Seite:Die Gartenlaube (1886) 879.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Unbegreiflich! Dahinter verbirgt sich noch irgend etwas Anderes – ich wollte, ich hätte früher gesprochen!“

Im Steinrück’schen Hause traf man gleichfalls die Vorbereitungen zu der Abreise. Der General wollte noch am heutigen Abende zu seinem Korps abgehen, während der junge Graf einstweilen zurückblieb. Er hatte gestern in der That die Ordre erhalten, sich in wenigen Tagen bei der militärischen Behörde zu melden. Der Großvater hatte jetzt wie immer Raoul gegenüber seinen Willen durchgesetzt.

Steinrück war in den letzten Tagen so unaufhörlich in Anspruch genommen, daß er seinen Enkel kaum gesehen hatte. Gestern Abend hatte er noch einer Berathung beigewohnt, die noch einmal vor dem Aufbruch die Führer der Armee versammelte und sich bis tief in die Nacht hinein ausdehnte. Er war erst gegen Morgen nach Hause gekommen, und als er nach wenigen Stunden des Schlafes sein Arbeitszimmer wieder betrat, erwarteten ihn dort schon Ordonanzen und Depeschen, die abgefertigt und erledigt sein wollten, und so ging es den ganzen Vormittag hindurch. Eins löste das Andere ab; dazwischen mußten noch die Anordnungen für die Abreise getroffen werden; es gehörte in der That die eiserne Natur des alten Grafen dazu, um das auszuhalten.

So war es Mittag geworden, als Hauptmann Rodenberg erschien. Er war schon gestern in einer dienstlichen Angelegenheit hier gewesen, die aber nur wenige Minuten in Anspruch nahm und überdies in Gegenwart eines anderen hohen Officiers erledigt wurde. Da war die Begegnung selbstverständlich eine durchaus fremde gewesen. Auch heute stand Michael in streng dienstlicher Haltung vor dem General, aber statt der Meldung, welche dieser erwartete, sagte er:

„Ich komme diesmal ohne jeden Auftrag, aber die Sache, die mich herführt, ist von so großer Wichtigkeit, daß ich Sie um sofortiges Gehör ersuchen muß, Excellenz. Darf ich die Thür abschließen, um uns vor Störung zu sichern?“

Steinrück sah ihn bei dieser seltsamen Einleitung befremdet an, aber er fragte kurz:

„Betrifft die Sache den Dienst?“

„Ja.“

„So schließen Sie die Thür!“

Michael kam der Weisung nach und kehrte dann zurück. Auch in seinem Wesen lag heute etwas Unruhiges, Erregtes, das freilich durch die gewohnte Selbstbeherrschung niedergehalten wurde; aber es verrieth sich doch in seiner Stimme, als er jetzt weiter sprach:

„Ich überbrachte gestern Morgen ein Schriftstück, das von der höchsten Wichtigkeit war. Ich hatte strengen Befehl, es nur persönlich zu übergeben, und nur in die eigenen Hände Euer Excellenz zu legen.“

„Gewiß, ich empfing es von Ihnen. Kannten Sie den Inhalt?“

„Ja, ich habe ihn selbst niedergeschrieben, da ich bei der Abfassung als Sekretär diente. Er betrifft den Vormarsch des Steinrück’schen Korps; eben deßhalb wurde mir bei der Uebergabe die größte Sorgfalt anbefohlen.“

„Nun, ich bestätige Ihnen ja den Empfang; das Papier liegt in meinem Schreibtische.“

„Liegt es wirklich noch dort?“

„Wo will das hinaus?“ fragte der General scharf. „Ich sage Ihnen doch, daß ich es mit eigener Hand hineingelegt habe.“

„Und ich bitte Sie, sich zu überzeugen, ob es noch an Ort und Stelle ist. Die ungeheuere Tragweite der Sache mag meine Kühnheit entschuldigen. Ich will gern den Vorwurf der Voreiligkeit tragen, wenn ich nur über den Verbleib jener Papiere beruhigt werde.“

Steinrück zuckte ungeduldig die Achseln, aber er zog den Schlüssel hervor, den er stets bei sich trug, und ging an den Schreibtisch. Das sehr feste und künstliche Schloß ließ sich selbst von dem damit Vertrauten nur langsam öffnen; heute gab es seltsamerweise dem ersten Druck nach; der Schlüssel drehte sich kaum, als die Thür auch schon aufsprang. Der General erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Der Schreibtisch ist erbrochen worden,“ sagte Michael leise, indem er auf das Schloß wies, das allerdings deutlich die Spuren eines gewaltsamen Oeffnens zeigte. „Ich dachte es mir!“

Steinrück erwiderte keine Silbe und hielt sich auch nicht mit einer Prüfung der Papiere auf, die dort lagen und nichts besonders Wichtiges zu enthalten schienen. Er drückte hastig an eine Stelle der Holzwand, die äußerlich nicht die mindeste Vorrichtung zeigte. Das Getäfel wich zur Seite und ließ ein meisterhaft verborgenes, geheimes Fach sichtbar werden, aber es zeigte sich völlig leer; auch nicht das kleinste Blättchen war darin zu entdecken.

„Das ist Verrath!“ rief der Graf heftig. „Niemand außer mir kannte dies Geheimfach. Niemand wußte es zu öffnen. Hauptmann Rodenberg, was wissen Sie von der Sache? Sie haben einen Verdacht, eine Spur – reden Sie!“

Michael war es gewohnt, sich seinen Vorgesetzten gegenüber kurz und knapp zu fassen und mit wenigen Worten nur die Thatsachen hervorzuheben. Heute that er dies nicht, sondern berichtete so ausführlich, als wolle er seinen Zuhörer irgend etwas ahnen, errathen lassen, noch bevor es ausgesprochen wurde.

„Ich hatte gestern Abend noch in später Stunde der Konferenz, der auch Sie beiwohnten, eine soeben eingetroffene Depesche zu überbringen. Auf dem Rückwege mußte ich an Ihrem Hause vorüber, und zwar hatte ich die Gartenseite zu passiren. Ich bog gerade um die Straßenecke – es mochte gegen Mitternacht sein – als ich in der kleinen Mauerpforte, die sich neben dem Gitterthor befindet, eine männliche Gestalt verschwinden sah. Das wäre mir vielleicht nicht besonders aufgefallen; die Dienerschaft konnte ja das Recht haben, diesen Weg zu benutzen; aber beim Schein der Straßenlaterne glaubte ich die Gestalt zu erkennen, die ich freilich nur einen Moment lang sah “

„Und wen glaubten Sie zu erkennen?“ fragte der General, der mit der höchsten Spannung zuhörte.

„Den Bruder der Frau von Nérac – Henri Clermont.“

„Clermont? Ich habe ihn stets für einen Abenteurer gehalten und ihm deßhalb mein Haus verschlossen. Sie haben Recht; sein Erscheinen zu dieser Stunde in meinem Park ist mehr als verdächtig. Sind Sie denn der Spur nicht gefolgt?“

„Das that ich, aber sie endigte an einer Stelle, die über jedem Verdacht stand, oder wenigstens – zu stehen schien.“

Er legte einen schweren, bedeutungsvollen Nachdruck auf die letzten Worte; aber Steinrück achtete nicht darauf, sondern drängte in heftiger Ungeduld:

„Weiter! Weiter!“

„Ich wollte mir anfangs einreden, daß es eine Täuschung gewesen sei, und ging weiter, aber die Sache ließ mir keine Ruhe. Ich kehrte nach einer Weile wieder um und umging noch einmal das Haus von allen Seiten. Da bemerkte ich in dem Arbeitszimmer einen Lichtschein, der nicht von einer Lampe herrühren konnte; es schien fast, als brenne eine einzelne Kerze in der Tiefe des Gemaches. Das konnte ein Zufall sein; aber mein Verdacht war durch das Erscheinen Clermont’s nun einmal geweckt; ich beschloß, mir um jeden Preis Aufklärung zu verschaffen. Ich trat ein, ließ den Diener herbeirufen und theilte ihm mit: ich hätte beim Vorübergehen im Arbeitszimmer einen seltsamen Schein bemerkt, der möglicherweise von einem entstehenden Brande herrühre; er solle schleunigst nachsehen, um ein Unglück zu verhüten. Der Mann erschrak und eilte sogleich fort, aber schon nach wenigen Minuten kam er zurück mit der Nachricht: es sei ein Irrthum; er habe um Entschuldigung bitten müssen, denn im Zimmer brenne nur eine Kerze, und es sei Niemand dort als –“

„Nun? Weßhalb sprechen Sie denn nicht aus? Wer war dort?“

„Graf Raoul Steinrück!“

Aus dem Gesichte des Generals wich jeder Blutstropfen, und mit stockendem Athem wiederholte er:

„Mein Enkel – war hier?“

„Ja.“

„Um Mitternacht?“

„Um Mitternacht!“

Es folgte eine lange, schwere Pause, keiner der beiden Männer sprach. Die Augen des alten Grafen hatten einen seltsam starren Ausdruck angenommen; jenes dunkle, unheilvolle Etwas, das schon einmal vor ihm aufgetaucht war, hob sich wieder drohend empor aus der Nacht, und jetzt schien es Form und Gestalt gewonnen zu haben. Aber das starre Hinbrüten

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 879. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_879.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2022)