Seite:Die Gartenlaube (1879) 022.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Dann setzte sich der beglückte Vater auf den Rand des Bettes und nahm ihre Hand in die seine, bis tiefere Athemzüge ihm sagten, daß die junge Mutter schlummere. Leise zog er die Vorhänge vor, horchte, im Vorbeigehen an der Wiege und ging dann sachte auf den Zehen aus dem Zimmer; dieses war zum Kleinodienschrein seines Lebens geworden. Wenn das Erdenrund heute einen glücklichen Menschen trug, so war es dieser junge Vater.

Demnach müßte die Frage wohl überflüssig sein, ob Erich von Rechting je wieder an den bewußten Brief gedacht hatte, und überflüssiger noch als die Frage wäre die Antwort. Der Brief war vergessen. Vielleicht wußte Erich gar nicht mehr, ob er ihn noch besaß. Mit dem Gang an den Altar hatte er alle Zweifel und jede unsichere Stimmung abgeworfen. Seinem festen Charakter, seinem goldreinen Herzen wäre es wie ein Vergehen an seiner Frau erschienen, würde er je wieder in Gedanken auf diese Anklageacte, wie diese anonyme Zuschrift ihm nun erschien, zurückgekommen sein, so tief er auch beim Empfange davon berührt und erregt worden war.

„Meine Frau ist schöner denn je,“ sagte sich Erich ein paar Wochen später voll leuchtenden Stolzes; und er hatte Recht. Die Mutterliebe hatte ihre letzte und höchste Verklärung der Schönheit über Doris ausgegossen. Frau von Rechting ging in ihrer äußerlichen körperlichen Erscheinung wenig über das Durchschnittsmaß der deutschen Frau hinaus. Sie besaß einen vollendeten Wuchs, ein Gesichtchen wie von Marmor, der mit rosagefärbtem Wachs getränkt ist; dazu dunkles Haar und dunkle Augen. Letztere lagen in mandelförmigen Hüllen wie versteckt unter den langen dunklen Wimpern. Wenn aber ihr Licht sich aufthat, dann bekamen sie einen eigenthümlichen, halb träumerischen, halb schelmischen Ausdruck. Der Mund mit seinen vollen, frischen Lippen war von seltener Anmuth. Die Bewegungen, die Reden, das Thun der jungen Frau – Alles ging im Dreiachteltact und in Moll. Die ganze Gestalt war wie eingetaucht in geistige Lebendigkeit. Hände, Füße, Ohren, Alles an ihr war klein, groß nur allein der Eindruck, den sie in diesem gestaltgewordenen Wohllaut des Weiblichen auf Alle machte, die ihr nahe kamen.

Am meisten davon berührt schien ein Mann, der erst mehrere Monate dem Gesellschaftskreise angehörte, in welchem das Rechting’sche Ehepaar verkehrte, sagen wir also, wenn man den Hof nicht in Betracht ziehen will, dem ersten, dem besten der Stadt. Sein Name war Lideman. Er wollte diesen englisch ausgesprochen wissen, obwohl man sich unter guten Bekannten zuraunte, daß er ein ganz guter Deutscher aus irgend einer Stadt Mitteldeutschlands sei. Aber er war lange „drüben“, nämlich überm großen Wasser, in Amerika gewesen, dann auch sehr lange in den Ländern der unteren Donau; er sprach das Deutsche mit einem merklich fremdländischen, durchaus nicht affectirten Accente; dabei redete er französisch, englisch und spanisch, als wäre er mit einer Frau jeder dieser Nationalitäten ein Menschenalter lang verheirathet gewesen. Er war Präsident eines großen Bankvereins, der sich namentlich mit dem Bodencreditwesen befaßte. Einige Zeit lang hatte es mit den Actien desselben sehr unsicher gestanden; man fürchtete einen Zusammenbruch, aber da war der Retter in der Person des Genannten erschienen. Durch eine neue, durchgreifende Organisation hatte er dem drohenden Verderben Einhalt gethan und weiter dem Institute zu gesundem, gedeihlichem Leben verholfen. Das wurde ihm in der Stadt hoch gedankt. Denn es war gar nicht abzusehen, wie viel Interessen durch einen Zusammenbruch in Mitleidenschaft gezogen worden wären.

Durch die Rettung des Instituts war auch das Renommée Lideman’s und weiter seine gesellschaftliche Stellung begründet. Bei der Convertirung internationaler Fonds war er mit den Kreisen des auswärtigen Ministeriums in Fühlung gekommen. Seine ersten Geschäfte auf diesem Boden waren mit glücklichem Erfolge gekrönt. Man hatte nie einen so gewiegten, coulanten und formell so vornehmen Geschäftsmann kennen gelernt, und der sich dabei so ganz in seiner Sphäre zu halten wußte, wie Lideman. Er war ein Mann von etwa dreißig Jahren, hoch gewachsen, für seine Figur nicht allzu hager. Seine Gesichtsfärbung zeigte einen leisen Anflug von galligem Colorit. Das Haar, der kleine Schnurrbart über den vollen und schön geformten Lippen glänzten in jenem Schwarz, wie es den Slaven und Romanen eigen zu sein pflegt, sodaß man versucht war, ihn zu fragen, ob er sich dieses für einen Deutschen exotische Aeußere „drüben oder drunten“ angewöhnt habe. Dunkel waren auch seine Augen, und das Weiß derselben hatte einen bläulichen Glanz; dadurch bekam der Blick einen fast düsteren, verschleierten, ja, wenn man will, schläfrigen Ausdruck, der noch durch die hohen, gewölbten Brauen gehoben wurde.

Ausgerüstet mit einem solchen Aeußeren verstand es Lideman, einen besondern Platz auch in der Gesellschaft der Stadt einzunehmen. Mit seinem schnellen Verstande schien er begriffen zu haben, daß er, um Fuß in derselben zu fassen, gerade das vergessen machen müsse, was ihn als einen Racenmenschen bezeichnete. Ein Anderer an seiner Stelle mit weniger Kopf und von gewöhnlichem Zuschnitte würde sich haben verleiten lassen, viel Aufwand vor den Augen der Welt zu entfalten und an allen öffentlichen Orten sich zu zeigen. Er that von alledem, was diese Leute von schlechtem Geschmacke und noch geringerem Tacte zu thun pflegen, gar nichts. Er hatte eine elegante Wohnung; er gab Diners, aber das Alles hielt sich in den Grenzen des wohlanständigen Maßes. Weniger wäre aufgefallen, mehr hätte verletzt. Wer den Mann schärfer beobachtete, dem mußte die feine Grenzlinie Bewunderung einflößen, die er in jedem Verhältnisse zu ziehen wußte, in Kleidung, in Lebensart, in der Unterhaltung, in Allem. Vielleicht hatte er mehr Geist, als er zu zeigen für gut fand, aber er setzte ganz richtig voraus, daß ein Hinaustragen desselben über das Gesellschaftsniveau den Einzelnen in den Augen der Uebrigen, die weniger von dieser seltenen Gabe abbekommen haben, unbequem, ja verdächtig macht. Ebenso folgerichtig die Thatsache erkennend, daß in der Gesellschaft in dem Maße wenig Geist zu finden ist, als viel davon die Rede ist, ging er in seiner Unterhaltung nicht über das Durchschnittsmaß dessen hinaus, was man in der Sprache der Gesellschaft „moderne Bildung“ nennt. Keine Mutter hatte sich je zu beklagen, daß er mit ihrer Tochter in anderen Ausdrücken gesprochen, als solchen, die nach dem Katechismus des Salons gestattet waren; keine junge Frau brauchte im Gespräche mit ihm zu erröthen und mit vorgehaltenem Fächer entrüstet sich an den Arm ihres Mannes zu flüchten. Der Mann war auch nach dieser Seite hin die Ehrenhaftigkeit in Person. Darum waren die Augen gar vieler Mütter wie Dolche nach ihm gezückt, unter deren Spitzen der Junggeselle sterben sollte, um als Ehemann wieder um so vergnügter zum Leben aufzustehen.

Die Bekanntschaft mit Rechting’s hatte er im Hause des Geheimen Legationsraths von Wandelt gemacht. Doris hatte das Frühlingslied von Gounod gesungen und ging dann scherzend mit dem Notenblatt herum, um für eine arme Familie sich eine Gabe zu holen. Lideman war während des Singens eingetreten; Doris hatte ihm den Rücken zugekehrt. Am Ende des Liedes schien er eingeschlafen; Musik übte immer diese Wirkung auf ihn, wie er behauptete. Die hohen gewölbten Lider waren über die Augen niedergesunken – da wurde er von dem bittenden Tone der Stimme Doris’ berührt. Wie von einem Zauberwort getroffen, thaten sich seine Augen weit auf, und ein Strahl und eine Gluth schossen aus den Blicken auf die junge Frau hin, daß diese die ihrigen wie unter dem Sengen eines heißen Sonnenstrahles zu Boden sinken ließ. Von da ab verkehrte Lideman im Hause des Assessors.

Der Präsident, wie Lideman als Leiter des Bankvereins genannt wurde, kam zuerst bei den größeren Theeabenden in das Rechting’sche Haus, dann manchmal des Abends unter dem Vorwande, daß man nirgends in der Stadt mehr so anregenden geistigen Verkehr finden könne, als in dem Hause der jungen Eheleute. Lideman war ein geselliges Element; er hatte viel erlebt, viel gesehen, wußte angenehm zu erzählen und besaß in hohem Grade jene Schärfe und Reife des Urtheils, die sich aus reichen Lebenserfahrungen abstrahirt und gemeiniglich für Geist genommen wird, auch neben wahrhaftem Geistesreichthum sich siegreich zu behaupten weiß. Wie er, wie schon bemerkt, in richtigem natürlichem Tacte Alles vermied, was hätte auffallen können, so zeigte er sich in seinen Absichten auf das Haus des Assessors durchaus nicht aufdringlich. Dadurch gerade war es ihm gelungen, in der Familie seinen abendlichen Fauteuil zu erobern. Wenn um neun Uhr Doris den Thee bereitete und Lideman noch nicht auf seinem Platze saß, dann richteten sich unwillkürlich ihre Blicke durch’s Fenster auf die Straße, ob sein kleiner Wagen mit dem Harttraber sich noch nicht am Ende derselben zeigte. Die Spirituslampe wurde auch dann erst angesteckt,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_022.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)