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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


das dunkle Nebelmeer hineinragen, und wenn dann der Wind aufsteht, die Nebelfluth zu wallen und zu wogen beginnt, und zuletzt vom blauen Himmel die Sonne durchbricht und die Silberfiligranarbeit des Winters, der auch das kleinste Spinnewebchen nicht vergessen hat, strahlensprühend blitzt und funkelt, – wer das gesehen und erlebt hat, wird die Herrlichkeit eines solchen Schauspiels nie vergessen.

Auch jener Morgen wird mir immer im Gedächtniß bleiben, da ich den See zum ersten Male in eine einzige Eisfläche verwandelt erblickte. Die sonst so leicht bewegte, vor jedem Windhauch sich kräuselnde lebendige Fluth, in der sich die wundervolle Landschaft mit all den ihr eigenen magischen Lichteffecten, die die Gabe des Schauens zu einer unerschöpflichen Quelle wahren Hochgenusses erhöhen, „feucht verklärt“ widerzuspiegeln pflegte, – eine einzige Nacht hatte sie in die Fesseln der Starrheit geschlagen. Stumpf und matt warf das Eis die Strahlen der Sonne zurück, die gestern noch auf den Kämmen der Wellen gefunkelt hatte, daß das Auge geblendet von dem Glanze sich abwenden mußte. Mit ängstlichem Klageschrei flogen die Wasserenten hin und wieder, eine offene Stelle im Wasser suchend, das die Natur ihnen doch zu ihrem Lebenselemente bestimmt hatte und jetzt mit einem Male so hartherzig entzog. Mir war zu Muthe, wie wenn der liebe, schöne See gestorben wäre. Und wie dann die Sonne höher und höher stieg, – welche Töne! Dies Stöhnen und Wimmern, dies Flüstern und Knistern, dies Heulen und Jammern, dies Donnern und Krachen, – es war unheimlich, dämonisch, wie wenn die Seele des Sees aus der Noth des Todes, die ihn so plötzlich umfangen, unter wilden Jammertönen sich wieder zum Leben emporringen wollte. Und auch die Nacht gab keine Ruhe, – im Gegentheil: all die schaurigen Naturstimmen, die hier laut wurden, klangen durch die grabesstille Finsterniß nur noch viel öder und ergreifender. Ja, sie sind von solcher Wirkung, daß die jungen weiblichen Zöglinge des Instituts, welches das Benedictinerinnenkloster auf der Insel beherbergt, stets in Weinen ausbrechen und in ihrer Angst kaum zu beruhigen sein sollen, wenn sie zum ersten Male den See in der Nacht seine Winterklagelaute anstimmen hören.

Aber auch Freuden bringt das Eis, Freuden, von denen der Bewohner der Ebene kaum eine Ahnung hat. Ganz abgesehen von der Gelegenheit, die eine nahezu zwanzig Stunden in der Runde umfassende Eisfläche dem Schlittschuhläufer bietet, – noch viel interessanter ist die Fahrt auf den Handeisschlitten, wie sie auf den deutschen Alpenseen gang und gäbe sind. Ein kleines hölzernes Bänkchen von vielleicht zwei Fuß Länge und ein Fuß Breite auf zwei mit eisernen, die schmale Seite dem Eise zugekehrten Bändern beschlagene Schlittenkufen gestellt, bildet ein Fahrzeug, auf welchem man vermittelst zweier in einer ebenfalls eisernen Spitze endenden Stöcken, die mit beiden Händen in gleichem Tempo auf die hartgefrorene Fläche aufgesetzt werden, mit athemversetzender Eile dahinfliegt über den tiefdunkelgrünen See, aus welchem gegen Süden zu in warmen Tönen und edelsten Formen eine Alpenkette von ungefähr sechsunddreißig Stunden vom Schafberg im Salzkammergut bis zum Breitenstein weit jenseits des Inn, vom Gipfel bis zu den Füßen in Schnee gekleidet, in blendendem Glanze zu dem tiefblauen Himmel emporsteigt. Gefährlich sind dabei nur die sogenannten „Schläge“, Sprünge im Eise von zehn, zwölf und oft noch mehr Fuß Breite, von den sich befreienden Gasen unter furchtbarem Krachen über die ganze Länge des Sees, also oft viele Stunden weit, gerissen. Aber auch damit ist’s nicht so schlimm bestellt; denn einmal erkennt man sie in der Regel schon von fern durch die von den täglich sich wiederholenden Explosionen umhergeschleuderten Eisschollen; dann aber auch pflegen die Inselbewohner, die genöthigt sind, ihren Bedarf an Brennholz und anderen Lebensbedürfnissen ebenfalls auf Schlitten – für den Transport sind Hornschlitten am gebräuchlichsten – aus der Umgegend herbeizuführen, diese Schläge durch Bretter zu überbrücken und die sichere Bahn durch grüne in das Eis gesteckte Tannenzweige zu bezeichnen. Gleichwohl kommen auf dem See im Winter durchschnittlich mehr Menschen um, als trotz aller Stürme während seiner eisfreien Zeit.

Wenn man nun von einer solchen Fahrt, die heute an dieses, morgen an jenes Ufer des Sees geführt hat, sein Fahrzeug mit der untergehenden Sonne, die Gold und Purpur mit verschwenderischer Hand über die ohnehin schon entzückende Landschaft streut, wieder der Insel zuwendet und aus den Schornsteinen ihrer Fischerhütten graue Rauchsäulen kerzengerade in den winterlichen Abendhimmel steigen sieht, weithin sichtbare Zeichen eines warmen, behaglichen Daheim und als solche schon von den frühesten Geschlechtern der Menschen geachtet, wenn dann an dem immer dunkler werdenden Horizonte Stern auf Stern hervorspringt und bald der ganze Himmel in goldenen, grünen, rothen, blauen Lichtern glitzert und funkelt und dann still und hehr der Mond über den beiden Staufen heraufschwebt, die Welt mit seinem zauberhaften Lichte überfluthend, – dann kann man sagen, daß man in tiefen, frischen, gesunden Athemzügen eine Luft genossen hat, gegen welche das Raffinement auch der größten Stadt in keiner Weise aufzukommen vermag.

Ist aber der Winter trotz Kälte und Einsamkeit, – denn die gesellschaftlichen Bedürfnisse des Culturmenschen finden hier nach keiner Seite hin eine irgendwie nennenswerte Befriedigung, – so reich an den reinsten, herzerquickendsten Genüssen, so wird sich der Leser selbst einen Begriff davon machen können, bis zu welcher Höhe diese sich steigern, wenn auf den Fittichen des „Sunnwinds“, wie die Eingeborenen den lenzbringenden Südwind nennen, der Frühling mit seiner Blüthenpracht von den Bergen herniedersteigt. Dann liegt, von der Höhe aus gesehen, die Insel in der blauen Fluth da, wie ein grünes Lotosblatt, auf welchem die Nixen des Sees sich zum Spielzeug ein Klösterlein und ein Dörfchen von Fischerhütten gebaut haben, deren altersgraue, steinbeschwerte Schindeldächer anheimelnd aus dem Blüthenschnee der Obstbäume hervorragen. – Ist das Jahr bis zu seiner Höhe vorgerückt, so ist es besonders ein Tag, der einen unverlöschlichen Eindruck mit sich zu bringen pflegt, der Sanct Johannistag. Da leuchten, wenn der Abend sich herniedersenkt, die uralt heidnischen Sonnwendfeuer, kaum zu zählen, von der viele Meilen langen Riesenwand der Alpen hernieder, vom Untersberg an, auf den Staufen, dem Watzmann, dem Hochfelben, dem Hochgern, Eckalpenkogel, Fellhorn, der Hochplatte, der Kampenwand, dem Zellerhorn, der hohen Riß, den Heubergen bis zum Wendel- und Breitenstein und spiegeln sich wieder in der dunklen Tiefe des mächtigen Sees.

Dieser Zeitpunkt ist es auch, von dem aus bis in den Spätherbst hinein der See die höchste Fülle seiner Reize zu entfalten beginnt. Denn mit ihm hat die Sonne ihre höchste Macht der Lichtentwickelung erreicht; dazu kommt, daß jetzt bis in den bunten Herbst hinein die Farben viel kräftiger zu wirken beginnen, und daß mit den nunmehr eintretenden, ich möchte sagen leidenschaftlicheren Stimmungen der Natur, die in den über den See hereinbrechenden majestätischen Gewitterstürmen ihre Spannung und Lösung finden, auch ein leidenschaftlicheres Interesse in der Brust des Menschen eintritt, wie denn überhaupt allwegs die Leidenschaft wie im Leben, so in der Kunst und Natur das höchste menschliche Interesse in Anspruch nimmt.

Einen solchen leidenschaftlichen Moment, wie er in dem Leben des Chiemsees während der Sommermonate häufig wiederkehrt und in die Erscheinung tritt, hat der Maler des im Holzschnitt beigegebenen Bildes, Herr Carl Raupp, Professor der Malerei an der Kunstschule zu Nürnberg, ein würdiger Schüler seines großen Meisters Piloty, in unnachahmlicher, sprechender Schönheit festzuhalten gewußt. Das junge Ehepaar war nach der „Au“ gefahren, um für die Bedürfnisse des Tages zu sorgen, wie die Ladung des alten, trotzigen, verwitterten Einbaues zeigt. Aber auf der Heimfahrt hat sie ein Gewitter überrascht; denn der Meister Sturm sattelt und reitet schnell in den wetterfrohen Bergen. Von Nordwesten fährt er daher, in regenschauernde Wolken gehüllt, aus denen in nur unsicheren Umrissen dort der Staufen, hier die hohe Kampe hervortreten. Mit all seiner Macht stürzt er sich in den See, wühlt die Wogen auf, kämmt ihnen in seiner Wuth die weißen Schaumkronen ab und reißt sogar die Tropfen, zu Fäden gedehnt, von den Rudern. Wohl zittert und stöhnt der zum Fahrzeug ausgehöhlte Eichenstamm unter dem wilden Drange, aber er ist ein sicherer, treuer Freund und hat sich schon in noch ganz anderen Proben als zuverlässig bewährt. Ruhig legt sich die jähe, elastische Kraft des Mannes in die Ruder; vorwärts geht es, gerade dem Wind entgegen, wenn auch langsam, so doch stetig und sicher. Sturmgewohnt ist auch sein Töchterchen, das sich der empörten Wogen sogar freut und mit ihnen spielt, und die junge Mutter, die das Ruder weggelegt hat, um den Jüngsten, der allerdings

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