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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Welt schleuderten. Um die Häupter dieser Männer zieht sich aber außerdem noch der Glanz einer romantischen und zugleich wilden Poesie. Ihre Schicksale auf dem Kampfplatze in Sieg und Niederlage, ihre Leiden in der Gefangenschaft, ihre Befreiung lassen sie den Augen der Nachwelt gleich fabelhaften Gebilden erscheinen, und nur wenn man hier und dort noch einen jener wackern Männer, alt, gebeugt, in geachteter, oft hoher Stellung sich bewegend, erblickt, wird man daran erinnert, daß die Schill’schen Reiter wirklich dereinst das deutsche Land durchflogen, den blitzenden Säbel in der Rechten; begeisterte Söhne des Vaterlandes, als ihre Klingen die Feinde niederschlugen; duldende Märtyrer der Freiheit, als die Kette der Galeerensclaven an ihren Füßen klirrte.

Georg Hiltl.




Eine Nacht in der Gletscherspalte.

Es giebt Dinge, Stätten, Menschen, deren bloße Namen schon uns mit dem Reize einer geheimnißvollen Poesie anwehen und unsere Phantasie zu den überschwänglichsten Gebilden verlocken. Einen solchen Zauber übt unter andern jener vielgenannte Hochpaß, der in den Penninischen Alpen aus dem Rhonethale des Wallis über den Großen St. Bernhard in’s Piemont hinüberführt. Sein tausend Jahre altes Hospiz, fast beständig in Schnee und Eis vergraben; die menschenfreundlichen Mönche, die es bewohnen, mit ihren klugen rettenden Hunden, von deren Intelligenz uns so manche rührende Geschichte überliefert ist; das grausige Todtenhaus, die Morgue, mit den unverwesten Leichen der auf dem Hochpfad verunglückten Wanderer – das Alles verwebt sich in unserer Vorstellung zu einem unbeschreiblich romantischen Ganzen.

Die Wirklichkeit stimmt freilich nicht in allen Stücken mit diesem Bilde zusammen; dennoch aber wird Jedem der Moment, da er zum ersten Male als Gast einzog in das Hospiz des heiligen Bernhard, ein unvergeßlicher sein. Stundenlang ist er im Zickzack mühsam aufgestiegen, bald diesseit, bald jenseit der wilden Drause; stundenlang, bereits von der elenden Schenke von Proz an, die einsam daliegt in der unheimlichen Steinwüste des welthistorischen „Engpasses von Marengo“, ist jede Spur von Vegetation hinter ihm zurückgeblieben; stundenlang bilden nackter Fels und schmutziger Moränenschutt seine einzige Umgebung, – da mit einem Male hört er ein Glöcklein hell durch die Lüfte schallen; er blickt auf, vor ihm zwischen den düstern Granitwänden schwebt, wie von Wolken getragen, der massive hohe Steinwürfel des Klosters, das lang erhoffte Rastziel. Wenn ihm dann ein paar der mächtigen gelbbraunen Hospizdoggen schnobernd und schweifwedelnd entgegenspringen; wenn die Schelle durch den Kreuzgang hallt, den neuen Ankömmling zu verkünden; wenn ihn schließlich am Portale einer der schwarzröckigen Chorherren vom Orden des heiligen Augustin mit französischer Artigkeit bewillkommnet, – er fühlt sich überwältigt von dem Eindruck von Ort und Scene, für die er in seinen Reiseerinnerungen vergeblich nach Vergleichen sucht.

Im Sommer, wenn der Fremdenstrom, der sich alljährlich über die Schweiz ergießt, seine Wellen auch über den Bernhard spült, entfallet sich ein gar buntes Leben auf dem eisumstarrten Berge. Tag um Tag kommen dann aus Martigny im Norden und aus Aosta im Süden stattliche Cavalcaden heraufgezogen mit Saumrossen und Maulthieren, mit Dienern und Courieren, die das Obdach des Klosters ansprechen; im Refectorium schwirrt’s polyglottisch durcheinander von Schweizern, Deutschen, Engländern, Russen, Franzosen; die gastlichen Mönche machen mit weltmännischer Liebenswürdigkeit die Honneurs ihres Hauses und in den untern Gelassen thun sich die Führer und Treiber und die ärmeren Wanderer gütlich mit den Knechten des Stiftes, zugleich aber auch die unglücklichsten aller menschlichen Geschöpfe, welche zu den stereotypen Gästen des heiligen Bernhard gehören, jene unheimlichen Cretins, die dem untern Rhone- und dem grandiosen Thale von Aosta eine so traurige Staffage verleihen.

Welch anderes Bild aber im Winter! Was für eine furchtbare Einsamkeit alsdann für das Häuflein Mönche oben, achttausend Fuß hoch über der See bei sibirischen Kältegraden, – eine Abgeschiedenheit, gräßlicher als das Schweigen von La Trappe! Unter haushoher Schneelast liegt weithin die Landschaft, eine einzige augenblendende weiße Grabdecke, aus welcher kaum die obersten Spitzen der riesenhohen Stangen emporragen, welche den Saumpfad einfassen, – und doch ist auch im Winter der Paß betreten, allerdings nicht von Touristen, nur ab und zu von einem Landmann aus Piemont oder aus dem Wallis, einem Handwerksburschen, einem Drehorgelkünstler oder Murmelthierbesitzer, einem Weinsäumer, wohl gar von einem verlassenen, bettelnden Weibe.

Gewiß mag es reich die Mühe lohnen, sich einmal auch dies Winterbild aus den Penninischen Hochalpen zu beschauen; man muß aber Dr. Noë sein, der, wie er den Lesern dieses Blattes so meisterhaft beschrieben, in der Sylvesternacht mutterseelenallein zwischen den Tiroler Schneehörnern umherirrte, oder jenes Original von Briten, ein Mitglied des waghalsigen Alpenclubs jedenfalls, das sich jählings in den Kopf setzt, einmal, nicht wie landüblich im August, sondern im März durch die Schweizer Berge zu streifen – wenn einen der Gedanke schon an derlei Winterplaisir nicht unter Hautschauern und Haarsträuben in die Ecke am warmen Ofen scheuchen soll.

Nach manchem mißglückten Versuche, nach vielerlei unfreiwilligem Aufenthalt durch Wind und Wetter, sitzt dieser kühne Albionsohn zu Anfang April des vorigen Jahres endlich richtig und leibhaftig im Hospiz des St. Bernhard, von den frommen Augustinern gastlichst aufgenommen und sorglichst verpflegt; doch – „die Partie war im Grunde langweilig zum Sterben“. Also berichtet unser Engländer in einem vielgelesenen Londoner Journal, dem wir, einmal abweichend von dem alten Grundsatze der Gartenlaube, ihren Lesern nur Originales zu bieten, die nachstehenden Einzelnheiten nacherzählen, um, wie es einer Zeitschrift geziemt, vor allen Dingen – zeitgemäß zu sein. Was aber kann zeitgemäßer erscheinen in diesen schönen Märztagen von 1865, wo der Winter mit störriger Zähigkeit seine Herrschaft zu behaupten strebt, der Schnee zu Mauern sich anhäuft auf Weg und Steg und alle Bahnzüge in seinen undurchdringlichen Schichten stecken bleiben, als ein Artikel, in welchem Eis und Schnee und Frost und Kälte die Hauptrollen spielen?

Alle Stoffe der Unterhaltung waren erschöpft – schreibt der Wintergast auf dem Bernhard weiter –, sämmtliche berühmte Alpenzüge vom Karthagerfeldherrn bis zu Macdonald mit seinen Dragonern besprochen, kritisirt, erörtert; das unglückliche Piano schier zu Tode gemartert mit allen erdenklichen Walzer- und Polkaklängen und selbst die Orgel zu profanen Märschen gezwungen worden, ich sah mich am Ende meiner Ressourcen, – da, in der Frühe des vierten Morgens meiner Hospizwinterfrische, begaben sich zwei denkwürdige Ereignisse. Erstens hatte der Himmel sich plötzlich ausgeschält aus den dicken Nebeln, die uns seither, wie auf einem Isolirschemel, von der Welt abgeschnitten hatten, und zweitens kam uns die Kunde, daß eine Gesellschaft italienischer Holzschnitzler auf ihrer Wanderung nach dem jenseitigen Rhonethale glücklich bis nach St. Remy, der piemontesischen Grenz- und Zollstation, etwa eine Stunde unter der Jochhöhe, vorgedrungen war. Hier hatten gestern Abend zwei von dem Trupp den Einfall gehabt, sich von der Karawane zu trennen und in einer dem Kloster gehörigen Sennhütte, die jetzt leer und verlassen stand, die Nacht zuzubringen. Heut’ Morgen war der übrige Theil des Zugs nach dieser Hütte nachgekommen, – allein, merkwürdig, entsetzlich! da war Niemand zu finden, auch kein Anzeichen vorhanden, welches darauf hinwies, daß jemand während der Nacht hier gewesen. Der frischgefallene Schnee hatte überdies alle Spuren der beiden Wanderer verweht; es galt darum kein Säumen. Sofort war ein Bote nach dem Kloster vorausgesandt worden, um Meldung von dem Vorfalle zu bringen und die Aufsuchung und, wenn noch möglich, Rettung der beiden Verirrten zu veranlassen.

Tiefer denn je lag im letzten Frühjahr der Paß im Schnee vergraben, selbst von den oben erwähnten zehn bis zwölf Fuß hohen Pfählen, die an den erhabensten Stellen des Pfades errichtet sind, um im Winter die Grenzen desselben zu bezeichnen, ließ sich nichts mehr erblicken, und nur mit der äußersten Anstrengung war es dem Boten gelungen, sich zum Hospiz aufzuarbeiten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_249.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)