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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

das Gesicht an der Brust, von der sie so lange verstoßen gewesen. … Seinem Schwiegersohn reichte der alte Mann wortlos die Rechte hin; Helldorf schlug feuchten Auges kräftig ein und hielt sie einen Augenblick fest.

„Ich will Dir auch ein Händchen geben, Großpapa,“ sagte Gretchen und reckte sich auf den Zehen an der hohen Gestalt des Großvaters empor.

Die süße Kinderstimme machte die junge Frau endlich aufsehen. Sie sprang zu ihrem Knaben, nahm ihn vom Boden auf und hielt ihn dem Großpapa hin. „Küsse ihn, Vater!“ sagte sie immer noch zwischen Lachen und Weinen schwankend. „Gretchen kennst Du, den Jungen aber noch nicht. … Denke nur, er hat die großen, blauen Augen der seligen Mutter – o Vater!“ Sie schlang auf’s Neue den linken Arm um seinen Hals.

Hier hatte ich die Thür erreicht und schlüpfte geräuschlos hinaus. So heimisch ich auch in der Familie Helldorf war, jetzt, wo sich die tiefe Kluft schloß, die zwischen Vater und Tochter gelegen, jetzt gehörte ich nicht in den kleinen Kreis – den Reuigen durfte in dieser Weihestunde kein fremder Blick treffen. Aber in meiner Seele war es sonnig hell geworden – so hell, wie droben im Stübchen der glücklichen Menschen, wo wunderbarer Weise in dem Augenblick, als ich hinausschlüpfen wollte, ein einzelner blasser Abendsonnenstrahl vom trüben Märzhimmel niedersank und über die stumm dreinschauenden Familienbilder an der Wand hinglitt, als sollten auch sie aufleben und mitfühlen die Wonne der Versöhnung. …

Meine Tante lag auf dem Sopha, als ich in ihr Zimmer trat. Mit wüthendem Gekläff fiel mich die kleine Furie Blanche an und grub ihre Zähne in meine Kleider – ich gab ihr einen leichten Schlag auf den Kopf, worauf sie knurrend auf den Schooß ihrer Herrin flüchtete.

„Ach nein, Lenore, schlagen darfst Du meinen kleinen Liebling nicht!“ rief mir Tante Christine halb bittend, halb schmollend zu. „Siehst Du, nun ist Dir Blanche gram, und Du wirst Noth und Mühe haben, ihr Herzchen wieder zu gewinnen.“

Ich meinte innerlich, daß ich mir diese Noth und Mühe sicher nie machen würde.

„Schau, ist’s nicht ein reizendes Geschöpf?“ – Sie strich mit zärtlicher Hand dem in der That wunderhübschen Thierchen die langen seidenen Haarsträhne aus den klugen Augen. „Und denke Dir, um einen Spottpreis bin ich dazu gekommen. Der Mann, der es verkaufte, war in Noth – vier Thaler habe ich dafür gegeben, ist das nicht geradezu geschenkt?“

In meiner tiefen Betroffenheit brachte ich kein Wort über die Lippen – neulich hatte ich meine Casse redlich mit Tante Christine getheilt – sie hatte acht Thaler bekommen.

„Ich besaß früher auch schon einmal solch einen Seidenpinscher – ein wahres Prachtexemplar – er war ein Geschenk des Grafen Stettenheim und kostete mehr Louisd’or, als der Kleine hier Thaler. … Es ließ sich kein schönerer Anblick denken, als dieses blaßgelb glänzende Geschöpfchen auf seinem blauseidenen Kissen. … Das arme Ding ist schließlich an einem Rebhuhnflügel erstickt.“

Das Alles plauderte sie mit lächelndem Munde. Noch vertieften sich die schönsten Grübchen in ihren Wangen bei diesem Lächeln, und ich mußte immer und immer wieder auf die feinen, gleichmäßig geformten Zähnchen sehen, die perlmutterweiß zwischen den rothen Lippen blinkten. Der Kopf der schönen Frau war tadellos frisirt – ihr Anzug dagegen erschreckte mich förmlich. Ein abgenutzter, violetter Schlafrock voller Flecken hing lose um die geschmeidigen Glieder, und aus der Oeffnung über der Brust und den Löchern am Ellenbogen kam ungenirt ein Nachthemd von sehr zweifelhafter Weiße. Mit dieser Toilette harmonirte die ganze Umgebung. Mitten im Zimmer, auf den Dielen lag ein Paar niedergetretener, unsauberer, weißer Atlasschuhe, die jedenfalls zu Schlafschuhen und zeitweise zu Blanche’s Spielzeug degradirt waren. Die ehemals so glänzenden Platten der Tische und Commoden deckte eine undurchdringliche Staublage, und hinter dem Bettvorhang lagen Kisten und Kleidungsstücke unordentlich durcheinander – dagegen war die Luft mit dem feinsten, lieblichsten Veilchenparfüm erfüllt.

„Gelt, Du findest meine Umgebung auch grenzenlos vernachlässigt?“ fragte sie, meinen Blick auffangend. „Ich habe Dir drüben bei meinen Besuchen nicht auch noch vorklagen und das Herz schwer machen wollen – Du trägst ohnehin Last genug auf Deinen kleinen Schultern. Aber nun darf ich Dir’s ja sagen, daß ich mich hier, zwischen diesen vier Pfählen, namenlos unglücklich fühle. … Schäfer ist ein Erznarr – solch ein Mensch hat nicht die blasse Ahnung, was eine Frau wie ich, so von Gott und aller Welt auf den Händen getragen, verzogen und verhätschelt, zu beanspruchen gewohnt ist. Statt mir, wie es sich bei jeder Miethwohnung von selbst versteht, jeden Tag für ein gereinigtes Zimmer zu sorgen, verlangt er lächerlicherweise von mir, daß ich seine Möbel abstaube und den Besen in die Hand nehme – da kann er warten!“

Sie griff in ein Porcellankörbchen voll Krachmandeln und Messinatrauben und fing an, Mandeln aufzuknacken.

„Nimm Dir doch auch,“ sagte sie zu mir, indem sie Blanche eine der süßen Beeren hinreichte. „Es ist freilich wenig, womit ich Dir aufwarten kann; allein ein Schelm giebt mehr, als er hat. … Es wird auch einmal wieder besser, und dann sollst Du sehen, was für reizende Diners ich arrangiren kann. … Apropos, um wieder auf Schäfer zu kommen! … Der alte sanfte Scheinheilige kann auch recht flegelhaft werden. Denke Dir nur, als ich vorgestern Blanche kaufe und dem Mann das Geld hinzähle, mahnt er mich doch unverschämter Weise und verlangt, ich solle ihm erst die rückständige Monatsmiethe und seine Auslagen für Feuerung und Licht während meines Hierseins zahlen. … Gelt, das geht mich doch nichts an, Herzchen? … Du hast mich doch eingemiethet.“

Mich überlief es siedendheiß vor Angst – wo sollte das hinaus? Und wenn ich von früh bis spät für Herrn Claudius schrieb, den Unterhalt für die Tante konnte ich unmöglich bestreiten. … Ilse’s Gesicht tauchte vor mir auf – wie oft hatte ich die alte, treue Seele in meinem Inneren hart und unerbittlich gescholten, weil sie aus allen Kräften eine Annäherung zwischen Tante Christine und mir zu verhindern suchte – jetzt steckte ich in der Klemme und büßte.

„Tante, ich muß Dir offen sagen, daß meine Geldmittel sehr gering sind,“ versetzte ich in großer Verlegenheit, aber dennoch unumwunden. „Ich will ganz aufrichtig gegen Dich sein, und Dir Etwas mittheilen, das mein Vater nicht einmal weiß – das Wirthschaftsgeld verdiene ich fast allein durch Beschreiben der Samendüten für Herrn Claudius.“

Zuerst sah sie mich starr und zweifelhaft an, dann brach sie in ein unauslöschliches Gelächter aus. „Also so poetischer Art sind Eure Beziehungen zu einander? … Das ist gottvoll! Und ich bin so kindisch gewesen, einen Augenblick zu fürchten – Na, Kleine,“ unterbrach sie sich selbst fröhlich, „das hört auf, wenn sich meine Lage eines Tages ändern wird, darauf kannst Du Dich verlassen! Dann leide ich’s nicht! … Fi donc, wie hausbacken! … Da solltest Du ’mal sehen, wie ich mich zu dem Manne stellen würde! … Abschreiben, das ist ja freilich ein saurer Erwerb, und ich kann unmöglich länger aus Deiner Börse leben! … Aber was anfangen? … Kind, ich zähle die Stunden bis zu dem Moment, wo es heißen wird, dieser Herr Claudius sei genesen und endlich einmal zu sprechen!“

„Er hat heute zum ersten Male das Krankenzimmer verlassen.“

„Himmel! Und das sagst Du mir jetzt erst?“ Sie fuhr aus ihrer halb liegenden Stellung empor. „Weißt Du nicht, daß Du mit jedem verlorenen Augenblicke mein Lebensglück verzögerst? Habe ich Dir nicht oft genug gesagt, wie ich diesem Ehrenmanne meine Zukunft in die Hände legen und von seinem Rath und Urtheil mein Wohl und Wehe abhängig machen will?“

„Ich glaube, er wird Dir auch nicht anders und nicht besser rathen können als Herr Helldorf, liebe Tante,“ sagte ich. „Herr Claudius hält sich sehr fern von der Gesellschaft, während Helldorf als Lehrer in den ersten Familien Zutritt hat. Er sagte mir vorhin selbst, Du würdest sehr viel Geld verdienen können, wenn –“

„Ich bitte,“ unterbrach sie mich eisigkalt, „behalte Deine Weisheit für Dich! … Es ist meine Sache, in welcher Art und Weise ich mir Bahn brechen will, und ich muß Dir offen gestehen, daß mir durchaus nichts daran liegt, mit den Leuten da oben in irgend eine Beziehung zu treten, geschweige denn, mir auch nur die allergeringste Verbindlichkeit ihnen gegenüber aufzuladen. …

Das sind solche spießbürgerliche Bekanntschaften, die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 849. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_849.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)