ADB:Selle, Christian Gottlieb

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Artikel „Selle, Christian Gottlieb“ von Julius Pagel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 682–684, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Selle,_Christian_Gottlieb&oldid=- (Version vom 25. April 2024, 15:41 Uhr UTC)
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Selle: Christian Gottlieb S., Arzt und philosophischer Schriftsteller, hieß eigentlich Sell, schrieb sich aber wahrscheinlich des Wohlklanges wegen Selle. Er ist als Sohn eines Grobschmiedes am 7. October 1748 zu Stettin geboren und kam schon von seinem 6. Lebensjahre an, wo seine Wittwe gewordene Mutter sich mit einem Apotheker Koehler in Berlin verheirathete, nach Berlin, erlernte hier bei seinem Stiefvater gleichfalls die Pharmacie und sollte als Gehülfe bereits nach Karlskrona in Schweden auswandern, als der Zufall diese Absicht vereitelte und S. in Berlin bei seinem Vater weiter verblieb. Er erhielt von diesem die Erlaubniß, nebenher medicinische Vorlesungen an der Universität zu hören, entschloß sich dann zu einem regelmäßigen Studium der Heilkunde in Göttingen, wo er u. a. besonders Schüler von Schroeder war und sich speciell mit der Fieberlehre beschäftigte, die auch den Inhalt der Dissertation „Methodi febrium naturalis rudimenta“ bildet, auf Grund deren er 1770 in Halle die Doctorwürde erlangte. Eine Erweiterung dieser Arbeit führte zu der bekannten Schrift „Rudimenta pyretologiae methodicae“ (Berlin 1773, 3. Aufl. ebenda 1789), die S. wenige Jahre, nachdem er sich in Berlin als Arzt niedergelassen hatte, publicirte und die ihm neben einigen anderen schriftstellerischen [683] Arbeiten, einer Uebersetzung von Brocklesby’s „Medicinischen und ökonomischen Beobachtungen zur Verbesserung der Kriegslazarethe“ (Berlin 1772) und Cadogan’s Abhandlung „Von der Gicht“, wegen der darin documentirten Gelehrsamkeit und der Klarheit, mit der sie geschrieben war, einen bedeutenden Ruf verschaffte. Die genannte Arbeit erfuhr auch Uebersetzungen ins Französische (von Nauche, Paris 1802 und 1817, von Montblanc, Lyon 1802, von Clanet, Toulouse 1802). 1774 erlangte er auf Empfehlung des Dr. Stosch eine Stellung als ärztlicher Reisebegleiter der Braut des Großfürsten Paul, der Prinzessin von Darmstadt, nach St. Petersburg, wurde nach seiner Rückkehr Arzt des Fürstbischofs von Ermeland mit dem Aufenthalt in Heilsberg, gab aber dieses Amt 1777 auf und kehrte nach Berlin zurück, wo er seine ganze übrige Lebenszeit bis zu seinem am 9. November 1800 an der Schwindsucht erfolgten Tode zubrachte. Nur zweimal hatte er später Veranlassung, auf kürzere Zeit zum Theil aus amtlichen Gründen außerhalb Berlins zu verweilen. Auf Empfehlung des ihm befreundeten Leibarztes Muzel wurde S. trotz der Gegnerschaft von Cothenius zum Arzt an dem Charitékrankenhause ernannt, wo er eine ausgedehnte praktische Wirksamkeit entfaltete, die ihm zugleich das Material zu seinem berühmten, von 1781–1801 im ganzen achtmal aufgelegten, auch ins Französische (von Coray, Montpellier 1796) und ins Lateinische (von Curt Sprengel, Berlin 1797) übersetzten Werke lieferte: „Medicina clinica oder Handbuch der med. Praxis“ (sämmtliche 8 Auflagen in Berlin erschienen), sowie zu seinen weiteren „Neue Beyträge zur Natur- und Arzneywissenschaft“ (Th. 1, 2. 1782; Th. 3, 1786; französ. von Coray, Paris 1796) betitelten Arbeiten, die in der Geschichte unserer Wissenschaft besonders wegen der verdienstvollen Leistungen zur Lehre vom Kindbettfieber ein gewisses Andenken besitzen. Nach dem Tode Muzel’s wurde S. sein Nachfolger als Leibarzt Friedrich’s des Großen, den er bis zu seinem Tode behandelte. Die in dieser Eigenschaft verfaßte „Krankheitsgeschichte des höchstseligen Königs von Preußen Friedrich’s II. Majestät“ (Berlin 1786) ist bekannt. Auch König Friedrich Wilhelm II. wählte S. zu seinem Arzte. 1780 machte er mit dem berühmten Naturforscher Prediger Herbst eine Reise nach Paris und wurde hier gerade Zeuge der Scenen der großen Revolution. 1795 bereiste er im Auftrage des Königs Südpreußen (im jetzigen Königreiche Polen), um die Ursachen der großen Mortalität in dieser Provinz und den Zustand der dortigen Hospitäler zu untersuchen, wofür er Titel und Rang eines Königlichen Geheimen Rathes erhielt. 1798 wurde er von König Friedrich Wilhelm III. zum zweiten Director des Collegium medico-chirurgicum ernannt. Seit 1786 war S. auch Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften und 10 Jahre lang Director der philosophischen Classe dieser Körperschaft. Die schriftstellerische Thätigkeit Selle’s beschränkte sich nicht bloß auf die Heilkunde. Bekannt, wenn auch nicht gerade von derselben Bedeutung, sind seine philosophischen Arbeiten, in denen er sich als Gegner der damals gerade Aufsehen erregenden Kantschen Kritik der reinen Vernunft und von dessen transcendentalem Idealismus bekannte. Er schrieb: „Philosophische Gespräche“ (2 Theile, Berlin 1780), ferner „Grundsätze der reinen Philosophie“ (ebenda 1788), sowie eine Reihe von kleinen Abhandlungen, theils in der Berlinischen Monatsschrift (1783 bis 1790), theils in den Memoiren der Akademie der Wissenschaften. Auch seine „Urbegriffe von der Beschaffenheit, dem Ursprunge und Endzwecke der Natur“ (Berlin 1776) und „Einleitung in das Studium der Natur- und Arzneiwissenschaft“ (ebenda 1777, 2. Aufl. 1787, französisch von Coray, Montpellier 1795) enthalten zum Theil philosophische Betrachtungen. In rein medicinischer Beziehung sind noch erwähnenswerth die Uebersetzungen von Pott’s „Chirurg. Wahrnehmungen“, von Janin’s „Physiologische und physicalische Abhandlung [684] und Beobachtungen über das Auge“ (Berlin 1776), sowie von de la Roche’s Untersuchungen über die Natur und Behandlung des Kindbetterinnenfiebers (ebenda 1785), endlich ein Aufsatz über thierischen Magnetismus im Jahrgang 1789 der Berliner Monatsschrift. – Bemerkenswerth ist noch, daß S. ein großer Freund der englischen Sprache war. – Zu seinen Ehren las Merian an der Berliner Akademie der Wissenschaften nach Selle’s Tode einen längeren „Eloge“. – S. war dreimal verheirathet, 1778–1792 mit einer Tochter des berühmten Anatomen Meckel, von 1792–1798 nach dem Tode der ersten Frau mit einer Schwester derselben und von 1798 ab mit einer geborenen Dacke, die ihn überlebte. Nur aus erster Ehe hatte S. Kinder, von denen eine Tochter an den berühmten Berliner Professor und Bibliothekar Buttmann verheirathet war.

Gurlt im Biograph. Lexikon hervorr. Aerzte etc. V, 356 und die daselbst genannten Quellen, ferner Sprengel’s Versuch einer Geschichte der Arzneikunde, 3. Aufl. V, 439, 520, 540, 605 u. 678 u. Haeser’s Lehrbuch der Geschichte 3. Aufl. II, 622.