ADB:Kirchmann, Julius von

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Artikel „Kirchmann, Julius von“ von Theodor Sternberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 167–177, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kirchmann,_Julius_von&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 14:00 Uhr UTC)
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Kirchmann: Julius Hermann von K. wurde zu Schaffstädt bei Merseburg am 5. November 1802 als drittes Kind des kursächsischen Officiers – späteren preußischen Majors – Eberhard August v. K. geboren, absolvirte mit Auszeichnung das Gymnasium zu Merseburg, studirte in Leipzig und Halle die Rechte, arbeitete im Vorbereitungsdienst bei verschiedenen Justizbehörden der Provinz Sachsen „zur besonderen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten“, wurde am 12. Januar 1829 Assessor und am 1. December 1833 Criminalrichter in Halle. Am 31. März 1834 vermählte er sich mit der schönen und geistreichen, von den litterarischen und künstlerischen Berühmtheiten der Zeit hochgeschätzten Henriette Butte, der Tochter des interessanten und vielseitigen, aber höchst verworrenen Statistikers und Schellingianischen Philosophen Wilhelm Butte (s. d.), der Ehe entsprossen die beiden Töchter Luise (später Gattin des Musikschriftstellers und Componisten Hartmann) und Anna. K. wurde 1835 Land- und Stadtgerichtsdirector und Kreisjustizrath in Querfurt, 1839 Landgerichtsdirector und Kreisjustizrath in Torgau. 1844 erhielt er den Rothen Adlerorden in Anerkennung hervorragender dienstlicher Leistungen, er hat u. a. für den größten Theil der Provinz Sachsen die Anlage des Grundbuchs bewirkt. Als 1846 in Preußen die Reformen des Strafprocesses sich vollzogen, wurde er als Staatsanwalt (das wäre heut: Erster Staatsanwalt) an das Criminalgericht zu Berlin berufen, um in der Hauptstadt das neue Verfahren einzuführen. Obwol er hierin eine immense Tagesarbeit zu bewältigen hatte, ließ er sich doch zugleich häufig in der juristischen Gesellschaft mit theoretischen Vorträgen über interessantere Partien des Gegenstandes vernehmen, gab auch 1847 eine tüchtige kleine Erläuterung zum Preußischen Civilproceßgesetz vom 21. Juli 1846 heraus. 1847 hielt er auch den Vortrag, durch den zuerst sein Name weiteren Kreisen bekannt wurde: „Ueber die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“. Er zeigte darin, wie die Idee des Rechts mit der der Wissenschaft in ewigem Widerspruche liegt, wie durch die Verkoppelung des ungleichen Paars Wissenschaft und Recht zur Rechtswissenschaft beide erniedrigt, gelähmt und entwürdigt [168] werden, und knüpfte die Forderung daran, sowol die Rechtswissenschaft selbst wie den aus ihr hervorgehenden complicirten gesetzgeberischen Apparat als auch endlich die zunftmäßige Organisation in der Rechtsprechung und Rechtslehre abzuschaffen, an ihre Stelle Selbstrechtsprechung des Volks nach wenigen ganz einfachen Grundgesetzen treten zu lassen. Den culturhistorischen Irrthum, der in dieser Darlegung sich breit macht, hat Rudorff mit harten Worten angegriffen („Kritik der Schrift des Staatsanwalts v. Kirchmann über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft von einem Lehrer dieser Wissenschaft“), Stahl in vornehmer, treffender und höchst belehrender Weise widerlegt („Rechtswissenschaft oder Volksbewußtsein? Eine Beleuchtung des von Herrn Staatsanwalt v. Kirchmann gehaltenen Vortrags“ etc.). Den großen Werth, der der Abhandlung trotz allem innewohnt, hat man jedoch fortgesetzt verkannt und deshalb sie immer nur als eine rechtsphilosophische Monstrosität citirt. In Wahrheit sollte man die unmöglichen, unhistorischen Vorschläge zur praktischen Gestaltung des Rechtswesens in der Betrachtung ausscheiden, sie stellen eine Uebereilung dar, gezeitigt von einer gewissen revolutionären Nervosität im Vorstadium der Ereignisse von 1848, überdies hat K. sie sehr bald preisgegeben. Der Werth liegt in den aufrichtigen, warmherzigen Bekenntnissen und charakterologischen Analysen über das subjective Verhältniß der Rechtnehmenden sowol als auch besonders der Juristen zur Rechtswissenschaft. Die Inferiorität, die die Jurisprudenz, rein als Wissenschaft betrachtet, anderen Wissenschaften gegenüber nicht verleugnen kann, das nie ganz vermeidliche Ueberwuchern des Subaltern-Formalen über das Sachlich-Organische, das Naturgesetzliche und Absolut-Nothwendige, das nicht zu umgehende, ja häufige Spintisiren über bloße Ungenauigkeiten im Gesetz, die specifisch wissenschaftlich angelegten Geistern die berufsmäßige Beschäftigung mit Jurisprudenz unleidlich machen, die Jurisprudenz zu einer Wissenschaft des Unsinns und der Plage stempeln, während alle anderen Wissenschaften der Vernunft und der Wohlthat sind – sie hat er mit großer psychologischer Feinheit aufgezeigt, mit einer Beredsamkeit, die ins Innere drang, weil sie aus Innerem kam und jenen ursprünglichen Zwiespalt erweckte, der in der Seele gerade der edleren unter den Juristen von der Reflexion nie ganz und gar zum Schlummern gebracht wird. „Die Juristen: Würmer, die nur im faulen Holze wühlen“; „ein Federstrich des Gesetzgebers und Bibliotheken werden Makulatur“ sowie noch anderes mehr sind geflügelte Worte geworden. Kirchmann’s Standpunkt ist einseitig, er hat kein Verständniß dafür, daß die nichtwissenschaftlichen Elemente in der Jurisprudenz nicht lediglich zu den unterwissenschaftlichen gehören, sondern zu einem recht erheblichen Theil auch überwissenschaftliche sind, wie in allen subjectivirenden, interpretativen Wissenschaften. Deshalb hat K.,. der wie viele Moderne die antiquirte Ueberspannung der scientifischen Form und zünftlerischen Organisation übel empfand – ähnlich wie man sie ja auch in der Religion abzustreifen strebt –, ein schlecht angebrachtes retournons à la nature! statt eines erleuchtenden excelsior! gerufen, hat den reactionären Rückgang auf Urformen anstatt des Fortschritts in der Cultur überwissenschaftlicher Elemente empfohlen. Dessenungeachtet bleibt der Werth der Leistung bestehen; an ihr wie an der Persönlichkeit Kirchmann’s überhaupt wird vertiefte Betrachtung der Ethik des juristischen Berufs, werden die theils für diese benöthigten, theils ihrer selbst halber werthvollen charakterologischen und ethologischen Forschungen über Juristen und Juristerei nicht vorbeigehen können. Aber zu diesen Dingen legt man eben jetzt gerade die allerersten Fundamente; K. hatte das Unglück, mit der Anregung, die zur Blüthezeit der historischen Schule noch durchaus unzeitgemäß war, zu früh zu kommen. Wenn [169] es im übrigen an Documenten zum Verhalten der Subjectivität gegenüber der Jurisprudenz nicht fehlt, so rühren alle, die in gleichem Sinne wie das Kirchmann’sche antijuristisch auftreten, von Leuten her, die sich nach mehr oder minder oberflächlicher Berührung vom juristischen Beruf haben losmachen können und neben Mangel an Interesse auch Mangel an Fähigkeit hatten, bei denen die Abneigung überdies hauptsächlich durch romantisch-genialische Geistesart hervorgerufen war – zu diesen zählt auch der mit K. oft verglichene, ihm so ganz unähnliche L. Knapp (Rechtsphilosophie 1857) – während bei K., wie schon angedeutet, eine objectiv-naturwissenschaftliche, sachlich-positivistische Anlage die Ursache war. Daß seine Expectoration die eines eminent befähigten, erfolgreichen, zu großer Stellung emporgestiegenen, größerer Carrière gewärtigen Juristen ist, macht sie aufs höchste schätzenswerth.

Die Märzrevolution rief K. in die Preußische Nationalversammlung als Abgeordneten für Berlin 1, seine dienstliche Beschäftigung, die sich selbstverständlich mit dem Ausbruch der Unruhen um ein vielfaches gehäuft hatte, ließ ihn aber nicht zu bedeutenderer politischer Bethätigung gelangen, gar bald zeigte sich auch die natürliche Incompatibilität der Function eines Vertreters der Anklagebehörde und eines Abgeordneten. Im Fall des Abgeordneten Buhr, bezüglich dessen K. die Ermächtigung zur Strafverfolgung wegen Betheiligung am Zeughaussturm beantragte, trat noch keine Störung zu Tage; anders in der Sache des jugendlichen Agitators Schlöffel, eines relegirten Studenten, dem eine feurig-unbekümmerte Beredsamkeit Einfluß über die Arbeiterschaft verliehen hatte, und der am Gründonnerstag 1848 die Straßendemonstration gegen das Ministerium Camphausen leitete. K., selbst demokratischer, aber nicht republikanischer Gesinnung, hielt es für seine Pflicht, in der Hauptverhandlung des dieserhalb gegen Schlöffel angestrengten Strafprocesses die Anklage in Person zu vertreten; im Hinblick auf das jugendliche Alter des Delinquenten, in Sorge, daß nicht durch Strenge Märtyrer gemacht werden möchten, beantragte er eine verhältnißmäßig geringe Strafe, erbitterte hierdurch aber sowol die demokratische Partei, in deren Versammlungen seine sofortige Absetzung empfohlen und selbst mit Lynchung gedroht wurde, als auch seinen Minister; dieser verschaffte ihm sogleich eine Strafbeförderung als Vicepräsident an das Oberlandesgericht zu Ratibor. K. verlor damit sein Mandat und fiel bei der Nachwahl in Berlin 1 natürlich durch, wurde aber nach wenigen Wochen in Tilsit-Niederung wiedergewählt, so daß er die Stellung in Ratibor inzwischen noch gar nicht angetreten hatte. Wie zuvor wählte er seinen Sitz in dem von seinem Freunde Rodbertus geleiteten linken Centrum und war Referent über den Steuerverweigerungsbeschluß in der letzten Sitzung, die die nach Brandenburg verlegte Nationalversammlung in Berlin hielt. Er gab damals seine Ersparnisse hin, um den minder bemittelten Parteifreunden das weitere Leben in Berlin zu ermöglichen. K. gehörte auch der Deputation an, die unter Führung Jacoby’s den König zur Entlassung des Ministeriums Manteuffel zu bewegen suchte. Diese Haltung führte ihn zum vollständigen Bruch mit seinen Verwandten und stellte ihn in den heftigsten Gegensatz zu der Mehrheit seiner Collegen, der sich zur Unleidlichkeit verschärfte, als der Unterstaatssecretär Bassermann es „zum Heil der Nation“ für nöthig fand, angebliche Aeußerungen Kirchmann’s in der „Kreuzzeitung“ publik zu machen: wenn es nicht gelänge, das Ministerium zu verdrängen und den Scheinconstitutionalismus, der von Anfang an das preußische Volk um die Segnungen einer wahren Verfassung betrogen habe, zu besiegen, so sei es schon besser, eine Periode des rothen Terror durchzumachen; er persönlich wünsche das nach Kräften zu hindern, glaube es aber auch nur zu können, wenn [170] Wrangel und die Minister verhaftet, Waldeck und Jakoby mit der Cabinettsbildung betraut, die Garde aufgelöst, sämmtliche Truppen von Berlin zurückgezogen, die Prinzen vorläufig ins Ausland entfernt, der König aber zur Rückkehr nach Berlin bezw. Charlottenburg und zur Unterzeichnung eines Reverses bewogen würde des Inhalts, daß er sich in politischen Dingen von unverantwortlichen Elementen nicht fürder werde berathen lassen. Dies Gespräch war privatim am Krankenbette eines gemeinsamen Freundes geführt worden, K. dementirte im Staatsanzeiger die gravirenden Punkte, Bassermann hielt demgegenüber seine Version aufrecht. Das hatte einerseits die größte Erbitterung aller Regierungs- und Hofkreise zur Folge, insbesondere der Prinz von Preußen hat K. noch nach 30 Jahren als Kaiser seine Ungnade deutlichst zu erkennen gegeben. Andererseits brachen die Mitglieder des Oberlandesgerichts zu Ratibor die collegialen Beziehungen zu ihm vollständig ab, erbaten auch beim Minister Kirchmann’s Versetzung, die nicht gewährt wurde. K. lebte in Ratibor von Officieren und Beamten absolut gemieden, die eigenen Untergebenen grüßten ihn nicht. Er entschädigte sich theils durch den Verkehr mit anderen Kreisen der Bevölkerung, in der er höchst beliebt war, insbesondere auch mit einigen feingebildeten und freigesinnten Vertretern der katholischen Geistlichkeit, theils durch reichliche Beschäftigung mit der Musik, die er sehr liebte und deren beste Erzeugnisse er auf dem Flügel meisterhaft zu interpretiren verstand. Ueberdies nahm er als Abgeordneter zur zweiten Kammer im J. 1849 auch die politische Thätigkeit wieder auf, diesmal im großen Stile. Er war seiner objectiven, nüchternen und klaren Art gemäß durchaus Realpolitiker, er hat damals den Feind preußischer Entwicklung, den Scheinconstitutionalismus mit den Mitteln zu bekämpfen gesucht, die nach dem Zeugniß der heutigen Geschichtswissenschaft dem Liberalismus die Macht gesichert hätten, er lehnte sich immer und immer wieder auf gegen den Doctrinarismus und die phrasenhafte Ideologie der fortschrittlichen Mehrheit, er entwickelte dabei vornehmlich ein juristisches Können, wie es in Parlamenten noch selten erhört war; die treffenden Beispiele und praktischen Vorschläge flossen unerschöpft von seinem Munde, er ward nicht müde zu wiederholen, daß das Land nicht hohe Worte sondern Beseitigung der Breschen in seinem erschütterten Rechtszustand nöthig habe – blieb aber damit allein; er war auch hier unzeitgemäß, solche juristische Prosa war der Zeit, die wie keine andere in Deutschland an der belle phrase sich zu berauschen liebte, einfach langweilig. Deshalb kam K. auch nicht wie etwa Waldeck u. a. mit seiner Redeform zu großer Wirkung, da er diese dem Stoff anpaßte. Das Pathos der volltönenden Periode, den Pomp der großen Rede, deren er sich im Vortrag über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz so erfolgreich bedient, hatte er hinter sich gelassen; er fand sie antiquirt; freiere Formen, modernere Formen, muß gleich den anderen Künsten die Redekunst sich suchen: so setzte ers später auch theoretisch auseinander (Aesthetik II, 1867; Ueber parlamentarische Debatten 1876), das Gerede von der Inferiorität der heutigen Parlamentsrhetorik sei verfehlt, man müsse sich sagen, daß auch hier die künstlerischen Ideale evolutiv, entfesselungsweise sich ändern. K. ist so neben Bismarck der Schöpfer und bisher allein der Aesthetiker der realpolitischen Rede.

Als bei der Neubildung der Revisionskammern die Demokratie die Parole der Wahlenthaltung ausgab, suchte K. wenigstenes schriftstellerisch für ihre Gedanken weiter zu wirken; er glaubte jetzt mit Früchten seiner sehr sorgfältig und eingehend zwei Jahrzehnte lang betriebenen volkswirthschaftlichen Studien an die Oeffentlichkeit treten zu können. In den „Demokratischen Blättern“ (April–Juli 1849) erschienen zwei Streitschriften wider Rodbertus: 1. „Die Grundrente in ihrer [171] Beziehung zur socialen Frage“ (diese auch als selbständige Brochure); 2. „Die Tauschgesellschaft“. Letztere ist verloren, der Inhalt kann nur nach Rodbertus’ Erwiderung in dessen 2. socialem Brief festgestellt werden. In der „Grundrente“ behandelt er das Grundrentenproblem in engem Anschluß an Ricardo und Malthus, zu praktischen Vorschlägen gelangen beide kaum, sie sind mehr dogmenkritisch, bekämpfen hergebrachte und mitgeschleppte Irrthümer in den Grundlehren: die „Grundrente“ geht dem Satz zu Leibe, daß mit einer „gerechten Vertheilung der Producte“ die sociale Frage zu lösen sei und die Tauschgesellschaft die Lobpreisung der „productiven Consumtion“. Die Schriften sind eigenartig, aber nicht bedeutend; trotz seiner außerordentlichen theoretischen Bildung, seiner allumfassenden Litteraturkenntniß war K. auf wirthschaftlichem Gebiet einseitig praktisch beanlagt, der Schwerpunkt seiner Wirksamkeit liegt in seiner Betheiligung an den wirthschaftspolitischen Arbeiten des preußischen Abgeordnetenhauses, des Zollparlaments, des norddeutschen und deutschen Reichstags in den Jahren 1862–1872, hier hat er, insbesondere auf verkehrspolitischem Gebiet, eminentes geleistet.

Bereits im J. 1850 verschlimmerten sich Kirchmann’s dienstliche Verhältnisse noch um ein Bedeutendes. Im Hochverrathsproceß gegen den Grafen v. Reichenbach-Goschütz wegen Theilnahme am Stuttgarter Rumpfparlament hatte der Strafsenat zu Ratibor unter Kirchmann’s Vorsitz auf Beschwerde des verhafteten Beschuldigten Einstellung des vom Kreisgericht Oppeln eröffneten Verfahrens und Haftentlassung verfügt; als nun das Obertribunal auf weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft die Einstellung annullirte und das Kreisgericht anwies, das Verfahren von neuem zu eröffnen, der Beschuldigte aber hiergegen hinwiederum Beschwerde erhob, verharrte der Senat zu Ratibor auf seinem ersten Standpunkt, in vollem Einklang mit dem Gesetz, welches die Anfechtung eines vom Senat eines Oberlandesgerichts ergangenen Bescheides der bezüglichen Art mit dürren Worten für unzulässig erklärt. Darauf ward gegen K. und drei Räthe, die mit ihm gestimmt hatten, ein Disciplinarverfahren eröffnet, das Obertribunal stellte sich auf den Standpunkt, seiner Entscheidung hätte trotz deren objectiver Rechtswidrigkeit der Gehorsam nicht verweigert werden dürfen, und so wurden die drei Angeschuldigten mit Geldstrafen, K. selbst auch mit dreimonat1icher Suspension belegt. Der Vorsitz im Strafsenat und sämmtliche Functionen eines Vicepräsidenten wurden K. genommen und einem ihm untergeordneten Rath übertragen: Betheiligung am Generaliendecernat, Vertretung des Chefpräsidenten – was höchst fühlbar war, da der Chefpräsident Wentzel sechs Monate im Jahr als Abgeordneter in Berlin zubrachte –, Vorsitz im Plenum. Das widersprach direct den Vorschriften der Allgemeinen Gerichtsordnung, und daß dies in der vorgesetzten Behörde, obzwar abgeleugnet, doch empfunden wurde, ist schon daraus ersichtlich, daß man es duldete, als K., dem das Verhältniß unerträglich war, zu den Sitzungen des Plenum nie mehr erschien. Noch charakteristischer ist aber, daß man 1855 nach einer zweiten Maßregelung Kirchmann’s – wegen des in einem Zeitungsfeuilleton enthaltenen Bekenntnisses, daß er an seinen demokratischen Gesinnungen noch festhalte – sich herbeiließ, K. einen fünfjährigen Urlaub unter Fortzahlung des ganzen Gehalts zu gewähren, mit der Bedingung, sich aller politischen Agitation zu enthalten und nicht in Berlin oder Königsberg seinen Aufenthalt zu nehmen.

K., der unterdeß schon wieder durch glückliche Verwerthung eines ererbten Gutes ein kleines Vermögen erlangt hatte, kaufte das reizend gelegene Gut Rabenau zwischen Dresden und Tharandt und bewirthschaftete es, büßte aber im Laufe der Zeit sein Geld daran wieder ein; er machte deshalb auch von [172] der Verdoppelung der Urlaubszeit keinen vollen Gebrauch, sondern trat 1862 die Stellung in Ratibor wieder an, nachdem man ihm Wiedereinsetzung in sämmtliche Functionen des Amts gewährt hatte. Kurz vorher war er als Vertreter Breslaus ins Abgeordnetenhaus gewählt worden und hatte selbst in der Budgetcommission auf die schweren etatsrechtlichen Bedenken aufmerksam gemacht, die darin lagen, daß man ihn besoldete, ohne ihn arbeiten zu lassen.

Daß er in der Conflictszeit mit Muth und Einsicht die Interessen der Fortschrittspartei vertrat, erweckte bei seinen Gegnern am Hof und in der Regierung den Wunsch, ihn auf die Dauer unschädlich zu machen. Bereits 1865 wurde ein neues Disciplinarverfahren eingeleitet, weil K. in Leitartikeln der „Breslauer Zeitung“ antimonarchische und regierungsfeindliche Kundgebungen sich hätte zu schulden kommen lassen. Als sich erwies, daß die incriminirten Artikel gar nicht von ihm herrührten, wurden solche, die er vor zwei Jahren veröffentlicht hatte, in die Untersuchung gezogen, doch scheiterte die Absicht auch jetzt, weil die Artikel zwar oppositionell, aber dem sonstigen Inhalt und der Form nach lediglich Muster von Vornehmheit, Loyalität und Patriotismus waren und consequent einen königstreuen und constitutionellen Standpunkt vertraten gemäß dem Grundsatz seiner Politik: „Nicht Majorität, nicht Autorität allein, sondern Autorität mit Majorität!“ Ueberhaupt ist hervorzuheben, daß K. überzeugt war, das Zeitalter sei vielmehr zu Uebertreibungen des Dranges zur Freiheit disponirt als zur Ueberschätzung der Autoritäten, im Staat wie in der Kirche, und danach seine Politik einrichtete. Uebrigens konnte er auch nachweisen, daß er jede publicistische Thätigkeit eingestellt hatte, seitdem vom Obertribunal die Entscheidung ergangen war, daß für einen Beamten jede Aeußerung gegen die bestehende Regierung und deren personale Vertretung unstatthaft sei. Nichtsdestoweniger wurden diese Artikel auch noch mit in die Anklage hineingenommen, als endlich ein Vortrag, den K. als Abgeordneter in einem Arbeiterverein „über den Communismus in der Natur“ hielt, die Gelegenheit gab, ihn zu beseitigen. Der Vortrag war eine Zusammenstellung der quietiven Recepte eines gedankenlos optimistischen Liberalismus, es könnte Kirchmann’s Andenken nicht schaden, hätte er ihn nicht gehalten. Er empfahl den Arbeitern Reform statt Revolution, Zufriedenheit und Mäßigung, weil Reichthum auch nicht glücklich mache, endlich Einschränkung der Kinderzahl. Das wurde ihm als Verletzung der Sittlichkeit und Anreizung zur Begehung strafbarer Handlungen ausgelegt, wiewol er ausdrücklich betont hatte, daß er – was wol nicht gesagt zu werden brauche – verbotene oder auch nur schädliche Mittel aufs schärfste verurtheile. In der That waren offensichtlich Kirchmann’s Motive die edelsten, er wollte die Arbeiter ermuthigen, der ethisch besseren Lebenshaltung der höheren Classen im Geschlechtsverkehr nachzueifern, sie sollten, sagte er, wie jene, Zügelung des Triebs an Stelle viehischer Rohheit anstreben, und er hat mit der hinreißenden Gewalt eines im Innersten bewegten Gemüths das Elend in kinderreichen Proletarierfamilien geschildert, wo unter Scenen des Schreckens und der Qual der Tod gutmachen muß, was Wollust verbrochen. Trotzdem ist K., nachdem man ihn im ganzen Laufe des Verfahrens, während dessen er zehn Monate lang suspendirt war, unloyal behandelt, auch in der Vertheidigung beschränkt hatte, zur Amtsentsetzung unter Verlust aller Pensionsansprüche vom Disciplinarhof des Obertribunals verurtheilt worden (26. Februar 1867). Auch hinsichtlich der politischen Artikel erlangte er einen Freispruch nicht, es hieß vielmehr: da schon der andere Punkt die höchste Strafe rechtfertige, so sei es überflüssig, darüber zu erkennen.

[173] So war K. aus dem Amt verdrängt. Der Nebenzweck, ihn auch finanziell zu ruiniren, wurde aber nicht erreicht. Eine ihm angetragene Nationalspende von 90 000 Thalern lehnte der 64jährige ab. Seine glänzende Begabung für finanzielle Dinge – sie brachte ihm Anträge, in die Directorien von Bankhäusern einzutreten, was er aber ablehnte – ermöglichte es ihm, den Rest seiner Mittel durch Speculationen beträchtlich zu vermehren, sodaß er einen behaglichen Lebensabend genießen konnte.

Er siedelte nach Berlin über, wo er im Hause Potsdamerstraße Nr. 1, eine stadtbekannte Erscheinung, bis zu seinem Tode gewohnt hat, und widmete seine Thätigkeit, wie er schon in Rabenau gethan, hauptsächlich der Philosophie, daneben der Arbeit im Parlament. 1864 setzt die Reihe seiner philosophischen Schriften ein mit der „Philosophie des Wissens“, es folgen 1865 der „Versuch über die Unsterblichkeit“, 1867 die „Aesthetik auf realistischer Grundlage“ in zwei Bänden, nebenher und später eine lange Reihe kleinerer Schriften, insbesondere Vorträge in der Philosophischen Gesellschaft, z. B. über Hartmann’s Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins (besonders werthvoll), über Wahrscheinlichkeit, über die Gegenständlichkeit der in den Sinneswahrnehmungen enthaltenen Eigenschaften der Dinge (gegen Helmholtz, R. Mayer und den Materialismus in der Naturwissenschaft), über die besondere Natur des öffentlichen Rechts, über den Streit der philosophischen Systeme u. a. m. Einem wahren Bedürfniß kam er entgegen mit der Herausgabe der „Philosophischen Bibliothek“, die meisten Ausgaben in dieser hat er, einschließlich der Commentare, selbst besorgt. Seine volle Kenntniß der lateinischen, griechischen, französischen, englischen und italienischen Sprache gestattete ihm, die fremden Autoren leicht und schnell zu übersetzen; er hat da eine gewaltige Arbeit geleistet; man bedenke, daß er dabei noch als Einleitung zum Ganzen eine „Lehre vom Wissen“, als Einleitung zum Studium der moral- und rechtsphilosophischen Werke die „Grundlagen des Rechts und der Moral“ beigab, beides umfangreiche Abhandlungen! Die Uebersicht seines Systems lieferte er in dem klaren, beliebt gewordenen „Katechismus der Philosophie“. (In Weber’s Katechismen.)

In allen Kreisen der Hauptstadt fand K. freundschaftlichen Anschluß. Was in Berlin eines Namens sich erfreute, verkehrte in seinem gastfreien Hause, dessen heitere Geselligkeit freilich auf ein beschränktes Maß zurückgeführt wurde, als am 5. November 1880 seine Gattin starb, die er aufs innigste geliebt, und die diese Liebe stets aufs höchste verdient hatte. In Beziehungen enger Freundschaft stand das Kirchmann’sche Ehepaar vor allem zu Franz Ziegler und Adolf Lasson, mit Windthorst und R. Wagner bestand ein auf gegenseitige Hochschätzung gegründetes Verhältniß, mit E. v. Hartmann pflog K. eine lebhafte philosophische und freundschaftliche Correspondenz. Besonderer Sympathien erfreute er sich in der Philosophischen Gesellschaft, für die er viel gethan und die ihn dafür ehrte, indem sie ihn lange Jahre hintereinander zu ihrem Vorsitzenden machte.

Erholung und Abwechselung brachten K. nächst der Musik wiederholte Reisen, deren einige er in ein paar lesenswerthen Büchlein beschrieben hat (Nach Constantinopel und Brussa 1855, Einnerungen an Italien 1865, Verschiedenes in „Zeitfragen und Abenteuer“ 1882, hier insbesondere „Im Winter auf Sylt“). Sie, neben einer anspruchslosen, minutiös geregelten Lebensweise, erhielten seinen Körper widerstandsfähig; er verrichtete enorme Arbeit, hatte dabei immer und für alles Zeit, war nie krank, abgesehen von einer schweren Lungenentzündung, die er 73jährig überstand – übrigens ein schlanker, feingebauter Mann von höchstens mittlerer Größe. In der Schweiz warf ihn im [174] Sommer 1882 die Anstrengung einer allzustarken Fußtour aufs Krankenlager, eine neue Lungenentzündung hielt ihn fünf Monate lang zwischen Tod und Leben. Nach Berlin zurückgekehrt, lebte und arbeitete er noch ein Jahr, sein letztes, im Kampf mit immerwährenden schweren Leiden gefertigtes Werk war die Uebersetzung der Comte’schen Sociologie in dem Autszug von Rig, das er bis auf die letzten Correcturen noch beendete. Am 20. October 1884 riß ihn der Tod aus unermüdetem Schaffen.

K. hat eine philosophische Lebensarbeit hinterlassen, die, weil er der Zunft fernstand, zu wenig gewürdigt worden ist, wiewol schon seit Mitte der 70er Jahre die gewichtige Autorität Eduard v. Hartmann’s ihren Werth bezeugt. Obwol seiner Natur nach vorwiegend zur einzelwissenschaftlichen Forschung und Leistung beanlagt, hat K. sich dennoch als Philosoph erwiesen insofern, als er Schöpfer eines eigenen Systems geworden ist. Und zwar begründete er einen Realismus. Wie Herbart stellt er an die Spitze seiner Weltansicht den unüberbrückbaren Gegensatz von Wissen und Sein. Im übrigen ist seine Philosophie wesentlich erbaut auf positivistischen und sensualistischen Grundlagen, sie sucht einen selbständigen Anschluß an Kant und wird allenthalben geführt von einem sehr energischen, oft originellen, leuchtkräftigen Kriticismus. Schelling und Hegel gegenüber markirt sie einen schroffen Gegensatz, der indessen nicht überall festgehalten werden kann. In der Wahrnehmung geht der Seinsinhalt in Wissensform über, wobei er numerisch identisch bleibt, die Wissensinhalte werden vom Denken zu verschiedenen Zwecken bearbeitet, vornehmlich zu dem der Vergewisserung über ihr Sein (welche man Wissenschaft nennt). Das Wahrgenommene ist, das sich Widersprechende ist nicht – dies sind die beiden unverrückbaren Fundamentalsätze des Realismus wie jedes vernünftigen Denkens.

K. übernimmt mit einigen interessanten Modificationen die Kategorienlehre Kant’s und benutzt sie zu wirkungsvoller Polemik gegen verschiedentliche Hauptpositionen des Dogmatismus. Hingegen widersetzt er sich sehr bestimmt der Kant’schen Auffassung von Raum und Zeit; der Raum muß nach ihm als etwas nicht bloß empirisch, sondern auch transcendental Reales aufgefaßt werden, die Zeit aber als eine vierte Dimension des Raumes; alsdann, meint er, lösen sich die in den Begriffen des Raums und der Zeit, des Werdens, der Kraft u. s. w. von der bisherigen Phisosophie constatirten Widersprüche. Das Sein aller Dinge ist dann ein gleichzeitiges und ewiges, allein zu Bewußt-Sein gelangt immer nur ein schmaler Ausschnitt alles Seienden. K. huldigt somit einer im Grunde indifferentistischen Unsterblichkeitslehre, er will aber hypothetisch eine optimistische zulassen, da das Seiende wahrscheinlich begrenzt und bei ewiger Bewegung des Wissens daher eine Wiederkehr alles Bewußt-Seins in gewissen Zwischenräumen nöthig ist; hierbei sei eine jedesmalige Vervollkommnung nicht ausgeschlossen; K. kommt hier der Hartmannschen Lehre von der Wiederkehr des Weltprocesses insofern nahe, als auch dort die Wahrscheinlichkeit einer Tendenz zum guten Ende statuirt wird, nur ist dies gute Ende bei Hartmann das Verharren des All-Einen im Unbewußten, das Nichtmehrwiederkehren des Weltprocesses, bei K. die Aufhebung des Weltprocesses durch Integration alles Bewußtseins in einer zeitlosen, seligen Ewigkeit. Sehr wichtig ist Kirchmann’s Ausfall gegen das Ueberhandnehmen der Atomistik in der modernen Naturwissenschaft. Nur ihre einseitige Bevorzugung sei daran schuld, daß man über das Wesen der Qualitäten keine Kenntnisse habe, und daß eine Frage wie die der Entstehung des Organischen aus dem Anorganischen zum „Welträthsel“ gestempelt werden konnte. Würde man neben und über der atomistisch-mathematischen Methode eine monadologische cultiviren, [175] die, wie es bei Leibniz u. a. geschieht, eine Theorie über das Verknüpftsein geistiger und körperlicher Sphären möglich macht, so wäre der Boden für eine naturwissenschaftliche Lösung der Frage bereitet.

In seiner Ethik nimmt K. von Kant den Kampf gegen den Eudämonismus auf; das Sittliche ist lediglich auf Gefühle der Achtung, nicht auf solche der Furcht zu gründen. Er durchschaut aber – wol als erster – den schweren Fehler, in den Kant’s Ethik durch das Festhalten am Naturrechts- und Naturmoralglauben geräth, sodaß der rein formale Charakter seiner ethischen Kategorien nicht consequent durchgeführt ist. Statt der Autonomie setzt K. daher für die empirische Welt die Heteronomie ein; in sich selbst findet der Mensch ein materielles Princip des sittlichen Handelns nie, „Achtung vor dem Gesetz um seiner selbst willen“ ist eine inhaltsleere Phrase; soviel man positiv-geschichtlich sehen kann, läuft alles sittliche Handeln und Urtheilen auf die Achtung vor Autoritäten hinaus, vor Inhabern einer für den Untergebenen unermeßlichen Macht, die ihrerseits nicht nach Achtung, sondern nach Lust handeln. Da aber nicht bloß im Wesen der Achtung liegt, daß der Untergebene in der Autorität aufzugehen, mit ihr eins zu sein strebt, sondern andererseits die Autoritäten – abgesehen von dem gleich zu berührenden System des Autoritätengleichgewichts – als Kinder ihrer Zeit und Nation dem Volksgeist conform handeln, so ist nicht etwa Willkür die Krönung, sondern es besteht wirklich eine sittliche Welt. Transcendentale Autonomie, empirische Heteronomie – so wird man schließlich am besten Kirchmann’s ethische Principienlehre charakterisiren. Die Autoritäten sind der Familienvater, das Priesterthum, die Fürstenmacht und das Volk, sie folgen einander historisch; entsprechend sind Pietät, Kirchlichkeit (Lehns- und patriotische), Treue und patriotische Loyalität die historischen Formen der Sittlichkeit. Das Recht entsteht, indem die Motive der Achtung durch Motive der Lust künstlich unterstützt werden. Der Kampf der Autoritäten, der in der Geschichte zu wechselnden Machtculminationen führte, kann nicht durch vollen Sieg der einen entschieden werden, das Bedürfniß der Menschheit würde die besiegten immer wieder aufrichten; erträglich ist allein die Combination der Autoritäten, die stete Spannung mit steten Ausgleichen. Die wichtigsten Autoritätencombinationen sind Staat und Kirche, beide befassen drei Einzelautoritäten in sich, jener familienväterliche, fürstliche, völkische, diese familienväterliche, völkische und priesterliche; sie rangiren gleichberechtigt neben einander. Der Ausg1eich zwischen Fürsten- und Volksautorität ist die Constitution, der Ausgleich zwischen Staat und Kirche ist das Concordat. Der Glaube des Liberalismus, ohne Kirche auskommen zu können, ist Verblendung, für kleine Kreise Hochgebildeter ist sie entbehrlich, das Volk kann vom Staat allein weder in Zucht noch in Glück erhalten werden. Der Liberalismus darf sich nicht dem Staat in die Arme werfen wollen, um die Kirche zur Ohnmacht zu schwächen; das will der Staat selbst nicht, aber die ihn leitenden Vertreter rein autoritativen Princips werden sich, sobald sie ihre nächsten Zwecke erreicht haben, mit dem auch rein autoritativen Clerikalismus verbinden, um den beiden verhaßten Freiheitsgedanken zu zermalmen. Das ist verderblich, weil es zwar beileibe kein materielles Freiheitsprincip und kein materielles Autoritäts- und Ordnungsprincip gibt, jedoch eben deshalb die beiden idealen Grenzwerthe Freiheit und Ordnung bei ihrem nothwendigen Antagonismuos in stetem Gleichgewicht erhalten werden müssen. Unwahr ist, daß Liberalismus und Protestantismus natürliche Bundesgenossen oder Genossen in besserer Cultur, der Protestantismus ist nicht besser als der Katholicismus, so wenig wie das Christenthum besser als andere Religionen hochstehender Völker, jede Religion hat zum Gefäß höchster Glaubensideale und rohester Superstition hergehalten. [176] Solchen Anschauungen gemäß stimmte K. gegen die Maigesetze und gegen deren Verschärfungen; dies brachte ihm zwar begeisterte Huldigungen aller vaticanisch-katholischen Kreise im Reich und Anerkennung seitens der Kaiserin, aber auch den Verlust seiner Mandate für das Abgeordnetenhaus und für den Reichstag, nachdem er sich noch 1869/70 durch hervorragende Mitarbeit am Strafgesetzbuch bewährt hatte (vgl. auch K., Strafgesetzbuch f. d. Nordd. Bund mit Anhang betr. St. G. B. f. das deutsche Reich), Mandate, die ihm durch die bis dahin zu wahrer Verehrung gesteigerte Anhänglichkeit der Breslauer Bürgerschaft im Wahlkampf fortdauernd sicher gewesen wären. Er blieb der Partei gegenüber so fest wie früher der reactionären Regierung gegenüber, auch seine positive Haltung in der evangelischen Kirchenpolitik hielt er fest, so viel er auch von den liberalen Parteifreunden darum zur Rede gestellt wurde; auf gut-altrationalistisch meinte er, daß dem Volk die Religion erhalten bleiben müßte und daß dazu die alten Dogmen erforderlich seien, welche durch Weiterbildung ihre Würde einbüßen müßten; zur Gründung einer neuen Religion oder auch nur zu einer Reformation im großen Stil werde der um sich greifenden Aufklärung halber keine Zeit mehr fähig sein. (Schriften v. Kirchmann’s zu diesem Thema: Der Culturkampf und seine Bedenken 1875. Die parlamentarischen Formen in der evangelischen Kirche 1878, gerichtet gegen die synodalen Institutionen, die das Dogma gefährdeten. Die Reform der evangelischen Kirche in Lehre u. Verfassung m. Bez. auf d. Preuß. Synodalordnung 1876.)

Beim Gebildeten ist das religiöse Bedürfniß nicht so dringend, weil er sich im Genuß des Schönen Erhebung schaffen kann. Sie war für K. selbst edelste Freude, schon als Knabe zeigte er außerordentlichen Sinn für das Schöne, und der Greis hat in seiner Philosophie die Linien der Aesthetik am sorgsamsten ausgezogen. „Auf realistischer Grundlage“ tritt sie der traditionellen idealistischen Aesthetik schroff entgegen, kein Punkt, wo nicht all deren Theorien befehdet werden, doch dürften sich die Widersprüche wol an manchen Stellen ausgleichen lassen. Die Gefühle dienen nicht lediglich zur Erregung von Handlungen, das thun vielmehr nur die realen Gefühle, zu ihnen im Gegensatz und in Parallele stehen die idealen Gefühle, die vom Erlebniß des realen dann hervorgerufen werden, wenn das reale als Schönes gefaßt wird. Dies geschieht durch Verbildlichung (μίμησις) und dadurch, daß es als Ausdruck von Seelischem genommen wird. Nebensächlich, aber doch unerläßlich ist eine sinnlich angenehme Gesammtwirkung. Danach ist das Schöne zu definiren als das sinnlich angenehme, idealisirte Bild eines seelenvollen Realen. Die Merkmale dieses Begriffs verfolgt K. in ihre Besonderung und zeigt ihre Bedeutung an einzelnen vorbildlichen Kunstwerken und Naturschönheiten, wobei er stets einen höchst geläuterten, vielseitigen Geschmack beweist. Der Werth des Werks verstreut sich dann freilich auf gute Bemerkungen und auf die Einzelergebnisse eindringender Analyse, es fehlt dagegen an systematischer Geschlossenheit, sodaß das philosophische Interesse nicht auf seine Rechnung kommt; wer den Nutzen ziehen will, muß der Darstellung in ihre feinen Verzweigungen und in die Maschen der Begriffseintheilung folgen.

Ueberhaupt ist analytischer Scharfsinn, wie E. v. Hartmann sehr richtig erkannt hat, die starke Seite in Kirchmann’s System; die Synthese läßt zu wünschen übrig. An Methode fehlt es nicht, aber Phantasie und erhebende oberste Gesichtspunkte werden vermißt. Dies hängt mit Kirchmann’s Auffassung vom Wesen der Philosophie zusammen, die er mit einer seit Spinoza unerhörten Energie zur obersten Einzelwissenschaft zu machen bemüht war. Voll grundehrlichen Wahrheitsstrebens, voll eines Vertrauens, die Wahrheit, ganze Wahrheit ergründen zu können, das nicht anders als fromm genannt [177] werden kann, suchte er die Mittel schöner Darstellung, die er doch trefflich zu handhaben verstand, in den philosophischen Schriften ängstlich zu vermeiden. Die Forderung, daß Aesthethik selber schön, Ethik erhaben sein solle, war ihm eine Blasphemie. Er hat so seiner Philosophie schwer geschadet, weil er den Leser zwingt, aus seinen überschlichten, gesucht methodischen Worten die großen und tiefen Gedanken auszusieben, die drin sind, denen er sich nicht hat entziehen können, und die wie jeder Philosophie auch der seinigen den philosophischen Werth geben, den sie in der That besitzt.

Lasson u. Meineke, K. als Philosoph 1885. – E. v. Hartmann, Herrn v. Kirchmann’s erkenntnißtheoretischer Realismus (weist u. a. den starken idealistischen Einschlag in Kirchmann’s Philosophie nach). – Die Agitation gegen Hn. v. K. Breslauer Morgenztg. 1865, Nr. 214. – Michelet im letzten Heft seiner Ztschr. „Der Gedanke“. – Zu Kirchmann’s hundertstem Geburtstag (5. Novbr. 1902): Bericht über das 59. Vereinsjahr der philos. Gesellsch. zu Berlin. Z. Erinn. an J. v. K. Germania 1902, Nr. 257. - J. H. v. K. zu seinem 100. Geburtst. Berl. Tagebl. 1902, Nr. 563. – J. v. K. Breslauer Morgenztg. 1902, Nr. 519. – Voss. Ztg. 1902, Nr. 520. – Grätzer, J. H. v. K. Frkf. Ztg. 1902, Nr. 307. – Philosoph u. Parlamentarier. Z. Gedächtn. von J. v. K. Verl. des Vereins „Waldeck“ 1903. – Nekrologe: Nationalzeitung Nr. 582 u. 665 (von Lasson). – Zum 30jährigen Gedächtniß der Amtsentsetzung: Aus alten Disciplinaracten, Vorwärts 1897, Nr. 267. – Autobiographisches (außer den im Text genannten Reisebeschreibungen): Actenstücke zur Amtsentsetzung des Präs. v. K. 1867. – Bericht an die Wähler des Niederunger Kreises 1849. – Bericht an die Wähler Breslaus 1865. – In großem Umfange sind ungedruckte Quellen benutzt.