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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

No. 28. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


20.

Lucile hatte sich nach der stürmischen Scene wie ein trotziges Kind in ihre Zimmer eingeschlossen und war auch nicht zum Thee im Salon erschienen. Die Kammerjungfer hatte eine Platte voll Erfrischungen aus der Küche holen und ihrer Herrin für den Rest des Abends Gesellschaft leisten müssen – auch sie war nicht wieder zum Vorschein gekommen. So hatte die kleine Frau nicht erfahren, daß der Hausarzt auf Baron Schilling’s Wunsch noch spät am Abend dagewesen war, um José ein beruhigendes Mittel zu verschreiben, weil sich die fieberhafte Aufregung des Knaben eher steigerte, als verminderte.

Donna Mercedes hatte sein kleines Bett in ihr Schlafzimmer tragen lassen, um ihn selbst zu überwachen. Er war auch unter der Wirkung der Medicin eingeschlafen, zur Beruhigung Aller. Aber nun, gegen Mitternacht, wachte er plötzlich auf. Er glühte, als schlügen Flammen aus dem Bettzeug über ihn hin, und sein heftig schmerzender Kopf lag schwer wie Blei auf dem Kissen. Mühsam hob er die Lider und sah sich fremd um – er hatte ja noch nie hier geschlafen.

Dort an der gegenüberliegenden Wand stand Tante Mercedes’ Bett; sie lag unausgekleidet auf der weißatlassenen Steppdecke und schlummerte. Das ganze Zimmer schwamm in einem sanften Rosaschein, den die Glasampel an der Decke verbreitete. Er färbte die weiße Spitzenwolke, die vom Betthimmel herab das Lager der schlafenden Frau umfloß; er weckte ein feines Sprühen aus dem steinfunkelnden Geräth des Toilettentisches, glitt durch die offene Thür schräg über das blanke Parquet des anstoßenden großen, unbeleuchteten Salons und ließ drüben den breiten Pfeilerspiegel zwischen den Fenstern wie einen bleichen Silberstreifen aus der Dunkelheit dämmern.

Auch die Pflanzengruppe, die, hart neben diesem Spiegel, in dem Fensterbogen Tante Mercedes’ Schreibtisch flankirte, reckte ihre langen Wedel und Schwertblätter in das blaßrothe Licht hinein – dem fieberumflorten Blicke des kranken Kindes erschienen sie wie riesige, krallenhaft gekrümmte Finger, die zusehends wuchsen, um nach dem Bette herüber zu greifen.

Der Knabe schloß die Augen vor Furcht – in der entsetzlichen Dachkammer war ja auch Alles lebendig geworden, was er angesehen. Und jetzt knisterte es auch drüben in der stillen, dunklen Fensterecke, als werde im Vorüberstreifen ein bewegliches Stück Papier berührt – war das die große Maus wieder?

Er hob den Kopf vom Kissen und starrte auf den Fußboden jenseits der Thür, über den das gefürchtete Thier hinlaufen mußte – da trat ein langer, hellbekleideter Menschenfuß auf einen der Parquetwürfel, die der rothe Lichtfleck spiegelnd hervorhob – dieser Fuß ging lautlos auf den Zehen. …

Instinctmäßig sah das Kind empor und suchte den Kopf des Menschen, der da aus der Fensterecke kam – und es sah in ein bärtiges, ihm flüchtig zugewendetes Gesicht auf schattenhafter Männergestalt; es sah den kurzgeschnittenen, starren Haarschopf, der hartlinig tief in die Stirn ging, und drunter die herabhängenden, buschigen Brauen, unter denen so grimme Augen funkelten – und entsetzt fuhr der Kleine mit dem Kopfe unter die Bettdecke, jeden Augenblick fürchtend, die große, braune Hand des Mannes falle auf ihn nieder, um ihn zu züchtigen.

Er wagte nicht zu schreien, nur ein angstvolles Stöhnen rang sich aus der kleinen schwerathmenden Brust. Aber schon bei den ersten Lauten fuhr Mercedes aus ihrem leichten Schlummer empor und eilte an das Bett des Kindes. Sie zog ihm die Decke vom Gesicht und erschrak heftig über die brennenden Händchen, die krampfhaft fest ihre Finger umklammerten, über den verstörten Blick, mit welchem der Knabe ihr zuflüsterte: „Lasse den schrecklichen Mann nicht herein, Tante – Du weißt, er will mich schlagen. – Klingle schnell! Jack soll kommen und Pirat auch.“

„Kind, Du hast geträumt,“ sagte sie bebend – wie ein Feuerstrom ging die Fiebergluth von dem kleinen Körper aus – und jetzt schnellte der Knabe empor; er stieß sie von sich. „Jack, Pirat!“ schrie er mit gellender Stimme.

Donna Mercedes riß an der Klingel. Die schwarzen Diener erschienen voll Bestürzung, und bald darauf stand der herbeigerufene Arzt mit bedenklichem Gesicht am Bette des Kindes, das im vollsten Delirium fort und fort nach Hülfe rief, um den „schrecklichen Mann“ fortzujagen.

Damit begann eine furchtbare Zeit. …

Der Tod stand lange am Bette des kleinen José und drohte, das Geschlecht der Lucians in seinem letzten Sproßen für immer auszulöschen. Oft schien es, als recke er seinen Arm bereits hinüber bis an das junge, wildschlagende Herz; dann lag das Kind in lethargischem Zustande, und tiefe Schattenzüge verwischten bis zur Unkenntlichkeit das frühere Gepräge des schönen, blondlockigen Köpfchens. Die Aerzte boten Alles auf, den Knaben dem Leben zu erhalten, und es war seltsam zu sehen, wie sie einstimmig und instinctmäßig sich gerirten, als gelte es, ihn einzig und allein zu retten für die junge Frau mit dem südlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_465.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)