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Seite:Die Gartenlaube (1886) 639.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Faktums ihrer Anwesenheit. Habe ich damit einen Fehler begangen – bitte, bitte, sagen Sie mir, daß es nicht der Fall gewesen ist!“

„Es mußte ja doch einmal gesagt werden.“

„Gewiß. Und was beschließen Sie?“

Ich fand keine Zeit mehr zu einer Antwort. In der Gesellschaft war eine Bewegung entstanden. Man drängte massenhaft in das Gemach, in welchem wir uns befanden, um ein daran stoßendes für bereits gedeckte Tafeln frei zu machen, die von den Dienern von irgendwoher hereingetragen wurden. Zwischen Renten und mich hatte sich ein dichter, scheinbar unentwirrbarer Knäuel von Damen, die ihre Schleppen aufzuraffen suchten, und Herren, die bis über die Kniee in dem wogenden Sammet- und Seidenmeer versunken wären, zusammengeballt. Ich kämpfte mich Zoll um Zoll weiter nach der Thür, entschlossen zu gehen, ohne Ulrich’s Rückkehr abzuwarten, als derselbe in dem Gedränge auftauchte, suchende Blicke umhersendend und, als er mich nun entdeckt hatte, mit Hand und Augen winkend. Dann erst gewahrte ich, daß er Ellinor am Arm führte.

In der nächsten Minute waren wir uns begegnet, und Ellinor hatte, den Vetter loslassend, die Hand in meinen Arm gelegt.

„Such’ Du nur die Anderen!“ rief sie. „In dem rothen Zimmer, weißt Du! Der Tisch ist reservirt.“

Ulrich war davongeeilt. Ellinor, ihre Schleppe mit der anderen Hand aufnehmend, lehnte sich fester auf meinen Arm und sagte: „Ich bin die Dame, die ich Ihnen zugedacht habe. Ich wußte, daß Sie sich in der fremden Gesellschaft nicht engagiren würden. Es ist Ihnen doch recht?“

Sie hatte die Augen niedergeschlagen – selbstverständlich. Wie mochte sie auch mir in die Augen sehen bei der frivolen Komödie, die sie da mit mir spielte? Ein Sklave mehr vor ihrem Triumphwagen! – was sonst?

„Sie sind sehr gütig,“ sagte ich, „aber –“

Ich kam nicht weiter. Astolf drängte sich fast gewaltsam durch die Menge und trat jetzt rasch vor uns hin, so daß auch wir stehen bleiben mußten. Ein unwilliger Blick aus seinen schönen Augen streifte mich, als er, zu Ellinor gewandt, hastig sagte: „Aber ich suche Dich in allen Zimmern! Es ist die höchste Zeit!“

Und er machte mit einer halben Verbeugung zu mir eine Bewegung in der Erwartung, daß Ellinor meinen Arm mit dem seinen vertauschen werde.

„Du sollst Elise Blumenhagen führen,“ erwiderte Ellinor, deren Hand jetzt schwer auf meinem Arm lag; „hat Ulrich Dir das nicht gesagt?“

„Kein Wort.“

„So hätte er Dir es sagen müssen.“

„Aber –“

„Bitte, kein Aber! Störe mir nicht meine Arrangements!

Wir kommen übrigens an denselben Tisch.“

Sie hatten beide im schnellsten Tempo gesprochen. Ich konnte Ellinor’s Augen nicht sehen, Wohl aber die seinen, und wenn in den ihren derselbe Ausdruck lag, so war es beim Himmel kein Blick der Liebe, welchen sie da miteinander wechselten. Der Vorsatz, mit dem ich hierher gekommen, war im Laufe des Abends schon zu sehr erschüttert, als daß ich hätte einschreiten können, wie ich es folgerichtig hätte thun müssen. Und schon war es zu spät dazu. Der junge Officier hatte sich verbeugt, auf den Hacken umgewandt und drängte wieder durch die Menge – von uns fort.

„Also,“ sagte Elliuor, „der Weg ist frei.“

Ich blickte jetzt in ihr Gesicht, das sie zu mir erhoben hatte. Es war sehr blaß, und um die Lippen zuckte ein nervöses Lächeln, aber die braunen Märchenaugen schimmerten in einem Licht, das mir die Besinnung zu rauben schien. Ich meinte, sie so schön nie gesehen zu haben. Und wenn wir in den alten Komödientagen uns auch manchmal hatten berühren müssen, sie hatte nie an meinem Arm gehangen wie jetzt; nie hatte ich ihre süße Nähe so zaubermächtig empfinden dürfen. Ach, und es war ja doch wieder Komödie! Daran klammerte ich mich als an meine letzte Rettung.

„Warum haben Sie Ihren Verlobten weggeschickt?“ murmelte ich, während wir mit kleinen Schritten weitergingen.

„Wer sagt, daß er mein Verlobter ist?“

„Alle Welt.“

„Dann – lügt alle Welt.“

„Gnädiges Fräulein –“

„Ich bin für Sie kein gnädiges Fräulein. Sie sind mein Verwandter so gut wie er.“

„Ah!“

Ich vermochte nichts weiter hervorzubringen, als den Schreckensruf, einem Menschen gleich, der durch den Damm, welcher seine Felder bewahren sollte, die Fluth hereinbrechen sieht.

„Sie haben Ihre Maske fest genug gehalten – aus Haß gegen uns, gegen mich – ich weiß es. Es hilft Ihnen nichts mehr – mir gegenüber nicht. Den Triumph, Ihnen das zu sagen, mußte ich haben.“

Es war eine übermüthige, schier wilde Lustigkeit, mit welcher sie das sagte, während mich ein tiefes Weh jäh überfiel – hier am Rande einer sonnigen Welt, in welche mich die Lichtgestalt hinüberlocken zu wollen schien, und die mein Fuß doch nie betreten durfte. Schon einmal hatte ich an solcher Stelle gestanden und die Kraft zum Entsagen gefunden; nur daß diese Prüfung so viel grausamer war als jene.

Das Alles schoß mir mit Blitzesschnelle durch Kopf und Herz. Es konnten nicht mehr als ein paar Sekunden vergangen sein, bevor ich antwortete:

„Ich fürchte, Sie werden Ihres Triumphes wenig froh werden. Nachdem Sie dies wissen, ist es das letzte Mal, daß ich das schmerzliche Glück habe, in Ihrer Nähe weilen zu dürfen.“

„Also doch ein Glück?“ sagte sie hastig mit zitternder Stimme.

„Wenn auch das zu Ihrem Triumph gehört: ja, ein Glück! ein unergründlich – grenzenloses! Und nun, ich flehe Sie an: haben Sie Mitleid mit mir, wenn ich auch keines mit meinem Stolze gehabt habe. Ersparen Sie mir die weitere Qual – ich ertrüge sie nicht.“

Ich versuchte meinen Arm frei zu machen und bemerkte plötzlich, daß wir allein waren in einem Korridor, oder was es sein mochte, – eine Seitenverbindung vielleicht neben den Gesellschaftsräumen – durch welche Ellinor mich geführt hatte, um, wie ich annahm, so schneller das Buffetzimmer zu erreichen. Auch war eben ein Diener mit einem großen Brette voll Teller und Gläser an uns vornbergeeilt mit einem: „entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein!“ und das hatte mich erst um mich blicken und den Wechsel der Umgebung bemerken lassen. Es war im Vergleich zu der Helligkeit, aus der wir gekommen waren, nur eine Dämmerung in dem langgestreckten Raume; und in der Dämmerung sah ich sie – jetzt wahrhaft als Lichtgestalt in ihrem weißen Seidenkleide; – und dann nicht mehr sie – nur die dunklen leuchtenden Märchenaugen.

Sie hatte meinen Arm freigegeben, aber ich fühlte ihre Hände auf den meinen, – federleicht, während es doch von ihnen wie ein elektrischer Schlag durch meinen ganzen Körper bebte, – und die leuchtenden Augen waren jetzt dicht vor mir, und eine Stimme – eine melodische, tiefe, die ich nie gehört zu haben glaubte, sagte: „Auch dann nicht, wenn Du die Qual theilst mit mir – die süße Qual des Geheimnisses, daß ich Dich liebe, wie Du mich – unergründlich – grenzenlos?“

Hatte ich sie umfangen? sie mich? – ich weiß es nicht. War das ein Kuß? war es ein Himmelstraum? – ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, daß wir dann wieder einander an den bebenden Händen hielten, als ob wir nie von einander lassen wollten und könnten, und sich die Hände doch wieder blitzschnell lösten und wir zwei Schritte von einander standen, als jetzt ein eilender Schritt den Korridor heraufkam.

Es war der Diener von vorhin, diesmal anstatt des Geschirrs einen Brief in den Händen, den er Ellinor reichte:

„Verzeihung, gnädiges Fräulein! Dies wird soeben abgegeben – ein Diener, Hôteldiener, sagt er. Für einen Herrn, der in der Gesellschaft sein soll. Es sei sehr dringend.“

Ellinor hatte den Brief genommen. Der Diener schraubte die eine Gasflamme hoch, die in unsrer Nähe an der Wand gedämmert hatte.

„Für Sie!“ sagte sie, mir den Brief reichend, dessen Kouvert ich aus einander riß. Die Buchstaben flirrten mir vor den Augen. Dann hatte ich das Schreiben doch gelesen:

„Eine Bettlerin harrt Deiner unten. Du wirst sie nicht vergebens harren lassen. Sie nennt sich Deine Mutter.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_639.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2018)