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Seite:Die Gartenlaube (1877) 202.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Ich hatte die Vorliebe des alten, bereits zweimal verheiratheten Herrn für Blanche für väterliches Wohlwollen gehalten, und seine Werbung überraschte mich daher sehr. Sie kam mir wie der Rettungshafen vor, in den ich mein armes umgarntes Vögelchen flüchten und bergen könnte, aber keinen Augenblick habe ich dabei an mich gedacht.

Zum Oberst war ich damals bereits designirt, aber die endgültige Ernennung hing von der Ordnung meiner Verhältnisse, sage ich offen: meiner aufgelaufenen Schulden ab, und General F.’s, meines Vorgesetzten, Meinung sollte dabei den Ausschlag geben. Mein künftiger Schwiegersohn war reich und freigebig, die Ordnung meiner Angelegenheit ihm eine Lappalie. Ich mußte es natürlich geduldig hinnehmen, daß man sich insgeheim zuraunte: ich habe mein Kind verkauft, und nie hätt’ ich’s bereut, wenn nicht –“ Er brach kurz ab, die Wolken auf seiner Stirn verdichteten sich.

„Meine arme Frau,“ sagte er nach einer Weile mit dem warmen Klange der ihm innewohnenden hochherzigen Gesinnung, „meine Frau hat wenig genug von den endlich eingekehrten guten Zeiten genießen können. Sie kränkelte schon seit Jahren. Des Onkels Reichthum hat ihr aber wenigstens den Tod erleichtern helfen. Ich schickte sie nach Monaco. Da ist sie sanft eingeschlafen, und ich stehe nun so gut wie allein.“

„Und Blanche?“ fragte ich.

„Blanche ist die tonangebende Persönlichkeit unserer Stadt. Noblesse oblige, mein Werthester, den Ruf einer Frau des Salons aufrecht zu erhalten im Kampfe mit den Frauen unseres reichen Adels muß ein zeitraubendes Geschäft sein. Die Kleine erfaßt ihre Mission mit einem Eifer, der einer bessern Sache werth wäre; da bleibt ihr wenig Muße für andere Interessen.“ Er hatte das ganz leichthin gesprochen, aber eine gewisse geringschätzige Ironie durchbrach doch seine scherzenden Worte.

Also das ist aus dem reizenden Kinde geworden, dachte ich bedauernd, als eben das Coupé, vor einem altersgrauen schloßartigen Gebäude angekommen, durch das niedrige Portal in den Burghof rollte. Man hätte es von dem leichtherzigen, oberflächlichen Dinge erwarten können. Geistige Bedeutung hatte sie nie ausgezeichnet, sie war aber eine so sonnig-heitere, frische, warmherzige Natur voll anschmiegender Sanftmuth gewesen, daß man ihr den Mangel glänzender Geistesgaben um ihrer strahlenden Heiterkeit und schönen Wärme halber gern nachsah. Ihr Leben mochte leer sein. Sie hatte da wahrscheinlich nach dem Mittel gegriffen, das leider so vielen Frauen der Lebenszweck zu sein scheint. Der eitle äußere Flitter mußte die innere Armuth bedecken helfen. Arme kleine Blanche, ich hätte dir ein besseres Loos gewünscht.

Die innere häusliche Einrichtung in ihrer vornehmen Gediegenheit war dem stilvollen Bau des burgartigen Schlosses angepaßt. Sage ich gleich, daß das Haus des Commandanten hoch auf einem bergigen Plateau lag und sich an der Rückseite des Castells, terrassenförmig abfallend, Lust- und Gemüsegärten anschlossen. Von der Küche aus gelangte man in den Nutzgarten, und von dem Speisesaale aus in die Blumenparterres, die gerade jetzt, Ende Juni, in wundervoller Flora standen.

„Hat sich in Excellenz Befinden etwas verändert?“ fragte mein Begleiter den alten, würdigen Diener in Kniehosen und weißer Halsbinde, den typischen Haushofmeister oder persönlichen Kammerdiener eines großen Hauses mit dem traditionellen, ehrwürdigen bartlosen Faltengesichte und den unhörbaren Tritten.

„Schlechter, Euer Gnaden!“ meinte er besorgt und traurig, während er das Kunststück fertig brachte, die breiten, ausgewölbten Stufen der Steintreppe vor uns hinaufzugleiten, ohne uns ein einziges Mal den Rücken zuzukehren.

„Wollen Sie sich erst restauriren, ehe Sie zu unserem Kranken gehen, lieber Professor?“

Ich sah dem gespannten Blicke des Obersten an, er wünsche, ich solle Nein sagen. Nur die gewohnte Höflichkeit hatte diese Phrase dictirt. Ich sagte natürlich, ich wünsche erst meinen Patienten zu sehen, obschon ich halb todt vor Müdigkeit war, und der Diener zog am linken Flügel der Bel-Etage die schweren Fallthüren auf und ließ uns durch die mit einer Hand zurückgehobene dunkelgrüne Portière in ein hohes, düsteres Gemach treten.

Es war ohne Zweifel das Arbeitszimmer des Commandanten. Zu einer Beurtheilung desselben kam ich in diesem Augenblicke nicht, denn meine ganze Aufmerksamkeit wurde durch eine Frauengestalt abgelenkt, die in nervöser Rastlosigkeit auf dem weichen Moosteppich auf- und abschritt, die rauschende Schleppe nach sich ziehend, und die in ihrer ruhelosen Bewegung erst dann einen Moment inne hielt, als wir dicht hinter ihr standen.

Sie heftete ein paar brennende, unruhige, übernächtige Augen auf uns, bei denen mir damals schon die ungewöhnlich erweiterte Pupille auffiel. Das etwas matte Auge des Kindes hatte dadurch jenen Glanz und jene Tiefe bei der Frau erlangt, welche die Damen der Halbwelt durch Pinsel und was weiß ich sonst künstlich zu erzeugen verstehen.

Die kleine muntere Blanche war eine schöne, elegante, üppige Frau geworden, eine Eva, wie der Maler sie sich als Type nur wünschen konnte, aber die Salondame comme il faut war sie heute nicht. Die Haut, die ihr den Beinamen des Lammes eingetragen, war noch ebenso milchweiß wie damals; ich sah es an dem schwanenzarten Hals, an dem der nachlässig geschlossene Schlafrock von persischer Seide aufgegangen war, an dem mit flüchtiger Hand aufgewundenen Haar, das, kaum um eine goldigere Nuance gedunkelt, in einzelnen welligen Strähnen ihr bis in die Taille hinabrollte, an dem ganzen abgespannten, blassen Gesicht, auf dem Schreck und Angst versteinert zu sein schienen.

Sie war auf mich zugestürzt und hatte heftig nach meinen beiden Händen gefaßt. „Sie retten ihn, nicht wahr, Sie retten ihn? Er darf nicht sterben. Mein Gott, ich ertrag’s nicht,“ brach es gleichsam in wilder Angst aus ihr hervor. Beherrschung hatte Blanche niemals in hohem Grade gekannt; diese Fassungslosigkeit bei des greisen Gatten Krankheit, diese gleichsam verzweifelte Furcht vor einem Ausgang, der in seinen Jahren nichts Erschreckendes haben konnte, rief aber doch das höchste Befremden bei mir hervor.

„Liebt sie ihn so sehr?“ raunte ich dem Vater zu, der ein verlegener Zeuge dieses heftigen Ausbruchs gewesen war, da sie uns nun stillschweigend voraufschritt und leise die Thür des Krankenzimmers öffnete.

Der Oberst zuckte die Achseln.

„Weshalb ist die Frau dann nicht am Krankenbett ihres Mannes?“ war meine nächste bedenkliche Selbstfrage. Ich sollte die Antwort finden, sobald ich selber in dem verdunkelten Raum die Gegenstände zu unterscheiden vermochte.

Aus einem tiefen Lehnstuhl stand eine Frau auf, als ich an das Lager trat. Ein dunkles, herrisches Auge flog mit gebieterischer Mahnung zu der jungen Frau hinüber, und der befehlende Blick bannte sie gleichsam an die Schwelle, ohne daß sie einen Schritt vorwärts zu thun wagte.

Es war ein trauriger Anblick, der meiner wartete, als ich den Vorhang des hohen Himmelbettes zurückschlug.

Eine athmende Leiche ohne Bewußtsein, betäubt, empfindungslos, mit schiefgezogenem Gesicht und gelähmter Zunge lag mit weitoffenen Augen da, aber diese Augen hatten keine Sehkraft, und die Pupillen, erweitert bis zu unnatürlicher Größe und gegen jede Lichtveränderung empfindungslos, starrten mich aus einem fürchterlichen Antlitz an.

Mich überlief es eiskalt, während ich den kleinen zuerst beschleunigten, dann aussetzenden Puls prüfte. Hatten denn all meine hiesigen Collegen keine Augen? Ein Blick, und ich wußte, daß etwas Fürchterliches sich hier über die Schwelle gedrängt – daß ein Verbrechen verübt worden war.

„Sind Sie die Krankenwärterin?“ examinirte ich kurz die große, klösterlich gekleidete Frau, die regungslos wie ein Steinbild mit steinernem Gesichtsausdrucke zu Häupten stehen geblieben war.

„Eine Freiwillige,“ sagte sie lakonisch. „In meiner Jugend Diakonissin – seit zehn Jahren Hausverweserin Seiner Excellenz.“

Stimme und Sprache trugen den Stempel der Verfeinerung und Bildung. Sie mußte nie schön gewesen sein, diese verschlossene Frau mit der frostigen Reservirtheit in Ton und Wesen. Ich legte ihr schnell andere Fragen über den Patienten vor. Ihre Antworten waren knapp, klar, sachgemäß und logisch, wie von Männerlippen. Ihre Stimme hatte männliche Tonfärbung.

„Waren Sie von Anfang an bei dem Kranken gewesen?“

„Leider nicht.“ Es klang haßerfüllte Bitterkeit aus ihren Worten, und ein Blick unversöhnlichen Hasses flog zu der jungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_202.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)