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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Bockes liebten das Erhabene; sie erkletterten die höchsten Spitzen, verführten die sittsamen Hausziegen zu ähnlichen Streichen und verwandelten schließlich die Milch der frommen Denkungsart dieser Thiere und ihrer Herren oder Herrinnen in eitel gährend Drachengift. Von Neuem wurde die höhenbewohnende Menschheit klagbar, und eine neue Versetzung des Bockes war die Folge. Man wies ihm die Grimselalpe an; aber auch hier blieb er sich treu, und so wurde schließlich ein hochnothpeinliches Halsgericht über ihn verhängt und der freiheitsdurstige, urkräftige Gesell laut Richterspruch vom Leben zum Tod gebracht.




Erinnerungen an einen Jüngstgeschiedenen.

An einem Sommerabend des Jahres 1843 trat ich in eine jetzt nicht mehr vorhandene Restauration der innern Dresdner Straße zu Leipzig. Zu der Gaststube fand ich, außer dem Wirth, nur zwei junge Männer von ziemlich gleichem Alter. Machte der eine durch seine zierliche elegante Erscheinung, sowie durch seine gewählte Ausdrucksweise sofort den Eindruck des weltmännischen Gelehrten, so verrieth dagegen der andere durch sein über die Gebühr langes Haar, durch seine nichts weniger als salonmäßigen Gebehrden und Bewegungen, zugleich aber auch durch seine geistreich-originelle Sprache den genialen Sonderling.

Die beiden Herren unterhielten sich über Musik. Aus den Aeußerungen des Erstern ging hervor, daß er, obschon Musikfreund von feinem Geschmack, doch nicht eigentlicher Musikkenner war, während man dagegen an den Bemerkungen des Zweiten sofort hörte, daß man es in ihm nicht blos mit einem begeisterten Freunde der Musik, sondern auch mit einem gründlichen Kenner, ja vielleicht mit einem ausübenden Jünger dieser Kunst zu thun hatte. Nachdem sie so eine lange Weile miteinander disputirt, bemerkte der Eine, es sei doch eigentlich wohl schade, einen so schönen Abend in der Stube zu versitzen, und der Andere erklärte sich sofort bereit, noch einen Spaziergang um die Promenade herum oder, wie wir Leipziger sagen, „um’s Thor“ zu machen.

Beide empfahlen sich demgemäß freundlich grüßend, und mein Erstes war natürlich, mich bei dem Wirth nach den Namen dieser beiden interessanten Persönlichkeiten zu erkundigen, denn sein cordiales Benehmen gegen sich ließ mich vermuhen, daß sie zur Zahl seiner Stammgäste gehörten. Mit einem gewissen Stolz theilte der Wirth – in seiner Art ebenfalls ein Original – mir mit, der kleinere, elegantere der beiden Herren sei der Privatgelehrte Dr. W., der andere dagegen, der langhaarige Sonderling, der Dichter Otto Ludwig. Dr. W. war mir, wenn auch nicht persönlich, doch aus Bücheranzeigen bereits als schon damals geschätzter Orientalist bekannt, von einem Dichter Otto Ludwig aber hatte ich bis dahin eben so wenig gehört, wie die ganze übrige Welt, mit Ausnahme einiger Journal- und Theaterdirectionen.

Auch ich verließ die Restauration sehr bald und machte in gleicher Weise einen Gang „um’s Thor“. In der Nähe des sogen. Thomaspförtchens angelangt, wollte ich hier in die Stadt einbiegen, als ich, auf einmal die beiden Herren vor dem Bachdenkmale stehen sah, welches vor etwa einem Jahre au dieser Stelle errichtet worden. Beide schienen abermals in einem freundschaftlich-humoristischen Streit begriffen zu sein, welcher sich um die Vorzüge und Mängel des fraglichen Denkmals drehte. Otto Ludwig war trotz seiner Brille ungemein kurzsichtig und wohl überhaupt nicht der Mann, der ihm gleichgültige Personen sonderlich scharf in’s Auge faßte. Doctor W. dagegen erkannte mich, als ich näher kam, sofort wieder, drehte sich lachend nach mir herum und sagte: „Da sehen Sie, Ludwig, hier kommt der Herr, der uns heute Abend schon einmal zugehört hat. Soll ich ihn bitten, unser Schiedsrichter zu sein?“

„Ich bin’s schon zufrieden,“ entgegnete Ludwig in seinem thüringischen singenden Dialekt, indem er sich zugleich das Haar aus den Augen schüttelte.

Doctor W. trug mir nun die von ihm in sophistisch-satirischer Weise angeregte Streitfrage vor, Ludwig suchte mit einigen treffenden und zugleich grundehrlich-gutmüthigen Bemerkungen den von ihm eingenommenen Standpunkt zu rechtfertigen, und ich strebte mich dadurch aus der Affaire zu ziehen, daß ich eine ausweichende Antwort gab, welche gleichwohl beide Theile amusirte und zufrieden stellte. Doctor W. fragte mich hierauf, ob ich geneigt sei, mit ihm und seinem Freunde, den er, eben so wie sich selbst, mir in kurzen Worten vorstellte, noch ein Stündchen in einem nahegelegenen Kaffeegarten zu verplaudern.

Mit Freuden nahm ich den Vorschlag an und noch heute ist mir der mir dadurch gewordene interessante Abend unvergeßlich. Dies war der Anfang einer Bekanntschaft und spätern innigen Freundschaft, welche uns beinahe zwei Jahre lang tagtäglich zusammenführte und die nur durch äußere Ereignisse unterbrochen ward. Doctor W. habilitirte sich an der Universität zu Berlin und bekleidete später einen diplomatischen Posten in Syrien, von welchem er erst vor wenigen Jahren mit einer reichen Ausbeute an Schätzen der orientalischen Linguistik nach Preußen zurückgekehrt ist. Otto Ludwig fand die Ebene von Leipzig auf einmal unerträglich und geisttödtend und begab sich nach einem im Triebischthale bei Meißen romantisch gelegenen Dörfchen, wo er schon früher einmal einige Monate verlebt. Ich blieb in Leipzig.

Otto Ludwig war, wie er mir erzählte, eigentlich zum Kaufmann bestimmt gewesen, hatte sich aber, nachdem er einen trefflichen Schulunterricht genossen, durch Selbststudien immer weiter ausgebildet. Schon als Knabe ein bedeutender phantasiereicher Pianist, hatte er sich später vorgenommen, Componist zu werden, und nach sorgfältigen theoretischen Studien sich auch praktisch vielfach versucht. Der Herzog von Meiningen hatte, durch Kenner und Kunstfreunde auf den genialen Jüngling aufmerksam gemacht, ihm eine für bescheidene Bedürfnisse hinreichende Jahresrente ausgesetzt, um ihm ein geregeltes und systematisches Studium der Tonkunst unter einem bewährten Meister zu ermöglichen. So war Ludwig nach Leipzig gekommen, um sich unter Mendelssohn-Bartholdy für den erwählten Beruf auszubilden.

Wie lange, mit welchem Eifer und welchem Erfolg Ludwig den Unterricht des berühmten Regenerators der Leipziger Gewandhausconcerte benutzte, kann ich nicht angeben, ich weiß blos, daß er zu der Zeit, wo ich ihn kennen lernte, der Musik als Lebensaufgabe gänzlich Valet gesagt und sich ausschließlich der Dichtkunst, namentlich der dramatischen, zugewandt hatte. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß er nicht noch mit Liebe an der edlen Musica gehangen, oder die ausübende Fertigkeit verloren gehabt hätte. So oft er zu mir kam, lenkte er mit der Frage: „Ist es erlaubt?“ aber ohne die Antwort darauf abzuwarten, seine Schritte zunächst nach dem Flügel, öffnete denselben, setzte sich, oft ohne Hut und Ueberzieher abzulegen, und begann zu phantasiren, daß ihm der Schweiß von der Stirne troff, ohne daß es ihm in seinem Eifer eingefallen wäre, sich der ihm unter solchen Umständen so beschwerlichen Kleidungsstücke zu entledigen. Machte man ihn endlich darauf aufmerksam, so blickte er erst unwirsch, dann gutmüthig lachend empor, warf die schweißtreibenden Hemmnisse ab und stürzte sich mit frischer Kraft in die Wogen der Töne. Stundenlang habe ich ihm oft so zugehört und, während mir dieser Genuß beschieden war, zugleich innig beklagt, daß diese herrlichen, oft meisterhaft durchgeführten musikalischen Gedanken im engen Bereiche meines Zimmers verhallten und für die ganze übrige Welt verloren gingen.

Noch tiefere Trauer beschlich mich über den Verlust eines so seltenen musikalischen Schöpfungstalentes, als Ludwig mir bei dem ersten Besuche, den ich ihm machte, seine Compositionen zeigte. Es waren dies, außer einer Menge kleinerer Piècen, wenigstens acht bis neun vollständig ausgearbeitete Opernpartituren. Die Texte dazu hatte er sich ebenfalls selbst geschrieben. Erstaunt fragte ich ihn, ob er diese Arbeiten noch nicht einer Theaterdirection oder einem Musikalienhändler vorgelegt habe. Dr. W., der dabei zugegen war und schon oft seinen Freund angestachelt hatte, seine Arbeiten zu verwerthen, drang auch jetzt wieder vereint mit mir in ihn; aber Ludwig schüttelte blos sein langhaariges Haupt und sagte:

„Nein, es geht net. Die Sachen gefallen mir net mehr. Ich müßt’ sie erst noch mal umarbeiten und dazu Hab’ ich kei’ Lust.“

Was aus diesen Compositionen, den Erzeugnissen von hunderten durchwachter Nächte, die jedenfalls den Grund zu Ludwigs

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