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„Wilhelmsdorf“

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(Weitergeleitet von Wilhelmsdorf)
Textdaten
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Autor: Rumbke
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Titel: „Wilhelmsdorf“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 104
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Entstehung der Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf
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[104] „Wilhelmsdorf“. Eine Heimstätte der Heimathlosen. Heimathlos, siech, arm und elend die Welt zu durchirren, steuer- und mastenlos auf dem wildbewegten Meere des Lebens umherzutreiben, ist ein herber, bitterer Fluch. Nach Tausenden zählt die Zahl Derer, die diesem Fluche anheimgefallen sind. Wer hätte sie nicht gesehen im Kothe der Gasse, auf der Land- und Heerstraße, im dumpfen, schweren Qualm der Herbergen, in den Strafanstalten und Spitälern? Abscheu und Mitleid einflößende Jammergestalten!

Die Klagen über das Vagabondenthum haben sich vermehrt von Jahr zu Jahr, und der Kampf gegen dasselbe war bis jetzt ohne jeden nennenswerthen Erfolg. Weder Gensd’arm noch Seelsorger, weder Vereine gegen Bettelei, noch Gesetze sind im Stande gewesen, die Hochfluth des Vagabondenthums einzudämmen.

Arbeitslosigkeit wird der stets fruchtbare Boden sein, auf welchem dasselbe emporsprießt und fortwuchert. Die blutig rothe Fanale der Socialdemokratie, der unheilschwangere Taumelbalsam, der Branntwein, werden jederzeit mitwirken auf jenem Grunde Früchte der verderblichsten Art für unser Vaterland zu zeitigen. Das erlösende Zauberwort des Meisters aus dieser großen Noth würde die Botschaft sein: Hier ist Arbeit. Sechszig Procent jener 150,000 bis 200,000, welche arbeitslos in Deutschland umherirren, waren fleißige Menschen, die durch die Ungunst der Zeitverhältnisse ihren Wirkungskreis verloren, redlich Arbeit suchten, jedoch nicht fanden und so auf die abschüssige Bahn des Vagabondenthums gedrängt wurden. Um diese wenigstens für die Gesellschaft zu retten, ist die Anstalt, auf die wir die Aufmerksamkeit unserer Leser lenken, in’s Leben gerufen worden.

Die unter dem Protectorate des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen stehende Arbeitercolonie Wilhelmsdorf bei Bielefeld in der Senne hat den Zweck: 1) arbeitslustige und arbeitslose Männer jeder Confession und jeden Standes so lange in ländlichen und andern Arbeiten zu beschäftigen, bis es möglich geworden ist, ihnen anderweite lohnende Arbeiten zu beschaffen, und ihnen so die Hand zu bieten, vom Vagabondenleben loszukommen; 2) arbeitsscheuen Vagabonden jede Entschuldigung abzuschneiden, daß sie keine Arbeit hätten.

Neben dem Angebote von Arbeit an alle Arbeitslose wird zugleich die Einrichtung von festen Naturalunterstützungsstationen in Stadt und Land erstrebt.

Am 17. August vorigen Jahres wurde die Anstalt eröffnet und die Arbeit auf den Haidestrecken der drei angekauften Bauernhöfe begonnen. Der Erfolg war ein überraschender. Die Vermuthung, daß sich bei den harten Bedingungen nur äußerst wenige zur Aufnahme melden würden, ist durch die Thatsache widerlegt, daß sich in dem kurzen Zeitraume bis zum 1. December mehr als 1000 zur Aufnahme meldeten. Von diesen konnten jedoch nur 417 Aufnahme finden. 207 erhielten durch Vermittelung des Vorstandes von Wilhelmsdorf anderweitige Beschäftigung, 20 gingen, diese selbst zu suchen, 10 entliefen. Der Landstreicherei in den angrenzenden Kreisen ist schon jetzt erheblich gesteuert. Der arbeitsscheue Stromer wird sich gewiß den nachfolgend fixirten strengen Bedingungen nicht fügen wollen, er meidet eine Provinz, die ein „Wilhelmsdorf“ unterhält und nur die nothwendigsten Naturalunterstützungen gewährt, auf’s sorgfältigste.

Es sei uns gestattet, etwas Näheres über die innere Einrichtung von Wilhelmsdorf mitzutheilen.

Nachdem der Neueintretende ein Bad genommen, erhält er leihweise anständige Kleidungsstücke, welche mit dem Stempel „Wilhelmsdorf“ versehen sind, über deren Empfang er mit besonderer Erklärung quittirt, daß eine Mitnahme derselben von der Colonie, ehe sie verdient sind, als Diebstahl anzusehen und zu bestrafen ist. Contractgemäß verpflichtet er sich, die ersten vierzehn Tage ausschließlich für die ihm von der Colonie zu liefernde Kost und Logis zu arbeiten. Nach Ablauf dieser Frist empfängt er, falls Fleiß und Betragen zufriedenstellend waren, in den folgenden vier Wochen eine freiwillige Vergütung von 25 Pfennig pro Tag, bei längerem Aufenthalte wird die Gratification exclusive Kost und Logis auf 40 Pfennig erhöht. Der Hausvater ist streng angewiesen, kein baares Geld zu verabfolgen, dagegen wird jede zugedachte Gratification gutgeschrieben, um zunächst auf die Schuld für etwa empfangene Kleidungsstücke abgerechnet zu werden.

Hacke und Spaten in der Hand des Arbeiters wirken wie ein Talisman auf Leib und Seele. Auf diesem Wege kann es jedem fleißigen Manne gelingen, wohlgekleidet und gestärkt nach einem Aufenthalte von drei bis vier Monaten einen ehrenhaften Platz in der menschlichen Gesellschaft zu erlangen.

Die Verwaltung und Verantwortung für die Colonie liegt in der Hand eines freien Vereins, welcher die Ausgaben aus den freiwillig eingehenden Gaben bestreitet. Die Einrichtung von Naturalverpflegungsstationen liegt den Behörden ob, deren Kosten durch Kreismittel gedeckt werden. Sie dienen dazu, dem arbeitsuchenden, mittellosen Manne Gelegenheit zu geben, ohne betteln zu müssen, sein Ziel zu erreichen, oder den freien Weg zu bahnen. Jede Naturalverpflegungsstation ist zugleich Arbeiternachweisebureau.

Wir schließen mit den Worten des hohen Protectors der Anstalt: „Ich gebe gern der Hoffnung Ausdruck, daß dies Unternehmen, welches bestimmt ist, einem weit verbreiteten Unwesen Schranken zu setzen, nicht nur fortfahren werde, sich in seinen Erfolgen wie bisher zu bewähren, sondern daß es auch in andern Provinzen, welche unter gleichen Mißständen zu leiden haben, baldige Nachahmung finden möge.“ Rumbke.