ADB:Thibaut, Bernhard Friedrich

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Artikel „Thibaut, Bernhard Friedrich“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 745–746, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thibaut,_Bernhard_Friedrich&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 02:02 Uhr UTC)
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Thibaut: Bernhard Friedrich Th., Mathematiker, geb. am 22. December 1775 in Harburg, † am 4. November 1832 in Göttingen. Der jüngere Bruder des berühmten Juristen Justus Th. bezog in seinem 18. Jahre die Universität Göttingen, wo er den mathematischen Wissenschaften sich widmete. Kästner, Lichtenberg, Beckmann waren seine Lehrer, und ihr Beispiel war es vermuthlich, welchem er später in seiner Vortragsweise nachzueifern sich bemühte. Seine Lehrthätigkeit übte er ausschließlich in Göttingen aus. Dort begann er 1797 als Privatdocent, dort wurde er 1802 außerordentlicher, 1805 ordentlicher Professor. Der Ernennung zum außerordentlichen Professor ging 1801 die Veröffentlichung eines Grundrisses der reinen Mathematik voraus, welcher es bis zu einer fünften Auflage (1831) brachte. Ein zweites Werk ist der Grundriß der allgemeinen Arithmetik oder Analysis zum Gebrauch bei akademischen Vorlesungen I (einziger) Theil. Göttingen 1809, 2. Auflage 1830. Besonders dem zweiten Werke ist eine geschichtliche Bedeutung nicht abzusprechen. Als es zuerst erschien, war Hindenburg etwa seit einem Jahre todt, aber seine Schule herrschte in Deutschland. Thibaut’s Verdienst ist es, gezeigt zu haben, daß combinatorische Betrachtungen, wenn sie auch für die Entwicklungen der Analysis höchst fruchtbar sind, für sich allein die Analysis nicht ausmachen, daß vielmehr anderweitige Untersuchungen hinzutreten müssen, für welche dadurch Raum geschafft wird, daß die rein formalen Darstellungen combinatorischer Gebilde bei Seite gelassen werden. Die große Berühmtheit, deren Th. sich erfreute, gründete sich jedoch weniger auf die beiden genannten Druckwerke als auf seinen mündlichen Vortrag. Der Verfasser dieser Biographie erinnert sich aus seiner Kindheit Thibaut’s Lob aus dem Munde sonst sehr nüchterner Männer, die in Göttingen seinen Vorlesungen gefolgt waren, in wahrhaft überschwänglicher Weise gehört zu haben, und dieselbe Begeisterung ist in den „Erinnerungen an B. F. Thibaut“ zu erkennen, welche A. Tellkampf in den Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst vom 27., 29. und 30. März 1841 veröffentlicht hat. Insbesondere die Vorlesung über reine Mathematik, welche Tellkampf 1819 zugleich mit etwa 130 Studirenden aus allen Facultäten hörte, scheint gradezu zündenden Erfolg gehabt zu haben. Die wunderbare Klarheit und Leichtigkeit der Ausdrucksweise, die zu vollendeter Kunstform ausgebildete Sprache entzückte die Zuhörer, und ihre vielleicht ermüdete Aufmerksamkeit wurde durch eingestreute witzige Polemik, durch reizvolle Abschweifungen aller Art zu neuer Anstrengung angeregt. Das war es, was wir oben als dem Beispiele seiner Lehrer Kästner und Lichtenberg nacheifernde Vortragsweise Thibaut’s bezeichneten. Das Verhältniß Thibaut’s zu seinen Schülern war ein ungemein warmes und freundschaftliches. Mehrfach scheint es vorgekommen zu sein, daß er ihnen die nothwendige Uebung im Lehrvortrage, welche gegenwärtig in den mathematischen Seminaren zur Ausbildung gelangt, dadurch ermöglichte, daß er ihnen ausdrücklich übertrug, einzelne mit seinen eigenen Vorlesungen zusammenhängende Einschaltungen in besonderen Stunden vorzutragen. Für die Studirenden im allgemeinen schuf er die überaus nützliche Einrichtung einer Speiseanstalt für Kranke. Die Göttinger Garküchen erfreuten sich auch noch Jahrzehnte nach Thibaut’s Tode des Rufes für denkbar billigsten Preis die denkbar schlechteste Kost zu liefern, eher geeignet Gesunde krank zu machen, als Kranke in ihrer Genesung zu fördern. Auf Thibaut’s Vorschlag verbanden sich Universitätslehrer und die angesehensten Bürger Göttingens dahin, daß jedem kranken Studirenden, der, fern von den Seinen, nicht die ihm nöthige Pflege haben könnte, sowol Mittags als Abends die von dem Arzte als zweckdienlich erachteten Speisen gereicht werden sollten. Von dem allgemeinen gesellschaftlichen Leben hielt Th. sich fern, und besonders in den letzten sechs Jahren seines Lebens [746] verließ er überhaupt nicht mehr seine Wohnung, nicht einmal um in seinen am Fuße des Hainberges gelegenen Garten sich zu begeben, der ehedem sein liebster Aufenthalt während der Sommermonate gewesen war.

Neuer Nekrolog der Deutschen, Jahrgang 1832, S. 749–750. – Hallische Jahrbücher f. deutsche Wissensch. u. Kunst. 1841, I, S. 295–304. – Poggendorff, Biograph.-literar. Handwörterb. z. Gesch. d. exact. Wissensch. II, 1093.