ADB:Snell, Wilhelm

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Artikel „Snell, Wilhelm“ von Wilhelm Oechsli in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 512–514, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Snell,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 24. April 2024, 07:46 Uhr UTC)
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Snell: Wilhelm S., deutscher Flüchtling und Staatsrechtslehrer in der Schweiz, geboren am 8. April 1789 zu Idstein im Nassauischen, † am 8. Mai 1851 in Bern. Der dritte Sohn des Gymnasialdirectors Christian Wilhelm S. (s. S. 503), empfing er seine Vorbildung auf dem der Leitung seines Vaters unterstellten Gymnasium zu Idstein, studirte zu Gießen die Rechte, betrieb mehrere Jahre die Advocatur in Wiesbaden und wurde 1816 als Untersuchungsrichter beim Criminalgericht in Dillenburg angestellt. Die napoleonische Zwingherrschaft hatte in dem hochbegabten, feurigen jungen Manne nicht nur vaterländische Begeisterung, sondern auch Haß gegen das bureaukratische Regime der Rheinbundstaaten erweckt. Als Ernst Moritz Arndt im Beginn des Jahres 1814 in der Schrift „Noch ein Wort über die Franzosen und über uns zur Bildung von „deutschen Gesellschaften“ zur Pflege deutsch-nationaler Gesinnung aufforderte, that Wilhelm S. den ersten Schritt zur Begründung solcher Vereine. Auf seine Anregung fand im Sommer 1814 zu Usingen eine Zusammenkunft statt, an der sich unter andern Karl Theodor Welcker, damals Professor in Gießen, und Conrector Weidig zu Butzbach betheiligten. Zu einer festen Organisation der Verbindung, die nach Snell’s Plan einen engern Geheimbund der „Geprüftesten“ und öffentliche Gesellschaften von Männern aus allen Ständen umfassen sollte, kam es damals noch nicht; aber einzelne Theilnehmer an der Usinger Zusammenkunft, vor allem Wilhelm S. und sein Bruder Ludwig, entfalteten eine eifrige Thätigkeit dafür. Am 24. August 1814 trat die „deutsche Gesellschaft“ zu Idstein in’s Leben, in Wiesbaden constituirte sie sich infolge einer Rede, die Wilhelm S. am 18. October 1814 bei den Festfeuern auf dem Geisberg hielt, am 8. November; auch in Kreuznach entstand auf seine directe Anregung ein ähnlicher Verein. Der Herzog Friedrich August von Nassau und Regierungspräsident v. Ibell witterten jedoch in diesen deutschen Gesellschaften Bestrebungen, welche die Unterdrückung der kleinstaatlichen Souveränitäten und Herstellung der preußischen Hegemonie über Deutschland bezweckten; ein Erlaß vom 7. Februar 1815 verbot deshalb die Theilnahme an denselben und die Vereine zu Wiesbaden und Idstein mußten sich auflösen. Die Spaltungen am Wiener Congreß, der offene zu Tage tretende Gegensatz Preußens zu Oesterreich und den Mittelstaaten, und die Möglichkeit eines Zusammenstoßes der Mächte brachten in der That S. auf den Gedanken, einen Geheimbund zu stiften, der für Deutschlands Einigung unter Preußen wirken und im Fall einer Krisis Preußen Freischaren aus den Rheingegenden zuführen sollte. Er gewann Ende Februar 1815 den Justizrath Hoffmann zu Rödelheim bei Frankfurt für seinen Plan, Justus Gruner, damals preußischer Generalgouverneur von Berg. Gneisenau und Hardenberg wurden davon in Kenntniß gesetzt und billigten das Unternehmen; auch Stein scheint darum gewußt zu haben. Beim Wiederausbruch des Krieges mit Frankreich veröffentlichte S. einen anonymen Aufruf zur Bildung einer „deutschen“ Freischar im Rheinischen Merkur, die unter Preußens Fahne kämpfen sollte. Die Idee gelangte indeß nicht zur Ausführung, und auch der Geheimbund hatte noch [513] keine feste Gestalt gewonnen, als derselbe auf einen Wink Gruner’s, der nach dem Pariser Frieden für die Thätigkeit desselben keinen Raum mehr sah, auf einer Generalversammlung im Hause des Frankfurter Kaufmanns Winter am 8. October 1815 seine Auflösung beschloß. Die Enttäuschung über den Gang der deutschen Dinge im allgemeinen und über die Zustände in Nassau im besonderen, wo die Regierung schon im September 1814 eine Verfassung verkündigt hatte, aber vier Jahre verstreichen ließ, ohne die Stände einzuberufen, führten S. immer mehr dem Radicalismus in die Arme. Er trat in Verbindung mit den von Karl Follen geleiteten „Schwarzen“ in Gießen, die republikanischen Tendenzen huldigten. Als er 1818 für die Städte Dillenburg, Herborn und Haiger zwei Denkschriften an die endlich einberufenen Landstände entwarf und darin unter anderm die Abtrennung der Domänen vom Staatseigenthum angriff, wurde der längst verdächtig gewordene Mann trotz seiner anerkannten Tüchtigkeit als Criminalist, auf Antrag des Ministers v. Marschall seines Amtes entsetzt, was ihn um so härter traf, als er vermögenslos und bereits Vater einer zahlreichen Familie war. Er fand bei seinem älteren Bruder Ludwig, der damals die Stelle eines Gymnasialdirectors in Wetzlar bekleidete, Unterkunft und benutzte seine unfreiwillige Muße zur Veröffentlichung von criminalistischen Abhandlungen (Gießen 1819), welche ihm die Ernennung zum Ehrendoctor der Universität Gießen eintrugen und in der juristischen Welt einen Namen machten. Ein Versuch des Freiherrn vom Stein, ihm die Professur des Criminalrechts an der Universität Bonn zu verschaffen, scheiterte im letzten Augenblick an den Denunciationen der nassauischen Regierung; dafür erhielt er durch Stein’s Vermittlung einen Ruf an die russische Universität Dorpat. Kaum hatte er aber im Herbst 1819 seine Lehrstelle angetreten, wurde er derselben infolge eines durch preußische Vermittlung nach Petersburg gelangten Auslieferungsgesuches der nassauischen Regierung, das ihn der Mitschuld an dem Attentate Löning’s auf den Präsidenten v. Ibell bezichtigte, entsetzt und aus Rußland verwiesen. In mühseliger Winterreise kehrte er mit seiner Familie nach Deutschland zurück und flüchtete, um der drohenden Verhaftung zu entgehen, 1820 in die Schweiz, wo er sich zunächst in Chur aufhielt, bis er 1821 eine juristische Professur an der Hochschule in Basel erlangte. Bald sah er sich auf’s neue in seiner bürgerlichen Existenz bedroht. 1823 war in Deutschland ein von einem gewissen Sprewitz gegründeter studentischer Geheimbund entdeckt worden, zu dessen Stiftung vier in der Schweiz weilende Flüchtlinge, Völker in Chur, S., Karl Follen und Wesselhöft in Basel, den Anstoß gegeben haben sollten. Die preußische Gesandtschaft stellte daher 1824, unterstützt von der österreichischen und russischen, im Namen der Regierungen von Weimar, Hessen-Darmstadt und Nassau beim eidgenössischen Vorort Bern das Begehren um Auslieferung der vier. Völker und Wesselhöft hatten sich bereits entfernt; inbetreff der beiden andern entspann sich zwischen der Basler Regierung, die sich weigerte, dem Begehren der Mächte Gehör zu geben, und dem von den fremden Gesandten gedrängten Vorort ein Conflict, der schließlich damit endete, daß der wirklich compromittirte Follen nach Amerika verreiste, worauf S. in Ruhe gelassen wurde. In dem Zwiespalt, der 1830 zwischen der Stadt Basel und ihrer Landschaft ausbrach, ergriff S., seinen radicalen Neigungen folgend, eifrig für die demokratischen Forderungen der Landschaft Partei, wofür ihn diese nach der Trennung mit dem Ehrenbürgerrecht beschenkte und bei der Theilung des Staatsvermögens zu ihrem Rechtsconsulenten ernannte. Damit war aber seine Stellung in Baselstadt unhaltbar geworden und gerne nahm er daher 1833 eine ihm angebotene Professur an der neueröffneten Hochschule Zürich an, die er indeß schon im Frühling 1834 mit einer solchen in Bern vertauschte, wohin [514] sein Bruder Ludwig ebenfalls berufen wurde. Auch in Bern betheiligte er sich an der kantonalen und eidgenössischen Politik in radicalem Sinne. Die Brüder S. wurden die Seele der sogenannten „Nationalpartei“, welche der bernischen Regierung wegen der allzugroßen Nachgiebigkeit, die sie in den Flüchtlingsangelegenheiten gegen die Mächte an den Tag legte, im Rath und in Zeitungen Opposition machte, weshalb die beiden „Nassauer“ bald die Zielscheibe heftiger Angriffe seitens der Regierungspresse wurden. Mit knapper Noth entging Wilhelm S. dem Schicksal seines Bruders, der 1836 wegen hochverrätherischer Umtriebe verhaftet, zur Abdankung genöthigt und aus dem Kanton verwiesen wurde. Auf der andern Seite schuf sich S. als anregender akademischer Lehrer einen begeisterten Anhang unter der studirenden bernischen Jugend. Sein auf Kant, Rousseau, Thomas Payne u. a. gegründetes „Naturrecht“, worin er die Principien der repräsentativen Demokratie als die des Vernunftstaates schlechthin entwickelte, wurde das Credo einer ganzen Generation junger Berner Juristen, welche, von ihren Gegnern spottweise die „junge Rechtsschule“ genannt, allmählich im Leben als mächtige politische Partei auftrat und in der von Snell’s Schwiegersohn Stämpfli redigirten Berner Zeitung ein wirksames Organ fand. Bei der Antijesuitenbewegung in der Schweiz stand S. in vorderster Linie. Auf dem Katheder, auf Schützenfesten und in Volksversammlungen predigte er den „bewaffneten Volksbund“ zum Sturz des Jesuitenregiments in Luzern und wurde dadurch ein Haupturheber des Freischarenzugs im Frühling 1845, an dem seine drei Schwiegersöhne persönlich theilnahmen. Das Mißlingen desselben fiel daher auch auf ihn zurück, zumal gewisse Schwächen seines Privatlebens den Angriffen der Parteigegner willkommene Blößen boten. Die bernische Regierung suchte den Freischarenzug, den sie begünstigt hatte, nachträglich zu verleugnen, indem sie gegen S. eine Untersuchung einleitete, welche mit seiner Abberufung und Ausweisung aus dem Kanton endete (9. Mai 1845). Er begab sich nach Baselland, wo er in den Landrath gewählt wurde und zu Liestal öffentliche Vorlesungen hielt. Seine Verbannung gab aber den Radicalen im Kanton Bern das Signal zu einer rührigen politischen Agitation, welche 1846 zu einer Revision der Verfassung und zum Sturz des bisherigen Regierungssystems führte. Die Freischarenführer Ochsenbein und Stämpfli traten an die Spitze des Kantons, und eine der ersten Maßregeln der neuen Regierung war die Aufhebung des gegen S. erlassenen Ausweisungsdecretes. Durch gerichtlichen Spruch wurde ihm Entschädigung gewährt und bald wurde er auch in seine Lehrstelle wieder eingesetzt. Nach seinem Tode erschien ein „Naturrecht“ nach seinen Vorlesungen (Langnau 1857; neue Ausgabe, Bern 1885).

Wilhelm Snell’s Leben und Wirken. Bern 1851. – Dr. Ludwig Snell’s Leben und Wirken. Zürich 1858. – Geschichte der geheimen Verbindungen der neuesten Zeit. Leipzig 1831. – Schnell, Meine Erlebnisse unter dem Berner Freischaren-Regiment. Burgdorf 1851. – Blösch, Eduard Blösch und dreißig Jahre bernischer Geschichte. Bern 1872. – Müller, Die Hochschule Bern in den Jahren 1834–1884. Bern 1884. – Vgl. auch den Roman „Meister Putsch und seine Gesellen“ von A. Hartmann (Solothurn 1858), in welchem in der Figur des Professors eine zutreffende Charakteristik Snell’s gegeben wird. – Meinecke, Die deutschen Gesellschaften und der Hoffmann’sche Bund. Stuttgart 1891. – Sauer, Nassau unter dem Minister v. Marschall. Wiesbaden 1890.