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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


ganz aufgedeckt war. Fast hätten mich meine Stiefel verrathen, als ich so schnell wie möglich im Hintergrunde des Chors mich hinter einem vorspringenden Pfeiler zu verbergen suchte. Athemlos lauschte ich nun den leisen Schritten, mit denen die beiden nächtlichen Kirchenbesucher die Treppe emporstiegen. Sie traten auf das Chor – es war der Vicar und Jean.

„Seid Ihr sicher, daß Désirée uns nicht eines schönen Tages verräth?“ fragte der Vicar, indem er sich auf den Sessel niederließ, auf dem ich gesessen hatte. „Den Mädchen ist nie zu trauen. Sie verlieben sich, und dann schwatzen sie Alles aus. Désirée ist so wie so keine Französin in ihrer Gesinnung.“

„Das ist richtig,“ erwiderte Jean, indem er seine Laterne an der Orgel niedersetzte. „Ich hatte sie schon im Verdacht, geplaudert zu haben, und habe ihr darauf hin meine Meinung gesagt. Sie weiß, was ihr bevorsteht, wenn sie durch ihre Thorheit uns in’s Verderben stürzt. Sie kennt mich. Allerdings thut sie mit diesem Preußenhunde, dem Frédéric, sehr vertraut; aber ich denke, sie wird sich in Acht nehmen, durch Verrath ihren Untergang heraufzubeschwören.“

„Ist dieser Frédérice derselbe, den wir hier oben einmal trafen?“

„Ja wohl! Er ist verdammt mißtrauisch gegen mich – das habe ich längst gemerkt; aber er ist zu dumm, zu dumm. Mich fängt er nicht.“

„Sehr schmeichelhaft!“ dachte ich in meiner Ecke.

„Nun, nun,“ meinte der Vicar, „gebt nur auf das Mädchen, auf Euch, auf Alles Acht! Diese Preußen haben feinere Nasen, als es zuweilen scheint.“

Inzwischen hatte Jean sich daran gemacht, mit einem Schraubenzieher ein paar Schrauben zu lockern, die einen Theil der Orgelclaviatur festzuhalten schienen.

„Was habt Ihr Neues erfahren?“

„Bertin war bei mir.“

„Das weiß ich. Er war auch bei mir und hat mir seine Notizen gegeben. Was sonst?“

„Ein Bataillon von dem Regiment, das neulich gekommen ist, bleibt hier; die beiden anderen gehen nach Montmorency.“

„Was weiter?“

„Es werden neue Emplacements für zwei Batterien bei der Villa Granier und in dem Parke des Herrn Bonnaire gebaut.“

„Das ist etwas werth,“ meinte der Vicar, indem er über Jean’s Schulter sah. „Habt Ihr schon den Strom eingestellt?“

„Einen Augenblick noch!“ sagte Jean und griff in die Oeffnung hinein, die durch das Herausnehmen mehrerer Tasten entstanden war.

Der Vicar drückte auf den Knopf eines der Registerzüge, und das darauf folgende Ticken ließ mich nicht länger im Zweifel – es war ein Telegraphenapparat in der Orgel, dessen Leitung wahrscheinlich unter der Seine weg in’s französische Cantonnement ging. – Zu der Freude über die werthvolle Entdeckung gesellte sich nun die Besorgniß, die wichtigen Nachrichten dem Feinde mitgetheilt zu sehen, und ohne mich weiter zu besinnen, sprang ich mit einem lauten „Halte-là“, den Revolver in der Hand, vor. Einen Augenblick schienen Beide vor Schrecken erstarrt zu sein; dann machte der Vicar eine wilde Bewegung. Ich hob den Revolver und der Vicar sank wieder zurück.

„Gehen Sie mir voran die Treppe hinunter!“ sagte ich. „Aber machen Sie keinen Fluchtversuch; ich würde Sie niederschießen.“

In diesem Augenblicke erinnerte ich mich meiner Hülfsmannschaften draußen.

„Posten und Patrouille herbei!“ rief ich laut und griff nach der Laterne. Ein Fußtritt warf sie um, und die Beiden stürzten eilig die Treppe hinunter. Ich gab Feuer. Ein Aufschrei ließ mich erkennen, daß ich Jemand getroffen hatte; aber die Fliehenden eilten beide weiter.

Das Portal öffnete sich; bei dem Scheine der Laterne, welche die Patrouille mitbrachte, sah ich die Flüchtlinge schon vor dem Bilde. Noch einen Augenblick – und sie waren die Leiter emporgeflogen und hinter dem Bilde, das sich knarrend vorschob, verschwunden. Nur eine breite Blutspur hatten sie hinterlassen. Ich suchte eine Feder, schlug an den Rahmen, gegen das Bild – nichts rührte sich; die Fliehenden hatten Zeit, zu entkommen. Der geheime Gang mündete aber wahrscheinlich noch in Argenteuil aus, und ein gänzliches Entschlüpfen der Beiden war dann noch vielleicht zu verhindern, indem man sofort die Posten an den Ausgängen des Ortes benachrichtigte. Zugleich war eine Meldung an den Hauptmann abgeschickt worden, und wir warteten auf sein Eintreffen, bevor wir das Bild einschlugen. Er brachte ein paar Leute mit Brecheisen und Aexten mit. Der Rahmen des Bildes wurde abgesprengt. Die Feder wurde sichtbar – ein kräftiger Druck – und das Bild wich langsam zurück.

Einer nach dem Andern schlüpfte hinein. Wir befanden uns in einem langen, schmalen Raume, dessen Vorhandensein wir schon längst hätten ermitteln können, wenn wir daran gedacht hätten, die Größe der in dem Querschiff liegenden Capellen zu vergleichen. Von der Capelle rechter Hand vom Eingang war durch eine Wand ein kleiner Raum abgetrennt, in den man mit Hülfe einer Leiter gelangte, da die Oeffnung in der Höhe des Bildes und von diesem gedeckt war. Bei oberflächlicher Betrachtung verrieth nichts den geheimen Raum, da man die Wand mit dem Bilde einfach für die Seitenmauer des Querschiffes hielt. In diesem Versteck fielen uns neben den Gegenständen des Kirchenschmuckes zuerst ein Bündel Chassepots nebst Munition und Bajonneten in’s Auge. Wichtiger aber war die Entdeckung einer Treppe, die in die Tiefe, in der die Flüchtigen verschwunden waren, hinabführte. Vorsichtig stiegen wir hinunter und folgten dem niedrigen Gange, der offenbar schon aus alter Zeit stammte und den Dienern der alten Kirche ähnlich gedient hatte, wie jetzt denen der neuen.

Wie waren noch nicht hundert Schritt gegangen, als der Mann, der mit der Laterne voranging, über etwas stolperte; es war der Leichnam des Vicars. Meine Kugel hatte ihn tödtlich getroffen; er hatte nur noch die Kraft gehabt, sich in den Gang hineinzuschleppen, wo er, verlassen von seinem Gefährten, verfolgt von den verhaßten Siegern, in Verzweiflung über das Scheitern seiner Pläne wohl nicht mit christlichen Wünschen für seine Feinde die Seele ausgehaucht hatte. Still schritten wir über die Leiche hinweg; es galt, noch den überlebenden Verräther zu entdecken.

Wieder standen wir vor einer Treppe; über uns zeigte sich eine geschlossene Fallthür. Die Eisenstäbe und Faschinenmesser wurden eingesetzt; drei Mann, auf der oberen Stufe stehend, stemmten den Rücken gegen die Thür, und krachend flog sie auf. Wir befanden uns in dem Hinterstübchen von Jean’s Wohnung; an der Thür lag Désirée, leblos, von Blut überströmt. Sie hatte ihre Liebe büßen müssen. Den Anstrengungen des sofort herbeigerufenen Arztes gelang es, sie wieder zum Bewußtsein zurückzurufen. Der Arzt winkte den Anwesenden zu, und Alle, bis auf den Hauptmann und mich, verließen auf den Fußspitzen das Zimmer, mit mitleidigen Blicken auf das arme Opfer. Ich knieete an ihrem Lager und hielt ihre kalte Rechte in meinen Händen.

„Das wußte ich,“ sprach sie mit schwacher Stimme; „der Onkel hat es mir oft genug gesagt, daß er mich tödten würde, wenn ich sein Geheimniß verriethe. Nun sah er sich entdeckt und hat mir sein Versprechen gehalten. Hab’ ich ihn denn verrathen? Ach, ich war nur Ihnen so gut –“

Sie schwieg erschöpft; ihr Ende schien zu nahen. Ich bedeckte ihre Hand mit Küssen und stammelte zusammenhangslose, sinnlose Worte des Trostes und der Hoffnung.

„Ich sterbe gern,“ flüsterte sie leise, „denn nun weiß ich gewiß, daß Sie mich nicht vergessen werden.“

„Sie ist todt,“ sprach der Arzt, sich über ihr Gesicht beugend.

Wahrlich, ich werde sie nicht vergessen! – –

Am nächsten Morgen wurde Jean Rauger wegen Spionage standrechtlich verurtheilt und auf freiem Felde erschossen. Er war von einer Patrouille ergriffen worden, als er durch die Gärten in die Weinberge von Argenteuil zu entkommen suchte.

v. Sz.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_731.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)