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Seite:Die Gartenlaube (1883) 398.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

3.

Die Hochfluth des Gefühls war im Verebben.

Seit gestern beschäftigte sich der Assessor wieder mit den Pandekten. Er wollte versuchen, wie es sich arbeite, wenn Marie mäuschenstille neben ihm saß, eine Handarbeit in den Händen.

„Hier ist mein Platz – wer will ihn mir rauben?“ hatte sie gesagt. „Wozu hat man denn einen Mann?“

Es dauerte zwar ein Weilchen, ehe er sich daran gewöhnte, sie ohne Gefahr für seine Aufmerksamkeit neben sich zu sehen. Aber man gewöhnt sich zuletzt an Alles und nicht am schwersten an das Gute!

Es fehlte ihm indessen ein Band des justinianischen Rechts, und – wie gewöhnlich – just der, dessen er eben bedurfte. Darum nahm er Hut und Stock, um ihn sich aus der Bibliothek zu holen. Zum ersten Male blieb die junge Frau längere Zeit allein.

Sie putzte und rieb wieder die spiegelblanken Möbel und schürte das Feuer im Kamin, damit er es bei seiner Rückkehr behaglich finde. Da – in das Prickeln und Knistern der wieder auflebenden Flamme, tönte plötzlich von draußen ein Glockenruf.

Die junge Frau erschrak heftig.

Wer mochte es sein? Gustav konnte unmöglich schon zurückkommen, auch trug er einen Schlüssel bei sich, mit dem er selbst die Vorzimmerthür öffnete. Und der schnurrbärtige Hausgeist war gründlich instruirt, nur leise zu klopfen. Er war nicht umsonst lange Jahre Studentenfactotum gewesen, und wußte auf allerlei verfängliche und unverfängliche Dinge mit bewundernswerther Schlauheit und Geistesgewandtheit einzugehen. Besuch aber war bis jetzt nicht gekommen, da Jedermann das Paar auf der Hochzeitsreise wußte.

Und so hatte selbst der Vicewirth, unten in der Hinterstube der Parterrewohnung, keine Ahnung von der freiwilligen Gefangenschaft des liebenden Paares oben im ersten Stock, obgleich er gelegentlich und „von Amtswegen“ wie ein richtiger unverfälschter Hauswirth allenthalben umherzustöbern pflegte. Er war zwar dem Stiefelputzer bei solcher Gelegenheit ein paarmal auf der Treppe begegnet, hatte aber angenommen, daß derselbe nur gekommen sei, um das Lüften der Zimmer zu vollziehen, zu welchem er vermuthlich Auftrag erhalten hatte.

Da – wieder tönte die Glocke, diesmal etwas ungeduldig. Marie nahm all ihren Muth zusammen und ging, um draußen nachzusehen.

Zu ihrer Ueberraschung sah sie durch die Glasfenster der Entréethür draußen auf dem Treppenflur eine junge Dame stehen, und hinter ihr einen mit Gepäck schwer beladenen Dienstmann. Sie öffnete langsam und etwas verblüfft, und hieß das junge Mädchen mehr mit den Augen als mit Worten eintreten. Diese schien eine directe Aufforderung auch kaum zu erwarten, sondern frug kurz und bestimmt:

„Ist Onkel Gustav, Herr Assessor Kerner, zu Hause?“

Marie betrachtete ihren Gast noch immer verwundert von Kopf bis zu Fuß, und hatte dabei die Frage überhört. Die Kleine schien indessen mit dem Zünglein gut zu Fuß zu sein und wiederholte dieselbe schnell, indem sie gleich Weisung gab, das Gepäck im Vorzimmer niederzulegen.

Die junge Frau wurde dafür immer verlegener. Den Fall, daß sie Jemand Auskunft geben müsse über ihren beiderseitigen Verbleib, hatte sie noch gar nicht in Betracht gezogen.

„Ja – nein – er ist eigentlich verreist!“ stotterte sie endlich. „Auf der Hochzeitsreise!“

„Er ist – verreist?“ frug das junge Mädchen hocherschrocken zurück.

Und dabei war das Lachen, was der eigentliche Charakter ihrer Züge zu sein schien, schnell genug aus dem jungen Antlitz verschwunden.

„Ja, verreist – schon seit zwei Wochen.“

„Du lieber Gott, was soll ich denn nun anfangen?“

Der Ton klang klagend und anklagend zugleich. Ja, jetzt tropften sogar zwei Thränen die Wangen herab, die theils wirkliche Sorge, theils anspruchsvoller Eigensinn den Kinderaugen auszupressen schienen. Lachen und Weinen schien dem jungen Gaste gleich lose zu sitzen. Dennoch frug sie dreist weiter:

„Er kehrt aber bald zurück?“

Marie war in neuer Verlegenheit, was sie antworten sollte. Aber – welche Veranlassung hatte sie denn überhaupt, einer in’s Haus Geschneiten Rede zu stehen? Wo hinaus sollte denn das Ding? … Es kam über sie wie Unmuth.

„Ich muß zu ihm, ach Gott, er ist ja mein einziger Schutz! Ich habe Niemand als ihn!“ brach jetzt das junge Mädchen in wirkliche Klage aus.

Plötzlich schien Marie ein Licht aufzugehen. Hatte nicht die Kleine vom „Onkel Gustav“ gesprochen?

„Sie sind?“ frug sie.

„Käte Melzer.“

Die Sache war nun aufgeklärt, wenigstens theilweise. Das junge Mädchen war wirklich die Nichte und Mündel des Assessors, und zwar die hinterlassene Tochter seiner vor zwei Jahren verstorbenen verwittweten Schwester. Der Gatte hatte ihr oft von seinem hübschen Pflegling erzählt und wie er denselben einem renommirten großen Pensionat anvertraut habe.

Herzlich, fast mütterlich, streckte darum die junge Frau dem Gast jetzt die beiden Hände entgegen und zog ihn aus dem dämmerigen Vorzimmer an das milde, aber volle Licht des behaglichen Wohnzimmers.

„Seien Sie uns herzlich willkommen, liebe Käte,“ sprach sie mit Freundlichkeit, „doch ums Himmels willen – wie kommen Sie, wie kommst Du hierher?“

Das junge Mädchen hatte die Augen getrocknet und sah sich neugierig und fast ein wenig mißtrauisch um, bis ihr prüfendes Auge an einer halbverblichenen Photographie ihrer verstorbenen Mutter hängen blieb. … Sie war also wirklich an Ort und Stelle. Aber der Onkel war verreist. Und doch mußte sie zu ihm, dem einzigen Verwandten, um ihm ihr Herz auszuschütten. Wer mochte die junge Dame sein, die sie jetzt so freundlich empfing? Wahrhaftig – ungefähr ebenso hatte sie sich die neue Tante vorgestellt. … Aber das war ja unmöglich – sie waren ja Beide auf der Hochzeitsreise.

„Wann kehrt der – Onkel zurück?“ frug sie von Neuem, indem Besorgniß und Kummer abermals die Oberhand zu gewinnen schienen.

Marie war inzwischen zu raschem Entschluß gekommen. Sei der Zusammenhang wie er wolle: sie mußte ihre neue Verwandte unter allen Umständen jetzt bei sich behalten und Schwester- oder vielmehr Mutterstelle an ihr vertreten. Das Incognito ihres Aufenthaltes mußte ihr gegenüber fallen.

„Der Onkel ist ausgegangen und wird bald zurückkommen – ich bin die neue Tante – wir kennen uns schon par renommée.“

„Also doch!“

„Aber vor allen Dingen, wie kommst Du hierher?“

„Ach, das ist eine schreckliche Geschichte!“ rang es sich schwer aus der jungen Brust.

„Schreckliche Geschichte? Wieso?“

„Ach, ich kann’s nicht sagen – es ist unmöglich.“

In der jungen Frau stieg unwillkürlich ein neues Mißtrauen empor. Aber es schwand gar bald wieder vor der Unschuld und Treuherzigkeit, mit welcher Käte sie aus großen Kinderaugen anblickte. Dennoch – irgend ein kleines, pikantes Abenteuer war immerhin sehr wohl möglich. … Wenn sie auch selbst niemals in einem Pensionat gewesen war, so wußte sie doch durch ihre Freundinnen von allerlei allerliebsten kleinen Geschichten, die sich dicht unter den Augen selbst ganz gewissenhafter Lehrer dort zuzutragen pflegen.

„Irgend Jemand – ein Mann, vielleicht Dein Musiklehrer – hat Dir eine Liebeserklärung gemacht?“ sondirte sie deshalb.

„O nein, nein – wenn’s weiter nichts wäre!“

„So rede doch! Es wird so schlimm nicht sein!“

„Ach nein, ich kann’s nicht sagen. Es ist zu schlimm!“

Marie war mit ihrem Latein zu Ende und sprachlos. Da, zu guter Stunde, trat Gustav zurückkehrend ein, leise und vorsichtig, um nicht gehört zu werden.

Seine Ueberraschung über den unerwarteten Gast war durchaus nicht geringer, als die seiner Frau. Als stellvertretender Untersuchungsrichter verstand er das Inquiriren aber schon besser.

„Du bist ausgekniffen, Käte!“ sagte er mit aufgelegter Amtsmiene.

„Ja, nein – ausgekniffen nicht, aber davon gelaufen –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_398.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2024)