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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Frauen und Töchter im Hause verloren gehen; aber als Regel kann man annehmen, daß nicht sowohl die Consumtion der Seife, wie Pückler-Muskau sagte, als vielmehr der Verbrauch der Näh- und Stecknadeln (wie überhaupt der Metalle zu productiven, nicht militärischen, Werkzeugen) den Culturmesser oder, um ein neues Wort dafür zu riskiren, „Civilisationometer“ eines Volkes abgiebt. Leider schließen die Statistiker, wahrscheinlich aus Furcht vor den ungeheueren Zahlen, die sich mit den Nadeln selbst in’s Maßlose und Unendliche verlieren, den Nadelverbrauch von ihren Tabellen aus, so daß man bis jetzt kein Volk mit dieser meiner Culturelle messen kann.

Daß ein so unentbehrlicher und täglich gebrauchter Artikel, wie die Nähnadel, überall in civilisirten Ländern fabricirt wird, versteht sich von selbst. Die Haupterzeugungsorte sind aber England und Deutschland geworden und geblieben. Jede Frau weiß, daß die besten Nähnadeln aus Aachen oder aus Redditch in England kommen, nur daß die meisten noch sich beim Einkauf von dem Aberglauben bestimmen lassen, wirklich gute Nadeln könnten nur in einer englischen Etikette stecken. Dies ist einer von den vielen industriellen Irrthümern, durch welche sich Deutschland nicht nur selbst entwürdigt, sondern auch materiell um unendliche Summen Geldes selbst betrügt, insofern, nach Goethe, Niemand betrogen wird, sondern Jeder dies selbst besorgt, um mit diesen Opfern die Molochs der Unwissenheit oder des Vorurtheils zu mästen, Ungeheuer, die mehr kosten, als die Erziehung zweier Kinder in jeder Familie, wo sie eben herrschen.

Im Allgemeinen kann man nach dem Urtheil Sachverständiger annehmen, daß trotz der neueren Nadelfabriken in Frankreich, Oesterreich, Belgien, Rußland und in Deutschland zu Iserlohn, Altena, Schwabach, Nürnberg u. s. w. doch ziemlich neun Zehntel aller Nadeln aus den Fabriken Aachens und Englands bezogen werden. Der deutsche Irrthum liegt hier besonders in dem Wahne, daß englische Nadeln doch immer noch besser seien, als Aachener, während es längst eine ausgemachte Sache ist, daß Aachen gleich gute Nadeln zu viel niedrigeren Preisen liefert, als England, so daß es die Concurrenz des letzteren in fast allen Welttheilen viel weiter überwunden hat, als just im Vaterlande, wo einheimische Nadeln noch immer das Schicksal einheimischer Propheten haben.

Und wenn’s Nadeln allein wären! Das kostspielige Vorurtheil herrscht in Deutschland durch eine ganze Menge von Verbrauchs- und Luxusartikeln mit einer Macht und Hartnäckigkeit, daß einheimische Artikel entweder mit einer ausländischen, besonders englischen, Firma und Etikette versehen oder thatsächlich erst in’s Ausland geschickt werden, um sich, durch doppelte Fracht und Zoll und Veranschlagung des Vorurtheils doppelt vertheuert, als ausländische Waare importiren zu lassen. Letzteres geschieht seit längerer Zeit mit Aachener Nadeln, so daß man sie als englische mindestens doppelt so theuer bezahlt, wie dieselbe Nummer, dieselbe Qualität, genau die Zwillingsschwester, als Aachener. In England werden jetzt jährlich Hunderttausende von Groß Faber-Bleistifte (Groß = zwölf Dutzend) ohne irgend eine Signatur eingeführt, dort mit dem Zeichen einer englischen Firma gestempelt, und als englische in England für den drei- bis fünffachen Preis verkauft, weil man im national-eiteln England glaubt, englische Waare sei besser, als ausländische. Dieselben englisirten Faber-Bleistifte müssen aber auch dem deutschen Vorurtheil dienen und werden hier das Stück zu fünf Silbergroschen verkauft, während genau derselbe Bleistift als ehrlicher Faber überall für einen Silbergroschen zu haben ist.

Doch bleiben wir bei den Nadeln. Die Vorzüge der Aachener und anderen deutschen Nadeln beruhen auf ganz bestimmten Vervollkommnungen in der ziemlich umständlichen und verwickelten Fabrikation. So einfach die Nadel aussieht, muß sie doch durch eine Menge Processe und Fegfeuer hindurch, von denen wir kaum eine Vorstellung haben. Etwas davon wird uns bei Schilderung der neueren Vervollkommnungen klar werden. Die Nadeln sind ursprünglich Stückchen Draht (meist von Gußstahl). Dieser wird zuerst in schweren Ringen gewunden, dann gerade gerichtet und geschnitten. Letzteres geschah, wie jetzt noch in England, mit Richtkandeln, Richthaspeln und Handscheeren, also mit der Hand. Diese wird jetzt in Aachen (und in andern Fabriken Deutschlands) durch eine einfache, praktische Richt- und Schneidemaschine ersetzt und wohl fünffach übertroffen. Die Maschine arbeitet mehr als vier Handscheeren, zu denen vier Hände gehörten. Außerdem kann ein einziger Arbeiter gleichzeitig drei Schneide- und Richtmaschinen bedienen, die alle selbst arbeiten, und zwar mit mathematischer Genauigkeit, welche von der menschlichen Hand nicht erreicht wird.

Die geschnittenen Drahtstückchen (Schaften) werden im Feuer gerichtet, d. h. zu je Tausenden in je zwei Eisenringe gespannt, geglüht und unter schweren Gewichten so lange gerollt, bis sie durch gegenseitige Reibung und Pressung alle schnurgerade geworden sind.

Nun kommen die Schaften in die zweite deutsche Erfindung für diese Fabrikation, in die Schleifmaschine, die außer bedeutender Ersparung von Menschenarbeit noch den großen gesundheitlichen Vortheil hat, daß sie den furchtbaren Schleifstaub nur je einem Arbeiter in weit geringerer Gefahr etwas nahe bringt, wo früher vier Arbeiter mitten darin sitzen mussten. Ein einziger Mann beaufsichtigt jetzt drei bis vier Schleifmaschinen, die er also nicht immer dicht vor Augen und Nase zu haben braucht, während früher Menschenhände die Arbeit der Maschine verrichten mußten.

Aus dieser Maschine gehen aus beiden Seiten spitzgeschliffene Schaften hervor, jeder von doppelter Länge der künftigen Nadel. Diese Schaften werden nun in der Stampfmaschine geprägt. Dieselbe preßt ihnen Buchstaben, Firma, Zeichen, besonders aber die Furche oder Fohre ein, innerhalb welcher hernach das Auge oder Ohr (Oehr) eingestochen werden soll, und verdünnt zugleich den Punkt für diese Durchstechung, wodurch letztere Operation sehr erleichtert wird. Nun wird den blinden Nadeln vermittelst der Stechmaschine (von unten nach oben durchgetriebenen Stiften) der Staar gestochen. Sie haben damit Augen, aber noch uncultivirte, die noch einer sorgfältigen Feile und Abrundung bedürfen. Erst aber müssen die durch Prägen entstandenen Rauhheiten vermittelst der ebenfalls deutschen Erfindung der Feilmaschine beseitigt werden. Diese ist noch ziemlich neu und noch das Eigenthum weniger Fabriken. Sie thut mit mehreren hundert Nadeln auf einmal und rasch und leicht, was ohne sie Menschenhände langsam, zeitraubend und ungenauer besorgen. Die Maschine besteht wesentlich aus einer Zange und einem dampfgetriebenen Schleifsteine, über welchen die in die Zange gespannte große Menge Nadeln nur eben leicht hinstreicht, um sich von ihren Rauhheiten befreien zu lassen.

Bisher sind die so behandelten Schaften noch Doppelnadeln, an ihren stumpfen Seiten zusammenhängend, aber an der zu durchbrechenden Stelle beim Stampfen schon eingedünnt, so daß sie sich leicht mit der Hand jede in zwei gleiche Nadeln zerbrechen lassen. Die Rauhheiten des Bruches werden durch Handfeilen geglättet und gerundet. Jetzt gilt es, die noch weichen Stahlstückchen zu härten. Dies geschieht in einem Härtekasten über einem ruhigen Feuer, wo sie bis zu einem gewissen Grade geglüht und dann rasch in Oel oder Thran abgekühlt werden. Um sie nun auch elastisch zu machen (die wesentliche gute Eigenschaft), werden sie meist in Thran gesotten. Nach so vielen Fegfeuern der Stoffveredelung haben wir immer noch eine völlig unbrauchbare, rauhe, schmutzige Nadel, die noch einer gründlichen Wäsche und Politur bedarf. So wichtig und zeitraubend dies ist, muß sie doch diesen Läuterungsproceß nach dem Grundsatze: „eine Hand wäscht die andere“, wesentlich selbst collegialisch besorgen und zwar in sogenannten Scheuermaschinen. Man bindet zu diesem Zweck je mehrere hunderttausend Stück zusammen, schichtet sie zwischen kleinen Kieselsteinen, Schmirgel, Oel, Seife u. s. w. auf bankartigen Maschinen über und neben einander und rollt sie zwischen schweren Platten ununterbrochen in kurzen Bewegungen nach vor- und rückwärts. Dies dauert in der Regel mindestens acht Tage, indem man mit jedem Morgen die Bündel öffnet, die Nadelmassen in Seifenlauge von allem losgescheuerten Schmutz reinigt, sie wieder zu neuen Bündeln vereinigt und die Operationen mit immer feiner werdendem Putzmaterial wiederholt, bis sie glänzend und glatt aus dieser langen, gründlichen Wäsche hervorgehen. Die Nadeln sind dann endlich fertig. Gute und feine Sorten werden aber auch dann noch vielfach verfeinert und verbessert; namentlich wird auch der sogenannte Kopf auf einem zarten Schleifsteine abgeglättet, das Auge glatt ausgerundet und die ganze Politur auf ledernen, mit Polirstoff bestrichenen Spindeln vollendet, resp. gebläut. Noch bessere Sorten werden wohl auch um die Köpfe herum elektrisch vergoldet, oder durch leichtes Umglühen bronzirt, wobei die Grube unter dem Auge eine hübsche, tiefblaue Färbung annimmt.

Da nun aber jeder Handelsartikel, besonders für Damen, billiger Weise in ein lockendes Kaufgewand gekleidet werden muß,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_043.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)