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ADB:Sieveking, Amalie

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Artikel „Sieveking, Amalie Wilhelmine“ von Carl Bertheau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 217–220, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sieveking,_Amalie&oldid=- (Version vom 4. Oktober 2024, 21:24 Uhr UTC)
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Sieveking: Amalie Wilhelmine S., gewöhnlich Amalie S. genannt, Vorsteherin des von ihr gegründeten „Weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege“ in Hamburg, ist am 25. Juli 1794 zu Hamburg geboren und starb [218] daselbst am 1. April 1859. Ihr Vater war der Senator Heinrich Christian S., ein Bruder des Kaufmanns Georg Heinrich S. (vgl. unten S. 220) und des Syndikus Johann Peter S. (vgl. unten S. 224); ihre Mutter eine Tochter des Senators Peter Diedrich Volckmann. Im 5. Jahre verlor sie ihre Mutter und im 15. Jahre ihren Vater; sie wurde nach dem Tode des Vaters zunächst zu Fräulein Dimpfel, einer Schwägerin Klopstock’s, in Pension gethan, kam aber schon nach zwei Jahren (1811) zu einer Verwandten ihrer Mutter, der verwittweten Frau Brunnemann, ins Haus, mit welcher sie bis zu deren Tode im J. 1839 zusammen wohnte, und die ihr eine treue mütterliche Freundin gewesen ist. Infolge des Todes ihres Vaters wurde sie auch von ihren Brüdern getrennt, was ihr großen Schmerz bereitete; als die Brüder Hamburg verließen, hat sie durch brieflichen Verkehr mit ihnen die innige Gemeinschaft aufrecht erhalten, in der die Geschwister einander an ihren Lebenserfahrungen Antheil nehmen ließen und einander berathend und fördernd zur Seite standen. Der ältere Bruder, Eduard Heinrich, kam früh auf ein Comptoir in London und ward dort Theilhaber an einem größern kaufmännischen Geschäfte; er starb dort im J. 1868 und hinterließ Söhne und Enkel, durch die er Stammvater des englischen Zweiges der Sieveking’schen Familie geworden ist. Ihr jüngerer Bruder, – zwei andere Brüder waren vor dem Vater gestorben, – Gustav Adolf, ging Ostern 1815 zum Studium der Theologie nach Leipzig und von hier Ostern 1816 nach Berlin, wo er am 1. Mai 1817 starb. Die Geschwister waren in dem damals üblichen Rationalismus erzogen; Amalie, die von früh an das Bedürfniß hatte, sich alle Dinge klar zu machen und sich von ihren Ansichten genau Rechenschaft zu geben, verhielt sich lange den eigentlichen christlichen Lehren gegenüber abwehrend. Als ihr heißgeliebter Bruder Gustav in Berlin unter Schleiermacher’s Einfluß sich entschieden der positiven Richtung zuwandte, ward sie bange, er könne ein Mystiker werden; doch fand sie selbst schon damals in dem, was ihr die s. g. Vernunftreligion bot, kein Genüge mehr. Seit dem Tode ihres Bruders Gustav, der sie mit außerordentlicher Trauer erfüllte, kam über ihr ganzes Wesen ein ihren heiteren, fröhlichen Sinn manchmal erdrückender Ernst; das Verlangen, wieder mit ihm vereint zu werden, weckte eine Sehnsucht „nach oben, nach oben hin!“ „Fürchte indeß nicht“, so schrieb sie an eine Freundin, „daß dies Sehnen verzehrend auf mich wirke; ich fühle mich noch lange nicht rein genug, einzugehen in die Gemeinschaft des selig Verklärten, fühle noch in mir Beruf, zu leben und zu wirken für die Erde.“ In dieser Stimmung machte sie sich, durch Thomas a Kempis’ Nachfolge Christi auf die Bibel gewiesen, an ein genaueres Studium derselben, wobei sie durch August Hermann Francke’s kurzen Unterricht, wie man die heilige Schrift zu seiner wahren Erbauung lesen solle (der noch immer vor den Ausgaben der v. Canstein’schen Bibelanstalt abgedruckt wird), sich zu einer fruchtbaren Beschäftigung mit der Bibel anleiten ließ. Ihren eigentlichen Beruf fand sie im Unterricht junger Mädchen, mit welchem sie schon während ihres Aufenthaltes bei Fräulein Dimpfel begonnen hatte, und den sie mit nur ganz geringen Unterbrechungen bis zu ihrem Tode fortgesetzt hat. Sie hatte gewöhnlich eine Classe von Töchtern aus den bessern Ständen, die sie ganz klein um sich sammelte und dann bis zur Confirmation unterrichtete. Grade die Beschäftigung mit den Kindern, denen sie auch den Religionsunterricht selbst ertheilte, hielt das Verlangen, zu allen religiösen Fragen eine klare Stellung zu gewinnen, rege; um die Zeit des in der deutschen evangelischen Kirche wieder erwachenden kirchlichen Lebens gewann auch sie volle Freudigkeit zum evangelischen Bekenntniß; „einige Zweifel blieben mir“, so sagt sie selbst, „anfangs noch übrig über die Versöhnungslehre, doch wurden sie mir später auch gelöst.“ Mit dieser Umwandlung hing es zusammen, daß sie im Frühjahr 1823, als sie [219] in ihrem 29. Lebensjahre stand, den Vorsatz faßte, eine barmherzige Schwesterschaft innerhalb der evangelischen Kirche zu gründen; ein solcher „im Namen des Herrn geschlossener Liebesverein“ sollte einerseits das neuerwachte kirchliche Leben fördern und befestigen und andrerseits der großen Zahl alleinstehender und im Grunde unbeschäftigter Mädchen in den höhern Ständen einen wichtigen und sie innerlich befriedigenden Lebensberuf schaffen. Sie überlegte diesen Plan zunächst mit dem Professor der Geschichte am akademischen Gymnasium in Hamburg, Karl Friedrich August Hartmann (geb. 1783, † 1828); hernach besprach sie ihn mit Johannes Goßner (s. A. D. B. IX, 407), als dieser im Sommer 1824 längere Zeit in Altona lebte. Bei beiden Männern fand sie verständnißvolle Theiluahme; mit dem letztem correspondirte sie dann noch weiter über die Sache, doch rieth ihr namentlich dieser, nichts zu übereilen. Als sie um diese Zeit das von Friedrich Stolberg herausgegebene Leben des Vincentius von Paula (München 1818) las, tröstete es sie, daß auch dieser langsam zu Wege gegangen war und den Willen Gottes erst genau zu prüfen pflegte. Wie sie es sich ursprünglich gedacht hatte, hat sie ihren Plan nicht auszuführen vermocht; bekanntlich geschah dies dann im J. 1836 von Theodor Fliedner (s. A. D. B. VII, 119) in Kaiserswerth a. Rh. durch Gründung der ersten evangelischen Diakonissenanstalt. Doch gelang es Amalie schon vorher, wenigstens einen Verein zu gründen, der, wenn auch nicht in der Form einer Schwesterschaft, doch den Gedanken, weibliche Kräfte zur Uebung dienender Liebe zu vereinigen, verwirklichte. Als die Cholera im J. 1831 auch in Hamburg ausbrach, glaubte sie zunächst, zu der Ausführung ihres Planes nun einen vorbereitenden Anfang machen zu sollen; da aber auf ihren „Aufruf an christliche Seelen, sich mit ihr zur Krankenpflege im christlichen Geiste zu vereinigen“, den sie im „Bergedorfer Boten“, einem damals in den kirchlich angeregten Kreisen Hamburgs und der Umgegend verbreiteten Blatte, erließ, sich Niemand meldete, bot sie sich selbst bei der Direction eines für Cholerakranke erbauten Hospitals als Pflegerin an und ward am 13. October 1831 zum Eintritt gerufen, als die erste weibliche Kranke aufgenommen war. Selbst in den Kreisen der ihr Nahestehenden sah man in diesem Schritt anfänglich vielfach nur wunderliche Schwärmerei; sie aber gewann sich durch ihre Treue und Tüchtigkeit und durch ihr verständiges und nach allen Seiten hin gewinnendes Verhalten bald so sehr das Vertrauen der dem Hospital vorgesetzten Aerzte, daß man sie zur Oberaufseherin über das gesammte männliche und weibliche Wärterpersonal ernannte; und als sie nach wohlvollbrachter Arbeit am 7. December ihre Stellung wieder verließ, war man ganz allgemein voll Staunen über das, was sie geleistet hatte. Sie selbst aber hatte gemerkt, daß es noch nicht für sie möglich sei, eine evangelische Schwesterschaft ins Leben zu rufen; dagegen unternahm sie es jetzt, durch die Anerkennung, die ihr ward, dazu ermuthigt, ihr gleichgesinnte Frauen und Jungfrauen zur Gründung eines „weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege“ zu gewinnen. Nachdem sie die Sache mit einer größeren Anzahl solcher, bei denen sie für ihre Absicht Verständniß hoffte, besprochen hatte, und zunächst zwölf sich hatten willig finden lassen, die Sache anzufangen, versammelte sie diese am Mittwoch, den 23. Mai 1832, in der Wohnung ihrer Pflegemutter und eröffnete die Versammlung mit einer Anrede, in welcher sie die Grundsätze des Vereins, wie sie sich seine Wirksamkeit dachte, einfach und klar darlegte. Unter Hinweis auf Jesajä 58 und Matthäi 25 sprach sie es aus, daß es auf Uebung einer Barmherzigkeit ankomme, die aus dem Glauben stamme; Gaben könnten nur Segen bringen, wenn die Herzen des Gebenden und des Nehmenden sich gegeneinander aufthäten; man müsse den Armen nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Kraft opfern, dann werde sich der Segen der Liebe offenbaren. Der Verein wurde am genannten Tage gestiftet und begann alsbald seine [220] Wirksamkeit. Die Statuten, welche für dieselbe aufgestellt wurden, zeugen von Amaliens richtigem Verständniß und praktischem Geschick; es wurden hier für die christliche Barmherzigkeit in evangelischem Geiste theilweise zuerst Regeln ausgesprochen, die sich seitdem allgemeiner Anerkennung erfreuen. Von der persönlichen Einwirkung der pflegenden Damen auf die Armen und Kranken in sittlicher und religiöser Hinsicht wird am meisten gehofft; bei Vertheilung von Gaben soll die größte Vorsicht angewandt werden; lieber sollen Lebensmittel u. dgl., als Geld verabreicht werden; Gesunden soll womöglich nur Arbeit zugewiesen werden. Die Besuche bei den Pfleglingen wurden wöchentlich von andern Damen gemacht; über das bei ihnen Wahrgenommene wurde kurz Buch geführt. Alles wurde aufs genaueste geordnet; wöchentliche und monatliche Versammlungen der Vereinsmitglieder dienten zu gewissenhafter Berathung schwieriger Fälle und zur Erzielung übereinstimmenden Verfahrens. Die ganze Verwaltung des Vereins, der bald immer mehr Mitglieder gewann und dessen Thätigkeit immer mannigfaltiger wurde, geschah durch die Damen selbst; nur das Rechnungswesen des Vereins, dem zum Besten der Armen bald reichliche Gaben zuflossen, wurde von zwei Bürgern besorgt. – Es dauerte nicht lange, so gründete man auch in andern Städten ähnliche Vereine; mehrfach wurde Amalie veranlaßt durch Vorträge auswärts dazu die Anregung zu geben. Sie selbst hatte die Freude, in den 27 Jahren, die sie als Vorsteherin den Verein leitete, denselben sich immer mehr ausbreiten und durch den Erfolg die Richtigkeit der Grundlagen desselben bewährt zu sehen. Zwar blieben auch Mißerfolge nicht aus; die Mitglieder wurden nicht selten von den Armen hintergangen; auch der Vorwurf, daß der Verein Heuchelei begünstige, wird in einzelnen Fällen zutreffend gewesen sein. Aber trotzdem wird man sagen müssen, daß ihrem Verein gelungen ist, in wesentlich richtiger Weise christliche Barmherzigkeit unter den schwierigen Verhältnissen einer Großstadt zu üben und einer großen Anzahl Armer und Kranker geistliche und leibliche Hülfe zu bringen. Amalie starb am 1. April 1859 an den Folgen eines Lungenleidens, fast 65 Jahre alt; sie ward begraben in dem Sieveking’schen Familienbegräbniß an der Ostseite der Kirche in Hamm vor Hamburg; bei ihrer Bestattung, die auf ihren Wunsch äußerlich in der schlichtesten Weise erfolgte, zeigte es sich an der außerordentlichen Theilnahme der Bevölkerung, daß man eine Mutter der Armen begrub. Ihr Verein, dem jetzt (1892) Frau Doctorin Mary Sieveking, geb. Merck (die Schwiegertochter eines Vetters von Amalie), vorsteht, wirkt noch im Segen.

Amalie S. gab über die Thätigkeit des Vereins jährlich Berichte heraus; aus ihnen ist namentlich über die Organisation des Vereins das Genauere zu ersehen. Im 10. Jahresbericht, Hamburg 1842, S. 56 ff., ist ihre am 23. Mai 1832 gehaltene Ansprache (vgl. oben) abgedruckt. Außer diesen Berichten hat sie drei Erbauungsschriften, in welchen Abschnitte der heiligen Schrift erklärt werden, drucken lassen. – (Emma Poel,) Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Amalie S., in deren Auftrage von einer Freundin derselben verfaßt. Mit einem Vorwort von Dr. Wichern. Hamburg 1860. Dieses Werk erschien auch in französischer und englischer Uebersetzung. – Leesenberg, Die Familie S. Als Manuscript gedruckt. Berlin 1886. S. 23 f. – Herzog und Plitt, Theologische Realencyklopädie. 2. Aufl. XIV, 223 ff.