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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

beizubringen, weil vermuthlich keine Schule in der Nähe ist. – Zeig’ doch einmal her!“

Damit griff er ohne Umstände nach den Heften und schlug eines derselben auf, hätte es aber vor Ueberraschung beinahe fallen lassen.

„Was? Lateinisch? Wie kommst Du denn dazu?“

Michael begriff die Verwunderung nicht, ihm kam es ganz selbstverständlich vor, daß er Latein verstand, und ruhig entgegnete er:

„Das sind meine Arbeiten.“

Der Professor sah den Jüngling, den er seiner Kleidung nach für einen Bauernburschen gehalten hatte, von oben bis unten an, dann fing er an in dem Hefte zu blättern, las einzelne Seiten und schüttelte den Kopf.

„Du scheinst ja ein vortrefflicher Lateiner zu sein, Wo bist Du denn eigentlich her?“

„Aus der Försterei, eine Stunde von hier.“

„Und wie heißest Du?“

„Michael.“

„Da führst Du ja denselben Namen wie der Wallfahrtsort. Bist wohl nach ihm genannt?“

„Ich weiß nicht – ich glaube nach dem Erzengel Michael.“

Er sprach den Namen mit einer gewissen Feierlichkeit aus, und Wehlau, der das bemerkte, fragte mit einem sarkastischen Lächeln:

„Du hast wohl großen Respekt vor den Engeln?“

Michael warf den Kopf zurück.

„Nein, die beten und lobsingen nur die ganze Ewigkeit hindurch, und das mag ich nicht, aber Sankt Michael, den mag ich. Der thut doch wenigstens etwas – er stößt den Satan nieder!“

Es mußte in den Worten oder in dem Ausdruck wohl etwas Ungewöhnliches liegen, denn der Professor stutzte und heftete seine scharfen Augen fest auf das Gesicht des Jünglings, der dicht vor ihm stand, hell überfluthet von dem Sonnenschein, der durch das niedrige Fenster hereindrang.

„Merkwürdig!“ murmelte er wieder. „Das ist ja auf einmal ein ganz anderes Gesicht! Was liegt nur in diesen Zügen?“

In diesem Augenblicke trat Valentin wieder ein, und als er das Heft in der Hand seines Bruders sah, fragte er:

„Hast Du Michael examinirt? Nicht wahr, er ist ein guter Lateiner?“

„Gewiß, aber was soll er mit seinem Latein auf einer einsamen Bergförsterei anfangen? Der Vater hat wohl nicht die Mittel, ihn auf eine Schule zu schicken?"

„Nein, aber ich hoffe, auf anderem Wege etwas für ihn zu erreichen,“ sagte der Pfarrer und fuhr dann, während Michael an den Wandschrank ging, leise fort. „Wenn der Arme nur nicht so häßlich und so unbeholfen wäre! Es hängt Alles von dem Eindrucke ab, den er an einem gewissen Orte macht, und ich fürchte, der wird sehr ungünstig sein.“

„Häßlich nun ja, das ist er allerdings, und doch, als er vorhin eine übrigens ganz gescheite Aeußerung that, brach plötzlich blitzähnlich etwas hervor, das mich unwillkürlich erinnerte an jetzt habe ich’s – an den Grafen Steinrück.“

„An den Grafen Steinrück?“ wiederholte Valentin auf das Aeußerste betroffen.

„Ich meine nicht den Verstorbenen, sondern seinen Vetter, das Haupt der älteren Linie. Er war in Berkheim anwesend, und dort lernte ich ihn kennen. Er würde eine solche Idee übrigens als Injurie betrachten, und da hätte er im Grunde Recht. Der schöne, imposante Steinrück und der Hans Träumer da! Auch nicht einen Zug haben sie mit einander gemein – ich weiß nicht, woher mir auf einmal der unsinnige Gedanke kam, als ich das Aufflammen dieser Augen sah.“

Der Pfarrer schwieg zu dieser Aeußerung, er sagte nur ablenkend:

„Ja, ein Träumer ist Michael allerdings. Er kommt mir in seiner Gleichgültigkeit und Theilnahmlosigkeit oft wie ein Nachtwandler vor.“

„Nun das wäre noch nicht das Schlimmste,“ meinte Wehlau. „Nachtwandler kann man wecken, wenn man sie bei dem rechten Namen ruft, und wenn der da einmal aufwacht, kommt vielleicht etwas ganz Erträgliches zum Vorschein. Seine Arbeiten sind gar nicht so übel.“

„Und doch ist ihm das Lernen schwer genug gemacht worden! Wie oft hat er sich durch Sturm und Unwetter kämpfen müssen, um den Unterricht nicht zu versäumen, und er hat es stets unverdrossen gethan.“

„Das wäre so etwas für meinen Hans gewesen,“ sagte Wehlau trocken. „Der zeichnet in den Schulstunden Karikaturen von seinen Lehrern, ich habe schon ein paarmal ernstlich dazwischen fahren müssen. Der Bube wird zu übermüthig, weil er so eine Art Glückspilz ist. Was er anfängt, gelingt ihm, wo er anklopft, findet er offene Thüren und Herzen, und darum bildet er sich ein, man brauche überhaupt nichts mit Ernst anzugreifen, und das Leben sei nur ein einziges Vergnügen von Anfang bis zu Ende. Nun, ich werde ihm schon eine andere Meinung beibringen, wenn es erst an das Studium der Naturwissenschaften geht.“

„Hat er denn Neigung zu diesem Studium?“

„Gott bewahre! Er hat höchstens Neigung zum Kritzeln und Pinseln, und wenn er eine bemalte Leinwand wittert, ist er nicht zu halten, aber ich werde ihm die Narrenspossen austreiben.“

„Wenn er aber Talent hat –“ warf der Pfarrer ein, doch der Bruder unterbrach ihn heftig.

„Das ist ja eben das Unglück, daß er Talent hat! Da setzen ihm seine Zeichenlehrer allerhand Dummheiten in den Kopf, und neulich rückt mir ein Freund unseres Hauses, ein Maler, in förmlich tragischer Weise auf den Leib. Ob ich es denn verantworten könnte, der Welt ein solches Talent zu entziehen? Ich konnte mir nicht helfen, ich bin grob geworden.“

Valentin schüttelte halb mißbilligend den Kopf.

„Aber weßhalb läßt Du Deinen Sohn nicht seiner Neigung folgen?“

„Das fragst Du noch? Weil ich meine geistige Erbschaft keinem Anderen gönne, als ihm. Mein Name hat einen Klang in der Wissenschaft, und der soll dem Hans Thür und Thor öffnen im Leben. Tritt er in meine Fußtapfen, so ist ihm der Erfolg gesichert, er ist eben der Sohn seines Vaters. Aber Gnade ihm Gott, wenn er sich einfallen läßt, ein sogenanntes Genie zu werden!“

Michael hatte inzwischen seine Bücher fortgepackt und kam jetzt herbei, um sich zu verabschieden; da der Unterricht heute ausfiel, hatte er keine Veranlassung, länger im Pfarrhause zu verweilen. Sein Gesicht zeigte wieder ganz den leeren, träumenden Ausdruck, der ihm sonst eigen war, und als er ging, sagte Wehlau halblaut zu seinem Bruder:

„Du hast Recht, er ist gar zu häßlich – der arme Teufel!“




Die Grafen von Steinrück waren ein altes, einst sehr mächtiges Adelsgeschlecht, das seinen Stammbaum weit in die Jahrhunderte zurückführte. Die beiden Zweige des Hauses rühmten sich allerdings einer gemeinsamen Abstammung, waren aber jetzt nur weitläufig verwandt, und es hatte Zeiten gegeben, wo sie gar nicht mit einander verkehrten, stand doch schon die Verschiedenheit der Konfession trennend zwischen ihnen.

Die ältere, protestantische Linie, die in Norddeutschland heimisch war, besaß nur ein Majorat, das ein ziemlich mäßiges Einkommen gewährte, die süddeutschen Vettern dagegen waren Herren eines sehr bedeutenden Grundbesitzes, ausschließlich Allodialgüter, und gehörten zu den Reichsten des Landes. Dieser Reichthum lag gegenwärtig in der Hand eines achtjährigen Kindes, das Töchterchen des eben verstorbenen Grafen war die einzige Erbin desselben. Der schon hoffnungslos Erkrankte hatte seinen Vetter zu sich rufen lassen und ihn zum Testamentsvollstrecker und Vormund seines Kindes ernannt. Damit wurde zugleich eine Entfremdung abgeglichen, die seit Jahren zwischen den beiden Familien bestand und ihren Grund in einem erst geknüpften und dann jäh zerrissenen Bande hatte.

Graf Steinrück hatte außer seinem Sohne noch eine Tochter besessen, ein schönes, reichbegabtes Mädchen, den Liebling des Vaters, dem sie an Charakter sehr ähnlich war. Sie sollte sich dereinst mit ihrem Verwandten, dem jetzt Dahingeschiedenen vermählen, das war längst in der Familie beschlossen, und die junge Gräfin war in Folge dessen oft wochenlang im Hause ihrer künftigen Schwiegereltern.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_427.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)