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Seite:Die Gartenlaube (1871) 614.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

bei sich zu haben, vollkommen vertraut gemacht hatte – das ermuthigte mich wieder. Er behielt fortwährend meine Hand in der seinen, und ich durfte ihn bis an die Treppe begleiten, denn er war gewohnt, seinen Kaffee im Bibliothekzimmer zu trinken.

In der Halle ging ein stattlicher alter Herr an uns vorüber. Er hatte schneeweißes Haar und ein schneeweißes Halstuch unter dem Kinn, und sein schwarzer Anzug glänzte wie Atlas in dem hereinfallenden Morgensonnenstrahl. Er zog zwar tief den Hut, aber mit sehr steifer gemessener Haltung, und seine hellblauen Augen glitten förmlich feindselig hochmüthig an der nachlässigen Erscheinung meines Vaters hin.

„Wer ist das?“ fragte ich leise, als er rasch, aber mit außerordentlich viel Würde draußen den Teich umschritt; bei seinem unvermutheten Erscheinen war es mir wie ein jäher Stich durch das Herz gefahren.

„Der alte Buchhalter der Firma Claudius,“ sagte mein Vater. „Er ist Dein Nachbar – hast Du ihn vorhin nicht singen hören?“ Ein sarkastisches Lächeln flog um seine feinen Lippen, während er einen Blick auf den eifrigen Morgensänger zurückwarf, der eben im gegenüberliegenden Gebüsch verschwand.

Zwei Stunden später ging ich denselben Weg an Ilse’s Seite, den Weg nach dem Vorderhaus. Ilse trug den Blechkasten mit den Werthpapieren meiner Großmutter unter ihrem schwarzen Umschlagtuch: sie hatte ihre Reisetoilette noch durch ein Paar dunkler baumwollener Handschuhe vervollständigt und sah ganz feierlich aus.

Heute war das Kiesrund leer, dafür herrschte desto regeres Leben im Blumengarten. Der Schubkarren kreischte im Sand der Wege, zwischen den Beeten wandelten Leute in der Arbeitsblouse Blume um Blume in Bouquets einfügend, und aus Rosenhecken hinter Spalieren tauchten Männerköpfe empor, die uns erstaunt nachsahen.

Als wir in die Nähe des großen Gewächshauses kamen, trat der alte Buchhalter aus der Thür. Er war ohne Hut; von dem ehrwürdigen blüthenweißen Scheitel ging ein förmliches Leuchten aus. Er sprach mit dem jungen Herrn, der, wie es schien zum Ausgehen gerüstet, neben ihm herschritt. Sie bemerkten uns nicht, obgleich wir, kurz nach ihnen, in den breiten Weg einbogen, der direct nach der Thür in der Hofmauer lief.

„Sie sind Brauseköpfe – Sie und Ihre Schwester; Ihr Flug geht hoch –“ sagte der alte Buchhalter.

„Verdenken Sie uns das?“

„Und das Nest, in dem Sie flügge geworden sind, paßt nicht mehr – ich weiß es längst!“ fuhr der silberhaarige Herr fort, ohne den Einwurf zu beantworten. Er hatte auch beim Sprechen eine tiefe angenehme Stimme, nur war seine Sprechweise so eigenthümlich breit und betonend, als halte er selbst jedes seiner Worte für goldschwer.

„Das will ich nicht gerade sagen,“ entgegnete der Andere achselzuckend, „aber es brauchte so Manches nicht zu sein, was Charlotte und mich demüthigt, was sich uns in der Gesellschaft, und hauptsächlich mir bei meiner Carrière wie ein Bleigewicht anhängt. … Wenn sich der Onkel nur einmal entschließen könnte, diese Krambude aufzugeben!“

Er holte mit seinem feinen Spazierstock weit aus und köpfte eine prachtvolle feuerfarbene Nelke, die in den Weg hereinnickte, mit einem so wuchtigen Hieb, daß der Kelch weithin über den Kies flog. … Ich stieß einen leisen Schrei aus und fuhr unwillkürlich mit beiden Händen nach dem Halse, als sei mir der grausame Hieb selbst durch das Genick gegangen.

Die Sprechenden fuhren herum. Mein erschrockenes Gesicht, noch mehr aber wohl meine Bewegung lockten ein spöttisches Lächeln auf das Gesicht des jungen Herrn.

„Ah, Haideprinzeßchen kann auch sentimental sein?“ rief er und nahm den Hut verbindlich grüßend von seinen kastanienbraunen Locken. „Nun bin ich sicher ein Vandale, ein Barbar, und Gott weiß, was Alles, und bin verurtheilt für ewige Zeiten,“ fuhr er mit einem lächelnden Seitenblick auf mich fort. „Es bleibt mir nichts Anderes übrig, als die Blume sofort wieder zu Ehren zu bringen.“

Er hob die Nelke auf und steckte sie in sein Knopfloch.

„Das macht das arme Ding auch nicht wieder ganz und heil,“ sagte Ilse trocken im Vorübergehen.

Er lachte auf.

„Heißen Sie nicht Ilse?“ fragte er schelmisch.

„Aufzuwarten, ja – Ilse Wichel, wenn’s erlaubt ist,“ entgegnete sie, sich nach ihm umdrehend – das klang scharf, als habe sie Pfeffer und Salz auf der Zunge, wie aber würde ihre Antwort erst ausgefallen sein, hätte sie gewußt, daß er in der Haide an den Namen Ilse das Bild eines – Drachen geknüpft hatte!

Wo sie übrigens den Muth hernahm, so selbstständig fest und gleichmüthig in die braunen Augen zu sehen, als gehörten sie zu dem ersten besten Besenbinderjungen, den sie mit irgend einer Vermahnung und einem Stück Brod vom Dierkhof fortschickte, das war mir ganz unfaßlich. Ja, Ilse war tapfer wie ein Soldat, mit der konnte sich Keine messen, Keine in der ganzen Welt, ich aber am allerwenigsten, denn mein Hasenherz schlug so heftig, daß ich meinte, der Herr Buchhalter sähe es und betrachte mich deshalb so scharf von Kopf bis zu Füßen.

Ich glaube, der junge Mann wollte seinem Begleiter sagen, wer ich sei; allein Ilse hielt nicht Stand; sie nickte mit dem Kopfe und wandte sich um, und ich machte selbstverständlich die Schwenkung mit.

Die Herren gingen langsam hinter uns her. „Ein Wagen kommt draußen um die Ecke!“ sagte der junge Herr plötzlich stehenbleibend. „Ja, ja, es sind die Rappen! Onkel Erich kommt von Dorotheenthal zurück!“

Sie beschleunigten ihre Schritte und traten noch vor uns in den Hof, wo eben durch das Thor der hübsche hellausgeschlagene Wagen hereinbrauste. Der alte Herr mit dem braunen Hut und der blauen Brille saß drin. Er sah gerade so aus, wie in der Haide, nur sprang er mit weit mehr Leichtigkeit über den Tritt herab, als ich nach seinen sonst so gemessenen, jedenfalls vom Alter bedingten Bewegungen vermutet hätte.

„Guten Morgen, lieber Onkel!“ sagte der junge Mann, und „Bist Du da, Onkel Erich?“ rief Charlottens Stimme aus einem Fenster herab.

Der alte Herr winkte grüßend hinauf und reichte seinem Neffen und dem Buchhalter die Hand. Wir gingen eben vorüber, wurden aber nicht beachtet; denn mit dem Wagen zugleich war auch ein stattlicher, kräftiger Mensch mit einem Felleisen auf dem Rücken in den Hof getreten und hielt in diesem Augenblick seinen abgezogenen Hut bittend hin.

Ich sah, wie der junge Herr sofort seine Börse zog und ein großes Silberstück in den Hut werfen wollte; allein der Onkel schob die freigebige Hand zurück.

„Was für ein Handwerk?“ fragte er den Bittenden.

„Bin ein Schreiner –“

„Habt Ihr hier in der Stadt Arbeit gesucht?“

„Ja wohl, gnädiger Herr, und wie! Hab’ aber keine gefunden, partout nicht, und wär’ mir doch jede recht, weiß es Gott! – Ich hab’ das Wandern dicksatt!“

„So, so – dann kommt einstweilen zu mir, ich habe Arbeit für Euch“ – er zeigte auf die Kistenstöße ringsum – „und bezahle gut.“

Der Mensch kraute sich verlegen in seinem wirren Haar.

„Nun ja, ist mir recht, Herr – will aber erst noch einmal in die Herberge gehen“ – sagte er stockend.

„So geht!“ sagte kurz der alte Herr und wandte sich weg.

„Tausend noch einmal, der hat Haare auf den Zähnen!“ meinte Ilse bewundernd, während wir die Stufen in der Hausflur hinaufstiegen; ich aber war empört. Der Bettler sah erbärmlich zerlumpt und zerrissen aus, und wie rauh und kurz war er angelassen worden! War es nicht an sich schon schrecklich, bitten zu müssen – mir hätte das Herz weh gethan, als der stattliche Mann so demüthig gebückt vor dem stolzen Reichen stehen mußte! … Da war der junge Herr doch viel barmherziger und edler gewesen; ohne zu fragen, hatte er sein Almosen hingereicht. … Wenn der Schreiner nicht wiederkam, so verdachte ich ihm das nicht einen Augenblick – wer mochte sich denn von den häßlichen, blauen Brillengläsern anfunkeln lassen?

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_614.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)