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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Langsam waren wir unter diesem Gespräch den Berg herabgestiegen und standen jetzt vor den inwendig mit sauberen weißen Gardinen umgebenen Fenstern, welche die Anregung zu einer Erörterung gegeben hatten, wie sie wohl schwerlich jemals an dieser Stelle vorgekommen war. Die inzwischen eingetretene Dunkelheit gestattete uns einen Einblick in das Zimmer; es zeigte eine peinliche Sauberkeit und war behaglich, fast elegant eingerichtet. An der Decke brannte ein kleiner Kronleuchter, außerdem standen noch zwei silberne Armleuchter auf dem weißgedeckten Tische, um den eine zahlreiche Familie in festlichem Schmucke beim Mahle saß, in der That ein anmuthiges Bild stillen Behagens und häuslicher Zufriedenheit.

„Sehen Sie den Mann,“ sagte der Präsident, auf eine untersetzte Gestalt mit kräftigem, sonnengebräuntem Gesichte deutend, die in blendendweißer Piquéjacke auf dem Sopha saß und sich Speise und Wein sehr wohl schmecken ließ. „Wie Sie bemerken, ist er kein Ideal für romantische Seelen und nichts weniger als ein Frömmler und Kopfhänger; er ist, wie ich weiß, preußischer Soldat und Landwehrmann gewesen und ein gewandter, durch und durch deutscher Mensch. Trotzdem ist in ihm jener ideale Zug, dessen ich vorhin gedachte, mächtig geblieben. Als ich heut’ Mittag um die Stadt ging, sah ich ihn erhitzt und keuchend von einer Geschäftsreise zurückkehren. Sicher hatte er den dreimeiligen Weg von der Eisenbahnstation zu Fuße gemacht, weil die Post um fünf Uhr von dort abgeht und also erst nach Beginn des Sabbaths hier eintrifft, was den Gesetzen und der Sitte zuwider ist. So kehrt er fast an jedem Freitag um dieselbe Stunde von seinen außerhalb betriebenen Geschäften zu den Seinen zurück. Oft könnte er den Sabbath in einer Gemeinde, ja in Leipzig oder Berlin verleben, aber nein … es zieht ihn zu den Seinen, in die Stadt, wo es für ihn keinen Tempel und keinen Gottesdienst giebt … es ist ja doch kein Sabbath, wenn man nicht bei Weib und Kind ist, wenn man nicht allwöchentlich die friedlichen Sabbathengel sich auf die eigenen häuslichen Räume herniederlassen sieht. Seine Familie war ihm heute bereits im Festanzuge entgegengegangen und die Kinder trugen mit seinem kleinen Gepäck auch das dürftige Päckchen des armen Juden, der neben ihm herging und den er wahrscheinlich irgendwo unterwegs gefunden und ‚über Schabbes‘ in sein Haus geladen hat. Ich kenne das. Sehen Sie, dort sitzt nun der arme gänzlich fremde Mann, für den diese Gegend hier eine ungastliche Wüste wäre, am Familientische, und wenn noch zwei oder gar vier Andere kämen, sie würden ebenfalls freundliche Aufnahme und Stärkung finden. Daß die Juden in weltlicher Hinsicht eine Gemeinschaft oder einen Zusammenhang erhalten, wie man gewöhnlich glaubt, ist nicht wahr; ein Band ist allerdings vorhanden, aber es ist eben das rein geistige der gemeinsamen religiösen Institutionen. In dieser ohne Hülfe irgend eines Zwangsmittels, einer äußeren Gewalt bestehenden, über die ganze bewohnte Welt sich verbreitenden Uebereinstimmung der Gebräuche und Gebete liegt allerdings etwas sehr Wunderbares, fast Unerklärliches.“

In diesem Augenblicke sahen wir die Familie im Zimmer die Gebetbücher zur Hand nehmen. Einer der Söhne las; wir konnten nur so viel vernehmen, daß es Deutsch und also eine Neuerung war. Hierauf jedoch begann der Hausvater mit lauter Stimme das rituelle hebräische Tischgebet zu sprechen. „Kommen Sie,“ sagte mein Freund, mich fortziehend, „ich ertrage das nach allen diesen Eindrücken nicht mehr; es ist, als ob ich meinen alten Vater, ja noch meinen Großvater hörte. Dieselben Worte, derselbe Ton, dieselbe Melodie, länger als ein Jahrtausend hindurch mit geringen Unterschieden von einem Ende des weiten Erdenrundes bis zum andern; ja, ich kann nicht aufhören, es zu betonen! das ist und bleibt eines der ergreifendsten Geheimnisse der Weltgeschichte. Und wenn heute die Juden, die man vor Jahrhunderten verbrannt und hingeschlachtet, aus ihren Gräbern erstehen und an den Tisch dieses Mannes treten könnten, sie würden sofort Satz für Satz einstimmen in die ihnen vertrauten Klänge dieses Gebetes.“

Schweigend waren wir weiter geschritten und ich muß gestehen, daß mich der unverhoffte Einblick in eine der verborgensten Herzensfalten dieses ausgezeichneten Mannes gar seltsam bewegt hatte. Mitten auf dem freundlichen Marktplatze des Städtchens, unserer Wohnung gegenüber, blieb er noch einmal stehen, indem er sagte: „Und doch möchte ich von Ihnen nicht mißverstanden sein, als ob es mir um eine Idealisirung und Verherrlichung des orthodoxen Judenthums zu thun sei. Dasselbe ist ein religiöses Product vergangener Zeiten und wird mit den beengenden Vorurtheilen und zelotischen Einseitigkeiten, welche an ihm haften, die Schwelle einer freieren und lichtvolleren Zukunft ebenso wenig überschreiten, wie das orthodoxe, confessionell-exclusive Christenthum. Aus der Tiefe meines Bewußtseins aber und aus meiner innersten Erfahrung heraus behaupte ich, daß dieses Judenthum auf das Leben und die Gemüthswelt der Seinigen eine gleich veredelnde Wirkung geübt, eine ebenso große Weihe und sittliche Erhebung ausgestrahlt, wie die verschiedenen christlichen Kirchen der Masse ihrer Angehörigen gegeben haben. Die Frucht des verlästerten und geschmähten Judenthums ist oder war eben ein Gemeinde- und Familienleben, das mit seiner nach Innen gekehrten und deshalb wenig gekannten Seele unstreitig zu den reinsten und wärmsten Stellen der Menschheit gehört. Demonstriren läßt es sich freilich nicht, was aus dieser verborgenen Welt, aus der Fülle ihrer gemüthreichen Innigkeit und ihrer wahrhaft poetischen Momente namentlich dem Herzen des deutschen Volkes eine verwandt sich anfühlende Hand entgegenstreckt. Wäre ich ein Dichter, so würde ich es zu schildern, wäre ich ein Maler, so möchte ich es in einer Reihe jener schönen Scenen und Bilder zu verewigen suchen, wie sie unverwischlich meinem Herzen sich eingeprägt und bis an mein Ende zu den besten und liebsten Schätzen meiner Erinnerung gehören werden.“

Hiermit drückte mir der Mann die Hand, machte seine gewöhnliche Abschiedsverbeugung und zog sich für heute in sein Zimmer zurück. Er sah bleich und ergriffen aus und mochte der Erholung bedürftig sein.




Daß ich die obigen merkwürdigen Geständnisse eines hochgestellten Staatsmannes hier wörtlich mittheilen konnte, verdanke ich meinem sorgfältig geführten Tagebuche, in das ich sie damals noch frisch aus dem Gedächtnisse niedergeschrieben habe. Schon nach einigen Tagen reiste der Präsident ab und ich bin ihm seitdem nicht wieder begegnet; er hat sich, wie ich höre, in das Landleben zurückgezogen und bewirthschaftet in irgend einer der entfernten Provinzen die großen Güter einer verwittweten Tochter. Sollte ihm dieses Blatt zu Gesicht kommen, so wird es ihm mit der Erinnerung an jene bewegte Abendstunde in der Stille des thüringischen Gebirges zugleich eine wohlthuende Ueberraschung bereiten. Der Wunsch seines Herzens ist erfüllt. Ganz dasselbe Heimweh nach einem verlorenen Paradiese der Kindheit, das er wie einen geheimen Schatz in seiner Seele trägt, dasselbe Verständniß für jenen poetischen und sittlichen Zauber, von welchem viele Jahre der Entfremdung sein Gemüth nicht zu lösen vermochten, ganz jener Funke einer zarten und warmen Sympathie hatte längst auch in der Seele eines Künstlers, eines deutschen Mannes aus jüdischem Stamme, geglüht, der lebensvoll aus sich herauszugestalten und im Farbenglanze herrlicher Bilder auf die Leinwand zu zaubern wußte, was er im Leben der Seinen mit dem Auge des Poeten angeschaut und mit dem sinnigen Geiste des Denkers betrachtet hat. In Professor Moritz Oppenheim in Frankfurt a. M. hat die mißachtete, für reizlos gehaltene Welt des altjüdischen Familienlebens, haben namentlich die freundlichen und heiteren Seiten, durch welche es sich für den hartherzigen Druck und die Kränkungen der Außenwelt zu entschädigen suchte, ihren Maler gefunden. Die berühmten Bilder, zu denen ihm diese Sphäre den liebevoll erfaßten Stoff geliefert, sind nicht blos anerkannte Meisterwerke der Kunst, es sind auch interessante, natur- und wahrheitsgetreue Schilderungen, innerlich erfahrene und von der Sonne des Gemüths beleuchtete Zeugnisse für den Geist, der unter meist seltsam fremdartiger Hülle in jenen Häusern gewaltet hat. Wir haben daher zwei dieser charakteristischen und herrlich ausgeführten Scenen in gelungener Wiedergabe unseren Darlegungen beigefügt und heben zunächst die darin berührten Momente hervor, um dann später in einem zweiten Artikel noch einige andere Seiten des genannten Gebietes vorzuführen.

Noch anmuthiger fast als der eigentliche Sabbath macht sich der Rüsttag zu demselben, der alle jüdischen Herzen eigenthümlich anheimelnde Freitag, in jüdischen Gemeinden und Häusern bemerkbar. Während die Männer mit doppelter Emsigkeit in ihren Geschäften arbeiten, um „vor Schabbes“ noch fertig zu schaffen, was nothwendig ist und doch von einem genau bestimmten Augenblicke

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_315.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2017)