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ADB:Carpzov, Johann Gottlob

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Artikel „Carpzov, Johann Gottlob“ von Carl Gustav Adolf Siegfried in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 23–25, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Carpzov,_Johann_Gottlob&oldid=- (Version vom 12. Oktober 2024, 02:05 Uhr UTC)
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Carpzov: Johann Gottlob C., Sohn des Oberhofpredigers Samuel Benedict C. (über das berühmte Gelehrtengeschlecht der Carpzovs vgl. Dreyhaupt, Beschreibung des Saalkreises, Beilagen z. Th. 2 S. 26), geb. zu Dresden 26. September 1679; † 7. April 1767. Er studirte Theologie zu Wittenberg 1696, zu Leipzig 1698 und zu Altdorf 1700, wo er 1701 mit der Abhandlung „De synagoga cum honore sepulta“ seine Studien abschloß. Als Gesandtschaftsprediger des kurfürstlich sächsischen Gesandten hatte er Gelegenheit England und Holland kennen zu lernen und nahm besonders zu Leyden einen längeren Aufenthalt. Er kehrte 1704 nach Dresden zurück, wo er Diakonus an der Kreuzkirche wurde. 1708 ward er Diakonus an der Thomaskirche zu Leipzig und hielt zugleich seit 1709 Vorlesungen an der Universität. 1713 ward er außerordentlicher Professor, 1724 Doctor der Theologie. 1730 ward er Superintendent zu Lübeck, wo er als lutherischer Hierarch in hohem Ansehen waltete. Er hatte laut brieflicher Aeußerung die Freude es durchzusetzen, daß die Reformirten ihren Gottesdienst vor der Stadt halten mußten, daß die Herrnhuter ausgewiesen und die Conventikel mit Geldstrafen belegt wurden. Dafür ehrte ihn auch das orthodoxe Ministerium der Stadt Lübeck 1754 durch eine Jubelmünze mit seinem Bildniß. Er starb 88 Jahr alt. (Die zahlreichen Quellen für sein oft beschriebenes Leben findet man bei Baur, in Ersch und Gruber’s Encykl. I. 16 S. 217b, wo hinzuzufügen Jöcher-Adelung, II. S. 133 ff. Tholuck in Herzog’s Realencykl. II. 588 ff.)

C. nimmt innerhalb der Geschichte der biblischen Kritik eine hervorragende Stellung ein. Es gelang seiner Gelehrsamkeit, seinem Scharfsinn und seinem Eifer, die orthodox lutherische Ansicht von dem A. T. gegenüber den Angriffen seiner Zeit für mindestens ein halbes Jahrhundert länger aufrecht zu erhalten, indem er mit großem Geschick die Schwächen der damaligen Kritik zu benutzen wußte. Die leichtfertigen Aufstellungen eines Hobbes und Peyrère, die wenn auch mit Scharfblik concipirten, aber ungenügend begründeten Sätze eines Spinoza (im Tractatus theol. polit. c. 7. 8) boten ihm willkommene Angriffspunkte und selbst dem genialen Richard Simon gegenüber war er unermüdlich im Ausspähen und Benutzen von Blößen. Diese Hemmung, welche C. der Bibelkritik in den Weg warf, ist aber von einem höheren Standpunkte aus als eine Förderung zu betrachten, indem sie die Wissenschaft nöthigte, sich mit dem gediegenen Material Carpzov’s gründlich auseinanderzusetzen und die historische Kenntniß von der Entstehung der alttestamentlichen Bücher fester zu begründen. Das erste Hauptwerk Carpzov’s auf diesem Gebiete ist die „Introductio ad libros canonicos bibliorum V. T. omnes praecognita critica et historica ac autoritatis vindicias exponens“. Lips. 1714–21 (2. Aufl. 1731, 3. Aufl. 1741, beide unverändert). Wie C. in der sehr gründlichen bibliographischen Uebersicht seiner Vorrede zeigt, fehlte es bisher an einer zusammenfassenden Bearbeitung „quae ea praecise exponat quorum cognitio aditum ad sacrarum tabularum lectionem et viam sternit“. Mit Benutzung seiner Vorgänger in der Kritik und der biblischen Commentarien prüft [24] er daher bei jedem einzelnen Buche des A. T. die Ueberschrift, die Stellung im Canon, die Autorschaft und den Zweck desselben. Er nimmt bei allen diesen Fragen fortlaufende Rücksicht auf die kritischen Angriffe der oben genannten Gegner und schließt jedesmal mit kurzer übersichtlicher Darlegung des hauptsächlichen Inhalts des betreffenden Buches und einer sehr vollständigen Uebersicht der Auslegungen desselben, z. B. patrum, rabbinorum, lutheranorum, pontificiorum, reformatorum, remonstrantium etc. In dieser Weise sind in drei (selbständig paginirten) Theilen nach der in unseren Bibeln herkömmlichen Ordnung die historischen, poetischen und prophetischen Bücher des A. T. behandelt. Dem dritten Buche sind Nachträge (Paralipomena suis locis inserenda, p. 466–487) beigefügt. Wie man sieht, fehlt hier der Stoff, welcher gegenwärtig in der Regel den sogenannten allgemeinen Theil der Einleitung in das A. T. zu füllen pflegt, nämlich die Geschichte des Textes des Canons und der Uebersetzungen; denn die einleitenden Capitel des ersten Theils De scriptura s. in genere und De V. T. in genere bieten nur sehr Allgemeines. Zum Theil wird dieser Mangel indessen durch Carpzov’s hernach zu besprechende Critica sacra ergänzt. – Seinen Standpunkt nimmt C. in der Introductio auf dem altprotestantischen Schriftdogma. Der eigentliche Verfasser des A. T. ist ihm der heilige Geist, welcher dem Mose alle die Urzeit betreffenden Notizen und Kenntnisse mittheilte (I, 62) und ebenso später eintretende Dinge vorhersagte, so z. B. daß es 40 Jahre lang Mannah regnen werde (I, 84), welcher ferner alle anderweiten geschichtlichen Data offenbarte und dabei die Auswahl aus etwaigen historischen Quellen selbst besorgte (I, 242: scriptor libri regum … scripsit non quae proprio Marte [ex diariis] sibi excerpserat aut notaverat sed praecise ea tantum quae suggerebat spiritus sanctus). Der heilige Geist gab ferner nicht nur die Psalmen selbst ein, sondern bestimmte auch ihre Anordnung, er veranlaßte den Hiob, obwol dieser ein Araber war, seine Reden hebräisch aufzuzeichnen, er inspirirte den Propheten nicht nur die Weissagungen, sondern auch die Reihenfolge derselben, so daß Jeremias auf ausdrückliche Anweisung des heiligen Geistes eine ganz besondere Confusion in seinen Orakeln anrichtete, womit gewisse uns undurchdringliche erbauliche Zwecke verfolgt würden. Ebenso geschah es, daß der heilige Geist dem Obadjah einige Orakel mittheilte, die wörtlich mit Stücken aus Jeremia übereinstimmten. – Da der heilige Geist in dieser Weise überall selbst thätig ist, so kann es Stufen der Inspiration nicht geben (I, 26). Jede menschliche Arbeit oder Kunst, jedes natürliche Können und Wissen ist bei der Schrift gänzlich ausgeschlossen: daher auch jeder Irrthum und Widerspruch; jedes Wort ist ein Wort Gottes. Wo das Zutreffende kritischer Bedenken allzudeutlich wird, so daß Carpzov’s Scharfsinn keine Auswege finden kann: da donnert er dieselben mit der Hauptwaffe seines Arsenals, dem nie versagenden aries θεοπνευστίας[WS 1] zu Boden. Im Uebrigen sind ihm die Angriffe kritischer Gegner φλυαρίαι[WS 2] (P. I. praefat.), Spinoza heißt bei ihm nequam (I, 39), impurus scurra (II, 66), Jakob Böhme homo fanaticus u. dgl. – Bei einem solchen Standpunkte schwindet jede Unbefangenheit des Urtheils, jede Spur einer historischen Auffassung, was Aeußerungen wie quae in humano scripto reprehensione non carent de divino autem dicere indignum est (II, 89) über allen Zweifel erheben dürften. Einen Nachfolger auf diesem Wege in Bezug auf das N. T. fand C. in Rumpaeus (s. Meyer, Gesch. der Schrifterklärung 1804. Bd. IV. S. 422 ff.) und Erneuerer seines Standpunktes in neuester Zeit kann man wol Haevernick-Keil in ihrem Handbuch der historisch-kritischen Einl. in das A. T. nennen (2. Aufl. Frankfurt a. M. und Erlangen 1854 ff.). – Eine gewisse Ergänzung der Introductio bietet, wie oben bemerkt, Carpzov’s „Critica sacra“, Lips. 1728 (ed. II. 1748). Dieselbe handelt vom Text und von den Uebersetzungen des A. T. und zwar in P. I [25] circa textum originalem von dem göttlichen Ursprunge der Authentie und Autorität des hebräischen Textes (c. 1, 2), von seiner Reinheit und Unverfälschtheit (c. 3), von der Eintheilung des A. T., wobei die Abtheilung der Verse auf die Verfasser zurückgeführt wird (c. 4), von der hebräischen Sprache und ihrer Geschichte, von der Ursprünglichkeit der gegenwärtigen hebräischen Schrift und Vocalisation, vom Chaldäischen (c. 5), von der Masorah (c. 6), von Keri und Chetib und den verschiedenen Lesarten (c. 7), von den hebräischen Handschriften (c. 8) und von den gedruckten Ausgaben des hebräischen Textes (c. 9). – P. II redet dann von den Uebersetzungen, sowol von den alten, und ihrem Werthe, als den neueren lateinischen und einer jüdisch-deutschen. – P. III contra pseudocriticam Guil. Whistonii weist den Angriff dieses Mannes[WS 3] zurück, welcher behauptet hatte, die Juden hätten im 2. Jahrhundert die hebräische Schrift geändert und bei der Polemik gegen die Christen den Text des A. T. gefälscht. Sorgfältig werden bei dieser Gelegenheit von C. die alttestamentlichen Citate des N. T. und der Kirchenväter, sowie die Beschaffenheit des Textes der LXX und des samaritanischen Pentateuchs besprochen (vgl. Meyer, a. a. O. IV. S. 263. 290–293; Rosenmüller, Handb. f. d. Litt. d. bibl. Kritik, I. 492–495; Bleek, Einl. in das A. T. 1870. S. 17. 730). – Einen reichhaltigen Thesaurus hebräischer Antiquitäten gab C. in seinem „Apparatus historico-criticus antiquitatum sacri codicis et gentis hebraicae“ 1748, in welchem er Goodwin’s Forschungen (Moses et Aaron 1662) erläuterte und vermehrte. – Andere zahlreiche aber weniger bedeutende Schriften Carpzov’s findet man in Goetten’s Gelehrtem Europa Thl. I. S. 164–168. 823 und bei Jöcher-Adelung, Bd. II. S. 135 ff. Beachtenswerth sind darunter die Polemiken gegen die Brüdergemeinde.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. lat./griech.: Pfeil göttliche Inspiration
  2. griech: Geschwätz, Geplapper
  3. William Whiston (1667-1752), englischer Theologe und Physiker.