ADB:Zehnder, Hans Ulrich

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Artikel „Zehnder, Hans Ulrich“ von Otto Hunziker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 44 (1898), S. 774–776, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Zehnder,_Hans_Ulrich&oldid=- (Version vom 24. April 2024, 12:21 Uhr UTC)
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Zehnder: Dr. Hans Ulrich Z. wurde am 20. Januar 1798 als das achte Kind eines Tischlers in dem Dörfchen Oberengstringen bei Höngg (Kt. Zürich) geboren und verlor schon in früher Jugend den Vater. Da nahm ihn sein Pathe und Oheim in Höngg zu sich. Weil aber der dortige Schulmeister, als der Knabe acht Jahre alt war, erklärte, daß er ihn nun nichts mehr lehren könne, brachte der Pflegevater, obgleich selbst kein reicher Mann, das Opfer, ihn in eine Schule in die Stadt zu senden und nachher auch die höheren Schulen daselbst bis in die oberen Klassen besuchen zu lassen. Der einzige Nichtstadtbürger unter seinen Mitschülern machte er täglich den einstündigen Weg hin und zurück und half abends noch den Seinen bei den häuslichen und landwirthschaftlichen Arbeiten. Große Schwierigkeiten schuf unter den damaligen Verhältnissen die Berufswahl, da die Landbauern noch minderen Rechtes waren: endlich fiel der Entscheid für die Arzneiwissenschaft, und zwar auf den Rath des alten Dorfarztes, der ihn als Nachfolger wünschte. Nach damaliger Sitte bereitete sich Z. für seinen Beruf durch längeren Gehülfendienst bei einem Landarzte vor und besuchte dann den dreijährigen Curs des medicinisch-chirurgischen Kantonalinstitutes in Zürich; die gleichzeitige Bekleidung der Gehülfenstelle bei einem angesehenen Stadtarzt half über die ökonomischen Schwierigkeiten hinweg; die Opferwilligkeil seines Oheims ermöglichte dem jungen Manne sogar für den Abschluß seiner beruflichen Bildung die Universität Würzburg zu beziehen, wo damals Schönlein lehrte. Aber der dortige Aufenthalt wurde durch die Kunde vom Hinschied des Arztes in Höngg jäh unterbrochen. F., sofort heimgerufen, machte im Mai 1821 sein kantonales Examen, erwarb sich aber dann noch nachträglich durch Einsendung einer Dissertation über knotige Lungensucht von der Facultät in Würzburg den Doctortitel. Bald nach seiner Verheirathung vertauschte er die Landpraxis mit einer solchen in der Stadt. Der Ausübung des ärztlichen Berufes blieb er auch während der Zeit treu, da er in das politische Leben eintrat und Mitglied der kantonalen Regierung war. Mit lebhaftem Interesse beteiligte er sich, theilweise in leitender Stellung, bis ins hohe Alter an den Verhandlungen der medicinisch-chirurgischen Kantonalgesellschaft.

Mit dem Jahre 1830 brach für den Kanton Zürich eine Aera großer cultureller Reformen und Neuschöpfungen an. Z., der Verbesserungen im Medicinalwesen angeregt hatte, wurde 1832 in den Gesundheitsrath gewählt; noch im nämlichen Jahre verschaffte ihm das Vertrauen der freisinnigen Partei auch einen Sitz in der gesetzgebenden Behörde, im Großen Rath. Als begeisterter Redner in Volksversammlungen ward er eine populäre Persönlichkeit; eine ungewöhnliche Arbeitskraft und Arbeitslust gestatteten ihm bei etwelcher Einschränkung seiner ärztlichen Praxis auch vermehrten Anforderungen staatlicher Beamtungen zu genügen und ließ ihn für solche in hervorragender Weise geeignet erscheinen; so ward er im Frühjahr 1834 in den Erziehungsrath und im December in den Regierungsrath gewählt. Seine große Leistung in der Regierung der dreißiger Jahre war das 1836 zur Annahme gelangte Gesetz über das Armenwesen, dessen Grundzüge bis zur Gegenwart in Kraft geblieben sind. Auch in gemeinnützigen Vereinen bethätigte er sich damals schon vielfach als Referent für Fragen der Armennoth und der gegen dieselbe ins Feld zu führenden Mittel. Als Mitglied des Erziehungs- und Regierungsrathes stimmte er für die Berufung von Dr. Strauß auf den dogmatischen Lehrstuhl der theologischen Facultät, welche Wahl den Sturz der liberalen Regierung durch die Volksbewegung des Jahres 1839 zur Folge hatte. Z. sprach sich in der dem blutigen 6. September nachfolgenden Sitzung des Großen Rathes selbst dafür aus, daß auch für diese Behörde sofortige Neuwahl anzuordnen sei, da sie in ihrer bisherigen Zusammensetzung das Vertrauen des Volkes nicht mehr besitze; diese Neuwahl brachte den vollen [775] Sieg der conservativen Partei für die nächste Amtsperiode. Aber wie wenig er auf die Dauer seine persönliche Popularität eingebüßt, bewies nicht nur, daß ihm 1843 als Präsidenten des Sängervereins „Harmonie“ die Leitung des ersten eidgenössischen Sängerfestes zufiel; im December dieses Jahres gelang es der freisinnigen Opposition aufs neue seine Wahl in den Erziehungs- und Regierungsrath durchzusetzen und ein Jahr später geschah das Unerwartete und Unerhörte, daß Z. – als der erste Nichtstadtzüricher – in heißem Wahlkampfe gegenüber dem geistigen Führer der Conservativen, Dr. J. Kasp. Bluntschli, auf den Bürgermeisterstuhl erhoben wurde. Als Präsident der Tagsatzung leitete er im J. 1846 auch die eidgenössischen Angelegenheiten. An dem Zustandekommen der neuen Bundesverfassung von 1848 nahm er, wenn auch nicht in erster Linie hervortretend, regen Antheil; mehrmals bekleidete er während des folgenden Zeitraums das seit Abschaffung der Bürgermeisterwürde 1850 nunmehr jährlich wechselnde Präsidium der Zürcher Regierung. Aus dieser späteren Periode seines staatlichen Wirkens datirt das von ihm ausgearbeitete Gesetz über das Medicinalwesen (1854); dann galt es, die humanitären Anstalten für Armen- und Irrenversorgung und für geburtshülfliche Klinik, für die bis jetzt in durchaus unzulänglicher Weise gesorgt war, den Anforderungen der Neuzeit und der Humanität entsprechend auszustatten. Z. trat mit voller Planmäßigkeit für die Lösung dieser Aufgabe ein; durch die Aufhebung des Klosters Rheinau (1861) wurde es möglich gemacht, eine ausreichende kantonale Pflegeanstalt für gebrechliche und arme alte Leute zu schaffen. Vornehmlich seiner zähen Energie, gegenüber hartnäckigen Sparsamkeitsbedenken im Großen Rathe, war der Beschluß der Erbauung einer großen kantonalen Irrenanstalt (1864) zu verdanken; sobald er aber auch noch gewissermaßen den letzten Theil seines Programms, die Errichtung einer neuen Gebäranstalt, gesichert sah, hielt er den richtigen Moment für gekommen, einer jüngeren Generation Platz zu machen, nahm seinen Rücktritt von den öffentlichen Aemtern und zog sich in den wohlverdienten Ruhestand zurück (1866). Die dadurch gewonnene Muße wandte er nun in erster Linie gemeinnütziger Privatthätigkeit zu; seit 1853 Präsident der Centralcommission der schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft, behielt er diese Stelle bis 1875 und übernahm 1867 auch noch die Redaction des Gesellschaftsorgans, der schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, die er bis in den Anfang der siebziger Jahre führte; mit jugendlicher Rüstigkeit betrieb er die Gründung einer kantonalen Rettungsanstalt für verwahrloste Knaben, der Pestalozzistiftung in Schlieren, nachdem das persönliche Vertrauen eines im Ausland wohnenden Freundes die Mittel zur Errichtung einer solchen in seine Hand gelegt. Schon im November 1867 konnte die Anstalt eröffnet werden; ein volles Jahrzehnt erlabte er sich noch als Präsident der Aufsichtscommission ihrer gedeihlichen Entwickelung; sie war der Stolz und die Freude seines Alters, und erst der Tod schloß seine treue Sorge für dieselbe ab. Daneben kamen in seinem Lebensabend auch die höheren geistigen Interessen zu ihrem Recht; eine Reise nach Italien schaffte ihm reichen Genuß und an den pädagogischen Arbeiten seiner zweiten Gattin, Josephine Stadlin (s. u.), zur Ehrung von Pestalozzi’s Andenken nahm er lebhaften Antheil. Aber nach ihrem Tod fühlte er sich mehr und mehr vereinsamt. Sein Wunsch, nun auch bald selbst scheiden zu können, ging in Erfüllung. Noch hatte er am 21. Juni 1877 seiner lieben Pestalozzistiftung einen Besuch gemacht, acht Tage später in einer Sitzung der kantonalen gemeinnützigen Gesellschaft an der Discussion über die Wünschbarkeit der Gründung einer Rettungsanstalt für Mädchen sich mit einem Votum betheiligt; da nahte sich ihm nach kurzem Unwohlsein am Abend des 11. Juli der Tod leicht und schmerzlos.

Mit ihm starb ein Mann, dessen Name mit der politischen Entwicklung [776] seiner Heimath während zwei Jahrzehnten aufs engste verbunden gewesen ist. Er war nicht ein Staatsmann ersten Ranges; als Politiker neigte er bei aller Grundsätzlichkeit seiner persönlichen Ueberzeugung weniger zu doctrinärer Starrheit als zu Vermittlung und Ausgleichung der Gegensätze. Durch das Vertrauen seiner Mitbürger zu Amt und Würden gelangt, sah er es als seine Hauptaufgabe an, in treuer Arbeit an die inneren Reformen Hand anzulegen und hier gelang es ihm, Bleibendes zu schaffen, nicht sowohl als Parteimann, sondern aus patriotisch humanen Motiven; darum war ihm auch von vornherein die Ergänzung des amtlichen Wirkens durch intensive Thätigkeit in politisch-neutralen Vereinen Bedürfniß, in welchen ohne Unterschied der Parteien zum Worte und zur Mitarbeit kam, wer ein Herz für die Sache hatte. Daß er durch seine Wahl zum Bürgermeister der Schicksalsmann im Kampfe der Parteien wurde, hat ihm seitens der unterliegenden Gegner momentan grimmigen Haß und viel persönliche Verunglimpfung eingetragen, die noch lange im Stillen nachwirkte. Gewiß besaß er ja – wie alle Menschen und zumal solche, die sich aus eigener Kraft emporgearbeitet und dann in hervorragender Weise von der Volksgunst getragen worden sind – auch seine Schwächen. Aber dabei war er ein Mann, in dessen Brust ein warmes Herz für Vaterland, Volk und Menschenwohl schlug, und ihn bis ins hohe Greisenalter in thatkräftigem Wirken für dieselben festhielt; ein Mann ernster Lebensauffassung, und der doch auch, ohne sich etwas zu vergeben, mit den Fröhlichen fröhlich sein konnte; ein treu besorgter Familienvater, im privaten wie im öffentlichen Leben von erprobter Rechtschaffenheit und unbestechlichem Wahrheitssinn; vor allem und in allem ein Mann strenger Pflichterfüllung, dem in der That Arbeit das Herrlichste im Menschenleben war. Diese Eigenschaften haben ihm auch bei denjenigen, welche ihm wie der Schreiber dieser Zeilen erst in den letzten Decennien seines Lebens näher traten, volle Hochachtung erworben und sichern ihm wohl in vaterländischen Kreisen auf die Dauer ein dankbares und ehrenvolles Andenken.

Nekrolog in der Neuen Zürcher Zeitung Nr. 356 ff. (von seinem Sohn Dr. Karl Zehnder).