Seite:Geschichte der protestantischen Theologie 638.png

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gegenüber von der Lust an der Welt und ihren Freuden, theils in dem Wirken für die Vermehrung des Reiches wiedergeborner, sich im Fleiß der Heiligung übender Persönlichkeiten. Je tiefer bei Spener der Eindruck von diesem ethischen, produktiven Charakter der Gnade ist, desto lieber verweilt er bei dem Gedanken, welche selige Umwandlung der Welt bevorstehen müsse, wenn nun der evangelische Glaube anfange, ins Leben zu gehen: und so ist es die Hoffnung besserer Zeiten noch auf Erden, die seinen theuersten Glauben aussagt und die er noch auf dem Sterbebette bekannte, indem er verordnete, daß man ihn in einem weißen Sterbekleid in einen weiß angestrichenen Sarg lege, weil er keinen schwarzen Faden mit ins Grab nehmen wolle, da er über den betrübten Zustand der Kirche lange genug, nicht nur äußerlich mit seiner schwarzen Kleidung, sondern auch innerlich in seinem Herzen getrauert habe. Diese Hoffnung ist aufs Tiefste mit seiner ganzen Eigenthümlichkeit verwachsen. Das ethische Handeln für die Kirche bedarf (s. o. S. 593 f.) der Hoffnung, um die Liebe mit Muth und Thatkraft zu erfüllen; es bedarf ihrer aber auch, weil die Hoffnung die Ideale und höchsten Zweckbegriffe bilden muß, die als Inhalt den Willen zu leiten haben. Er sieht nicht, wie so Viele in der lutherischen Kirche, den irdischen Lebenszweck als erfüllt an, wenn die Seele durch Vergebung der Sünden gerettet ist. Mit Spener tritt eine selbstständige, noch dieser Erde geltende Lebensaufgabe kräftig ins Bewußtsein und der Pflicht, Versöhnung und Wiedergeburt zu suchen, zur Seite. Eine wachsende ethische Selbstdarstellung der Christen und in ihnen des Christenthums gehört ihm noch zu den Aufgaben der irdischen, nicht erst der himmlischen Geschichte des Reiches Gottes. Sein 1000jähriges Reich denkt noch nicht Sünde und Uebel aus der Kirche verschwunden, sondern nur gemindert; auch will er nicht schon eine sichtbare Regierung der Kirche durch Christus, oder gar durch abrupte, göttliche Thaten das sittliche Werk der Menschheit ersetzen, vielmehr sieht er darin wenigstens überwiegend das Produkt der sich heiligenden und darum an der Heiligung Andrer arbeitenden, wiedergeborenen Menschheit. So nimmt die Spener’sche Eschatologie im zweiten Jahrhundert der evangelischen Kirche wesentlich dieselbe Stelle ein, welche der Chiliasmus der alten Kirche eingenommen: sie ist ein Zurückrufen des einseitig dem Transcendenten, dem Jenseits zugewendeten Geistes von dem Wahne, daß nach gewonnener Seligkeit im Glauben auf Erden nichts wesentlich

Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_638.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)