ADB:Unzer, Johanne Charlotte

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Artikel „Unzer, Johanne Charlotte“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 331–334, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Unzer,_Johanne_Charlotte&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 21:47 Uhr UTC)
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Unzer: Johanne Charlotte Unzerin, geborne Zieglerin, durch popular-philosophische und poetische Arbeiten bekannt, wurde am 27. November 1725 zu Halle a. d. Saale geboren, die Tochter des wegen seiner Compositionen und seiner musikalischen Schriftstellerei geschätzten Organisten der Ulrichskirche Joh. Gotthilf Ziegler. Hatte der Vater Dank seinen Beziehungen zu Aug. Herm. Francke eher einer pietistischen Richtung angehört, so huldigt die Tochter, die seit seinem Tode 1747 offenbar vorzugsweise unter dem Einfluß ihres mütterlichen Oheims, des Philosophen und Mediciners Joh. Gottl. Krüger (s. A. D. B. XVII, 231) stand, durchaus der moderneren halleschen Normalweltweisheit der Wolff, Baumgarten und Meier. Davon zeugt ihr ’Grundriß einer Weltweißheit für das Frauenzimmer‘ (Halle 1751, 2. Ausg. 1767), den der schnell erwärmte Ohm fast wider ihren Willen drucken ließ und mit witzelnden oder skeptischen Anmerkungen begleitete, nicht unähnlich in der Wirkung Wieland’s Zuthaten zu dem Erstlingswerk seiner Jugendgeliebten. Das Buch ist von einer ausgeprägten Frauenzimmerlichkeit. Bei jeder geschlossenen Gedankenreihe wirds der Verfasserin unbehaglich; die ’mathematische‘ Methode Wolff’s, überhaupt das abstracte Denken, überläßt sie getrost ’den allerdüstersten [332] Männern‘; sie greift statt zu strengen Beweisen lieber zu hübschen Geschichten aus dem Spectator oder zu Versen Haller’s und Gellert’s, die sie verwegen genug anwendet: muß doch gar ein Liebesgedicht Haller’s herhalten, um den Nutzen der Einsamkeit – aber nicht für die Liebe, sondern für das Studiren zu beweisen. Griechisch und Latein kann sie nicht; Baumgarten’s Metaphysik hat ihr ein guter Freund übersetzt; den Ixion verwechselt sie mit dem Prometheus, und der Gründer der stoischen Lehre heißt ihr einfach Stoa. Diese harmlose Unwissenheit hindert sie nicht, über Plato’s Ideenlehre, über den Gottesleugner Spinoza, ja selbst über Leibnizens prästabilirte Harmonie und seine Monaden, die sie sich als ’kleine Insecten‘ veranschaulicht, kritisch oder scherzend sich aufzuhalten. Aber solche Unbescheidenheit steht ihr, eben weil sie naiv frauenzimmerlich auftritt. Ungern nimmt sie in Streitfragen Partei, und immer ist sie dann auf der Seite der Nüchternheit. Wie allerliebst weiblich aber, wenn sie sich bei der Frage über das Verhältniß von Körper und Seele auf Seite der Harmonisten stellt gegen die Influxionisten und Occasionalisten, weil jene immer noch ein bischen Recht behalten würden, auch wenn eine der anderen Parteien ganz Recht hätte. Dennoch würde sie anders geurtheilt haben, wenn sie gewußt hätte, daß ihr ’Damis‘ wenige Jahre vorher die Sache der Influxionisten verfochten hatte. Von eigenen Gedanken ist natürlich nicht die Rede; an groben, auch logischen Schnitzern fehlts nicht. Aber das Ganze plaudert so unschuldig fröhlich dahin, daß mans sich gern gefallen läßt. Leider machte der Erfolg unserer gelehrten Freundin den Kamm schwellen. In ihrem ’Grundriß einer Natürlichen Historie und eigentlichen Naturlehre für das Frauenzimmer‘ (Halle 1751), den sie nun schon ohne Onkel Krüger’s Hilfe herausgibt, will sie bereits eine Lehrerin ihres Geschlechts werden, will sie ’Neutonianerinnen‘ heranbilden, will sie den Männern das Zugeständniß abnöthigen, daß es auch unter den Frauen ’Erfinderinnen neuer Wahrheiten‘ gebe. Eine curiose Zumuthung das bei einem Buche, das zuerst nach ’des Linnäus‘ Eintheilung einigen aus merkwürdigen Reisebeschreibungen und aus Brockes’ Gedichten ausstaffirten Notizenkram über die drei Naturreiche zum besten gibt und dann Krüger’s ’Naturlehre‘ munter excerpirt. Originell ist nur, daß die U. auf Beschreibungen von Pflanzen im einzelnen verzichtet, weil ihr dabei zu viel lateinische Namen vorkommen, daß sie dann aber mit einigen besonders interessanten Pflanzen eine Ausnahme macht, deren erste der – Caffeebaum ist.

Aber nicht ’Caffee‘ sollte man ihr auf den Leichenstein schreiben, sondern:

Wein! Wein! Wein! Wein! Wein! Wein! Wein! Wein!
Das soll auf meinem Leichenstein
So vielmahl stehn, als Platz dazu wird seyn.

Die U. hält es nämlich auch für ihr Menschenrecht, gleich den Männern von Wein und Liebe zu singen, weil ja doch ’kein vernünftiger Leser in einer scherzhaften Ode die Sprache des Herzens, sondern vielmehr des Witzes und der Scharfsinnigkeit sucht‘. Komischer ist die innere Unwahrheit der Anakreontik selten zu Tage getreten als bei diesem gleichheitssüchtigen Frauenzimmer. Der Hällische Genius loci spukt auch in dieser Lust an anakreontischen Tändeleien und Dreiquerfingerzeilen. Sie befehdet Gleim grollend, weil er alle Mädchen für Puppen erklärt hat, und lehrt ihre Leserinnen die ’Frauenzimmerwissenschaft‘, mit den grauen Puppen, den alten Männern spielen, ’ihre kalten Glieder wärmen‘, ja sie lehrt: ’Lernet mit den Männern zechen!‘ Trotz Mylius und Lessing scherzt sie über die Mondbürger. Den finstern Algebraicus, den sie Onkel Krüger zu Liebe später in einen Metaphysicus verwandelt, läßt sie von Phillis bekehren und sich hängen. Den Charon will sie, ebenso wie den hochwürdigen Krüger, unter den Tisch trinken und dann, uns die Unsterblichkeit zu sichern, ins Land der Lappen [333] entführen. So läppisch scherzt sie beständig: ihr Witz ist sehr fade. Und ihre Geschmacklosigkeit verirrt sich bis zur Rohheit, so in dem abscheulichen Gedicht ’An die Mütter‘. Dennoch hatte ihr ’Versuch in Scherzgedichten‘ (Halle 1751) Erfolg, er erlebt 1753 bereits eine zweite, stark vermehrte und von manchen häßlichen Auswüchsen befreite Auflage, der 1766 eine dritte gefolgt ist. Johann Gottlob Krüger aber, stolz auf den Ruhm seiner gelehrten Nichte, setzt ihr als Vicerector der Universität Helmstedt und Comes palatinus Caesareus am 2. Mai 1753 den Dichterlorbeer auf; schon vorher hat die Deutsche Gesellschaft zu Helmstedt sie zum Ehrenmitglied gemacht und ihre Collegin zu Göttingen spendet ihr die gleiche, nicht eben rare Auszeichnung am 5. Mai d. J.

Damals aber hatte bereits ihr ’Damis‘ seine Phillis heimgeführt, noch rechtzeitig um sie vor der Lächerlichkeit zu retten, der sie entgegensteuerte. Sie war, eben auch der Mutter beraubt, dem geliebten Manne, dem trefflichen Arzte Joh. Aug. U. 1751 nach Hamburg, dann nach Altona gefolgt und hat mit ihm in dauerndstem Eheglück gelebt, das auch durch schwere Krankheit und durch den Verlust lieber Kinder nur vorübergehend getrübt wurde. Die Ehe entzieht sie der Poesie nicht sofort. Wärmere und ächtere Töne in der 2. Aufl. der ’Scherzgedichte‘ verrathen, daß ihrer Poesie ’die Sprache des Herzens‘ trotz der Vorrede nicht mehr ganz fremd ist. In der Heimath des großen Brockes steigert sich ihr Natursinn. Mit Leyding und Löwen nimmt sie anfänglich an den ’Hamburgischen Beyträgen zu den Werken des Witzes und der Sittenlehre‘ (Hamburg 1753–54) Theil; auch an dem Wochenblatt ’Der Christ bey den Gräbern‘ wirkt sie mit. Aber von den Scherzgedichten hat sie sich jetzt zu einem ’Versuch in sittlichen und zärtlichen Gedichten‘ erhoben (Halle 1754, 2. Aufl. 1766, ’Fortgesetzte Versuche in sittlichen und zärtlichen Gedichten‘ Rinteln 1766). Ihre ’sittlichen‘ Gedichte, die trotz Lissabon die beste der Welten lehren, die sich im Rahmen des rationalistisch zugestutzten Gottesglaubens und der aufgeklärten Glückseligkeitsphilosophie überlegend ergehen, sind prosaisch und ohne jeden eignen Gedanken. Aber aus ihren ’zärtlichen‘ Gedichten, die den Wahn vom Ehstand beschämen wollen, ’daß er das Gift der Liebe sey‘, spricht so wahrhafte Empfindung, daß sie wirken in all ihrer nüchtern stammelnden Steifheit. Bald rühmt sie ihren Damis am Clavier, bald führt sie mit ihm parodirend Hor. Od. III, 9 auf, bald quält sie die Angst, er könnte vor ihr sterben: in dem aus dieser Stimmung erwachsenen melancholischen Gedicht ’Ahndungen‘ gemahnt doch immerhin manches an Klopstock’s Ode ’An Ebert‘, so fern sonst der Messiasdichter den poetischen Kreisen der U. steht, deren dichterischen Horizont ihr Leben lang Canitz und Günther, Richey und Hagedorn, Haller und Gellert, höchstens Pyra und Lange beherrschen. Das ehrlich tiefe Gefühl der liebenden Frau macht manche Albernheit der bildungsbeflissenen jungen Dame gut.

Die U. hatte die Freude, in den siebziger Jahren an einem Neffen ihres Mannes, dem jungen Joh. Christ. U. (s. u.), einen guten Freund zu gewinnen, der sich von ihr zu erfolgreichen poetischen Versuchen anregen ließ und die werthe Tante zu Namens- und Geburtstagen aus herzlicher Verehrung feierte. Sie selbst hat damals höchstens noch für den Bedarf des Augenblicks gereimt, Stammbuchverse (Arch. f. Litteraturgesch. XI, 326) u. ähnl. Ihr ephemerer Ruhm war vorbei, und es ist nicht die Fülle ihrer geistigen Reize, der sie noch 1771 eine spaßende Erwähnung Wieland’s (Neuer Amadis I, 4) verdankt. Sie starb am 29. Januar 1782 in Altona. Ihr Porträt (von Gründler und von J. C. G. Fritsch) ist ihren Werken zuweilen beigegeben.

Dreyhaupt, Beschreibung des Saalkreises (Halle 1773). II, 769. – Meusel, Lexikon der 1750–1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller XIV, 210. – Joh. Gottl. Krüger’s Dichterkranz ertheilet Frauen Johanne Charlotte [334] Unzerin. (Halle 1753). – Redlich in der ’Vierteljahrschr. f. Litteraturgeschichte‘ II, 280. – Fördernde Nachweisungen verdanke ich K. Burdach in Halle.