreich ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat, findet hier keinen Boden: ein Herr von Morny, der durch Börsenspeculationen der reichste Mann Frankreichs wird und an der Spitze der Staatsgeschäfte steht, ein Credit-Mobilier mit seinem zweifelhaften Betriebscapital und seiner unzweifelhaften Staatsprotection sind hier nicht möglich.

England besitzt die geschicktesten und verwegensten Diebe, die gewissenlosesten Fälscher, die erfolgreichsten Betrüger. Das Verbrechen ist hier großartig, wie das ganze englische Leben; aber man weiß immer ganz genau, wo die Ehrlichkeit aufhört und die Unehrlichkeit beginnt. Ein entdeckter Verbrecher ist Verbrecher ohne alle Präambeln und Vertuschungen. Unternehmungsgeist, Thatkraft und Consequenz, Kühnheit und Rohheit, – kurz, alle die Eigenschaften, durch welche die englische Nation groß geworden ist, drücken dem hiesigen Verbrecher den nationalen Stempel auf. Vielleicht gerade deshalb bilden die Polizei- und Criminalberichte der hiesigen Zeitungen die Lieblingslectüre der großen Masse der Bevölkerung. Der große Verbrecher wird gewissermaßen als ein Nationaleigenthum betrachtet und in allen seinen Lebensschicksalen, Handlungen, Bewegungen und Worten mit der zärtlichsten Aufmerksamkeit verfolgt. Der Held einer cause celèbre hat keineswegs seine Rolle mit seiner Verurtheilung ausgespielt. Das öffentliche Interesse folgt ihm auf den Galgen, in’s Gefängniß, nach Australien und registrirt gewissenhaft Alles, was er sagt und thut. Er ist ein berühmter Mann und lebt im Bewußtsein seiner Nation fort, wie die großen Dichter, Staatsmänner und Helden. Daher kommt es, daß dieselben berüchtigten Namen immer wieder und wieder in der englischen Presse auftauchen und der Held eines populären Processes, eines aufregenden Scandals unsterblich wird.

Der sogenannte Windham-Fall versetzte im vergangenen Jahre ganz Großbritannien in Aufregung und warf so grelle Streiflichter auf die gesellschaftlichen Zustände der oberen Classen, daß das Publicum wie geblendet vor der enthüllten Unsittlichkeit der privilegirten Gesellschaft stand. Auch den Lesern der „Gartenlaube“ werden wohl die Hauptzüge dieses scandalösen Processes noch erinnerlich sein. Der junge Windham war der Abkömmling und Erbe einer reichen Familie des englischen Landadels (Squire), aus der sich die wirkliche Aristokratie vielfach rekrutirt hatte und die mit dieser in mehreren lebendigen Exemplaren verschwägert war. Sein Vermögen würde sich im Laufe der Zeit auf etwa 15,000 Pfd. St. jährlicher Revenuen belaufen haben und war auch schon für den Augenblick bedeutend genug, um die mehr einflußreichen als wohlhabenden Verwandten zu einem energischen Versuch, sich desselben zu bemächtigen, anzuspornen. Dieser Versuch schien um so mehr gerechtfertigt, da Herr Windham auf dem besten Wege war, sein Vermögen durchzubringen, und zwar in einer Weise, die gewöhnlich genug unter den goldenen Jünglingen des heutigen Englands ist, gegen die sich jedoch im vorliegenden Falle das sittliche Gefühl zweier zärtlicher Oheime empörte. Sie steckten sich ein doppeltes Ziel vor, die irdischen Güter der Familie Windham für sich und die Seele mit obligater Anwartschaft auf die himmlischen Güter für ihren entarteten Neffen zu retten. Der nächste und natürlichste Weg zu diesem Ziele schien den beiden zärtlichen Oheimen, einem General der britischen Armee und einem Earl (Graf) der britischen Aristokratie, nach der Seite einer Irrenhaus-Commission hin zu liegen. Daher wurde eine Petition eingereicht und verlangt, daß William Windham wahnsinnig befunden, besitzunfähig erklärt und hinter Schloß und Riegel gesetzt werde. Dies ist gewöhnlich hier ein sehr kurzer und einfacher Proceß, und das Mittel schlägt fast nie fehl, wenn es von einflußreichen Personen in Anwendung gebracht und gegen einen armen Teufel gerichtet wird, der sich durch Enthüllungen unbequem machen, mißliebige Ansprüche erheben könnte, oder aus irgend einem anderen Grunde aus dem Wege geschafft werden muß.

Da der Spleen eine Nationaleigenschaft ist, von der jeder Engländer mehr oder weniger abbekommen hat, und überhaupt das ganze englische Leben von einer so überkünstelten Civilisation beherrscht und outrirt wird, daß es in der That schwer zu sagen ist, wo der Sinn aufhört und der Wahnsinn beginnt, – so gehört, wie gesagt, nicht viel dazu, die Jury einer Irrenhaus-Commission von dem Irrsinne eines beliebigen Individuums zu überzeugen, immer vorausgesetzt, daß die Petitionirenden „respectable“, d. h. reich und mächtig genug sind, um ihrer Petition Nachdruck zu geben. Sir Lytton Bulwer ließ seine Frau in eine Irrenanstalt einsperren, weil sie ihn mit geistreichen Romanen verfolgte, also mehr Geist und Verstand zeigte, als ihrem Herrn und Gemahl lieb war, und Lady Bulwer konnte nur durch die Intervention des entrüsteten Publicums aus ihrer Haft befreit werden und auch dann nur, nachdem sie ihrem Gatten, dem damaligen Minister der Colonien, gelobt hatte, auf Reisen zu gehen und sich in Zukunft des Romanschreibens zu enthalten. Dem armen Dr. Bernard wurde Verstand und Freiheit abgesprochen, weil man von gewissen Seiten her glaubte, daß diese sanitärische Maßregel den Kaiser der Franzosen bewegen könnte, zur Ausstellung herüber zu kommen und so dem verfehlten Unternehmen zur profitablen Reclame zu dienen. Solche Dinge kommen hier alle Tage vor; und wenn wir auch gerade nicht mit dem verstorbenen O’Connell behaupten wollen, daß in den englischen Irrenheilanstalten mehr Menschen ihren Verstand verlieren, als wiederfinden, so begreifen wir doch, daß eine Irrenhaus-Commission den beiden Oheimen als das einfachste und wirksamste Mittel erschien, um sich ihrer verwandtschaftlichen Pflichten gegen ihren Neffen und dessen verwahrloste und im höchsten Grade wünschenswerthe 15,000 Pfd. St. jährlicher Revenuen zu entledigen.

Auf alle Fälle war es der billigste Weg, denn das englische Gesetz hat zur Erleichterung solcher Proceduren vorsorglich verordnet, daß die unter Umständen zu einer enormen Höhe anwachsenden Kosten aus der Vermögensmasse des Angeklagten bestritten werden, gleichviel, ob die Untersuchungs-Commission ihm den Verstand abspricht oder nicht. So weit also war ihre Berechnung richtig; nur in einem Punkte täuschten sie sich. Im Uebermaß ihrer zärtlichen Besorgniß um den Geisteszustand ihres geliebten Neffen hatten sie nämlich übersehen, daß es für einen General und Grafen zwar ein Kinderspiel ist, einem armen Teufel seinen Verstand absprechen zu lassen, daß es jedoch sehr schwer ist, einen Menschen verrückt zu machen, wenn dieser 15,000 Pfd. Sterl. jährlicher Einkünfte und somit Widerstandskraft genug besitzt, um sich seiner Haut zu wehren und dem mächtigen Angriff eine mächtige Vertheidigung entgegen zu setzen. So kam es denn zu jenem Riesenkampfe um das bischen Verstand des jungen Windham, der selbst in der Geschichte der englischen Schwurgerichtspflege ohne Beispiel dasteht. Mehr als zweihundert Zeugen wurden von beiden Seiten unter der Leitung der berühmtesten Advocaten in’s Feuer geführt, nachdem sie aus allen Ständen, aus dem ganzen britischen Reiche, aus Amerika und Indien, aus Rußland und Italien zusammengetrommelt waren. Der Schmutz, in dem beide Parteien bis an die Kniee wateten, vermochte ihre Kampflust nicht abzukühlen; einunddreißig Sitzungen, die sich über sechs Wochen erstreckten, waren nöthig, ehe die Scandalsucht des heißhungrigen Publicums gesättigt werden konnte, der allgemeine Ekel über den aus den Tiefen der vornehmen Gesellschaft aufgewühlten Schmutz intervenirte und die öffentliche Meinung mit einstimmiger Entrüstung erklärte: So weit und nicht weiter!

Das Publicum war ernstlich alarmirt. Wenn der Umstand, daß der fünfjährige Windham seine ersten weißen Höschen beschmutzt, oder die Thatsache, daß der zwölfjährige Knabe einen ganzen Rosinenpudding aufgegessen hatte, als Beweise von Verrücktheit gelten konnten; wenn es hinreichend war, roh, lüderlich, schmutzig, unwissend, albern oder verschwenderisch zu sein, um für bürgerlich todt erklärt und in ein Irrenhaus gesperrt zu werden: so war Niemand mehr seines Eigenthums und seiner Freiheit sicher. Der erschrockene John Bull fühlte sich an den Kopf, um sich zu vergewissern, ob er ihn noch besitze, und zählte bis auf Tausend, um sich zu überzeugen, daß er mehr Ansprüche auf gesunde Vernunft machen könne, als W. Windham, der, nach Aussage eines Belastungszeugen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_664.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)