Aarau (Meyer’s Universum)
| Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig. |
In jedem Volke ist eine Offenbarung, die von Oben kommt, und durch jedes Volksleben geht ein Strahl vom Himmelslicht, vor dem der dunkle Erdengeist sich beugt. An ihm läuft der Volksgedanke hinan zum ersten Ahnherrn, und am Ursprung der Menschheit sucht er die ersten Keime seines eignen Wesens auf. Jede Nation hat ihre Mythen und Traditionen als Lebensmitgift, und trägt durch die Jahrhunderte Gebräuche und Institutionen, in denen ihr eigenstes Leben, oft unbewußt, wurzelt. Daher das feste Anhängen der Völker an alles geschichtlich Ueberlieferte, – des Volks Gedächtniß, daß jede Vergangenheit unsterblich macht; daher das zeitweilige Wetterleuchten der alten Erinnerungen, welche ein Volk mit in seine Endlichkeit hinabgenommen hat; daher die Blitze, welche dann und wann, als allgewaltige Ideen, aus der Vergessenheit die Gegenwart durchzucken, daher der unaustilgbare Zug und Drang, Verlornes wieder zu gewinnen, Umgestürztes wieder aufzurichten, und Altes, was die Probe der Zeit bestanden, wieder an des Neuen Stelle zu setzen, sofern sich das Neue als unzweckmäßig oder nachtheilig erwieß. Gerade in den Tagen der Gefahr und schweren Bedrängniß von außen wird sich in einem lebenskräftigen, willensstarken und von der Freiheit gestählten und erhobenen Volke dieses Streben, diese Sehnsucht nach den alten Horten seiner Freiheit und Unabhängigkeit am entschiedensten äußern. Unter dem stärksten Druck, der zu entmuthigen, zu entzweien und zu trennen strebt, wird die treue Anhänglichkeit der Volksgenossen an die Institutionen, welche die Unabhängigkeit und Ehre des Landes in frühern Zeiten gewahrt haben, sich am wärmsten und opfermuthigsten zeigen, und wird jene Bruderliebe unter den Volks- und Bundgenossen sich entwickeln, die einen Mittelpunkt und Anhalt in den gemeinsamen Heiligthümern findet. Ein solches Heiligthum, das theuerste unter Allen, ist die Freiheit selber – und in dem Streben, sie unangetastet und unversehrt zu bewahren, hat ein freies Volk immer das stärkste Band der Einigung zu suchen. Bruderliebe um der Freiheit willen, sie soll der Stern seyn, welcher, wenn die Wolken fremder, übermächtiger Unterdrückung am Horizonte aufsteigen, den Muth und das Vertrauen in alle Herzen strahlt. Sie sey in der Nacht der Bote für den kommenden Tag; sie sey die Kraft, die dem Uebermaße fremden Hochmuths und dreister Ansprüche würdig und nachdrücklich zu begegnen weiß und die angefochtene
[94] Einheit des Volkslebens zu bewahren oder herzustellen trachtet; sie sey der unverwüstliche Grund, auf dem die großen Thaten wachsen, der Geist, der ein freies, lebensfähiges Volk alle Krisen überstehen, alle Gefahren überwinden, und aus jeder Katastrophe es wieder aufschwingen läßt, wie ein Phönix aus der Asche.
Es befindet sich aber das Volk der Schweiz gegenwärtig in einer kritischen Lage voll äußerer Anfechtung, aus welcher es nur die Einheit in der Bruderliebe, von dem Muthe der Freiheit getragen, sicher und ehrenhaft führen kann. Einheit in der Bruderliebe und in festen Zusammenstehen muß das unwandelbare Dogma des schweizer Volksgedankens seyn und bleiben. In ihr werde das Palladium der gemeinsamen Unabhängigkeit erkannt, sie mache in jedem Schweizer das Bewußtsein lebendig, daß seine Freiheit aus einer gemeinschaftlichen Wurzel empor gewachsen; sie sey die Fackel, die unauslöschlich brennt, die Lohe, die zum Himmel schlägt, das Schwerdt, daß die Ungebühr rächt; in ihr erblicke er das heilige Zeichen des Siegs, wenn die Ehre nur die Wahl zwischen Demüthigung und Kampf gelassen; sie sey das Fundament seines Daseyns, die Achse der Schweizer Erde.
Doch in der Centralisation der Bundesgewalt, wie sie gegenwärtig besteht, haben, meines Bedünkens, weder die einheitliche Bruderliebe, noch der Stolz der Freiheit, ihren wahren Ausdruck gefunden. – Jenes Erbe eines heillosen Zerwürfnisses (des Sonderbundskrieges), hat vielmehr, wie es mir scheint, der alten Freiheit und Unabhängigkeit der Eidgenossen mehr geschadet, als genützt. Es konnte von den wohlmeinenden Männern, welche in der Centralisationsidee eben so befangen waren, wie unsere Parlamentsprofessoren zu Frankfurt, dem Schweizervolke nichts Zweckwiderigeres geboten werden, als jene die frühere Selbstständigkeit der Kantone einschränkende Verfassung, durch welche ein Bundesstaat an die Stelle des uralten Staatenbundes gesetzt ward und an den Platz des alten Partikularismus der Centralisationsgeist, welcher der Freiheit allemal Eintrag thut. Die Männer, welche damals das Heft in der Hand hatten, haben nicht an den Arzt gedacht, welcher dem Kranken, des bösen Fingers halber, den Arm ablöste. Sie haben die Schweiz dahingebracht, dem kecken, rührigen, bis zur Kühnheit muthigen, auf seine Freiheit und Selbstständigkeit eben so stolzen als eifersüchtigen Kantonsgeist, bei dem fünfhundert Jahre lang die Republik mit Erfolg bestand, zu entsagen. Anstatt, wie es sonst unter der alten Föderativverfassung geschah, streng, starr, und im Vollbewußtseyn der Volfskraft rücksichtslos die Unabhängigkeit vom Auslande zu behaupten, sieht man jetzt den centralisirten Schweizerstaat zahm, rücksichtsvoll, bedächtig und diplomatisirend, sich schmiegen und einfügen in die Ordnung des europäischen Fürstenbundes, und wo jeder Zoll die Volksherrlichkeit gewesen mit allen republikanischen Tugenden und Fehlern, da ist unter dem Dache des Centralstaats eine Art Regierung erwachsen, welche auf jeden Mißton von Außen erschrocken horcht und bei jedem Windstoß die Segel refft oder einzieht. Die centralisirte Schweiz ist auf dem besten Wege eine Büreaukraten-Republik zu werden, welche so wenig Furcht mehr einflößen wird, als ein Menagerie-Löwe, dem man Zähne und Klauen ausgebrochen hat. Was dem [95] Schweizervolke die Centralisation an materiellen Vortheilen gegeben hat: Telegraphen, Einheit in Maaß, Gewicht, Währung und Porto, Gesammtvertretung in Handels- und Zollsachen etc., ist allerdings hoch anzuschlagen; doch aber es ist kaum zu rechnen gegen Das, was die Centralisation dem Volke an höhern Gütern schon kostet und noch kosten wird.
Es ist nicht zu läugnen: durch die Adoption des Centralisationsprinzips hat sich die Schweiz von den Traditionen eines halben Jahrtausends losgesagt und, nach Dem, was bis jetzt zu beobachtet war, hat sie durch die Verpuppung ihrer lebenskräftigen Föderativrepublik in einen Bundesstaat keineswegs an Achtung, weder von Innen noch von Außen, gewonnen. Eine Nationalität, die so scharf ausgeprägt ist, wie die Schweizerische, eine Nationalität, welche den Rost von so vielen Jahrhunderten an sich trägt – unter einen neuen Stempel zu bringen – das kann weder ihr Schrot, noch ihr Korn verbessern oder erhöhen. Inzwischen wird das schwächliche Kind der Verlegenheit wohl für keine Nachkommenschaft zu sorgen und zu erwerben haben. Die Centralisationsverfassung war zu entschuldigen als ein Erzeugniß des dringenden Augenblicks und hat in der Stunde vergangenen Zwiespalts ihren Dienst gethan. Den größeren Gefahren, wie sie heute die Schweiz bedrohen, den viel größeren, die noch kommen werden, ist sie nicht gewachsen. Dazu mag jene gröbere Hülle taugen, welche der Stürme und Wetter schon so viele bestanden hat, und dieses unschätzbare Erbe wird der gesunde Volkssinn wieder erfassen, so bald er den positiven Werth oder Unwerth der jetzigen Centralverfassung klar erkannt hat. Die Zeit ihrer Prüfung ist gekommen und bald genug dürfte dem Schweizervolke die Einsicht werden, daß eine gestärkte, erkräftigte Föderativverfassung nach altem Prinzip, ein verlässigerer Geist sey, als jener diplomatisirende Centralisationsgeist mit der leeren, schüchternen, zahmen Höflichkeit nichtiger Staatskunst, der niemand traut und die niemand fürchtet. Jener wußte, was er wollte, und hat allezeit sich Respekt vom Auslande zu verschaffen gewußt. Wenn sich aber vor dem Centralstaat unverschämte Forderungen herauswagen, so thun sie es sogar ohne Furcht, mit gleicher Münze bezahlt zu werden.
Wer sehen will, was die Selbstregierung in Freiheit schaffen kann, der komme in’s Aargauer Land! Noch vor zwei Jahrhunderten sah man in demselben gedrücktes, leibeigenes Bauernvolk, an Zahl kaum 10,000 Familien, in elenden Dörfern und Flecken um die Burgen des Adels oder um die Klöster und Prälaturen geistlicher Zwingherrn in Unwissenheit, Schmutz und Armuth hausen; denn nur in den Thälern war dürftiger Anbau, und mit Waldungen, Sümpfen und Mooren war das übrige Land bedeckt. Jetzt wohnen auf dem Flächenraum von kaum 25 Geviertmeilen fast 190,000 freie, fleißige und gebildete Menschen, und mit der Physiognomie des Volkslebens ist auch die des Landes gänzlich verändert worden. Die Burgen der stolzen Leibherren und Ritter sind von den Höhen verschwunden [96] oder schmücken als malerische Trümmer die Landschaft; die Klöster und reichen Stifter, wo Müßiggang sich mästete, und Aberglaube und Verdummung Propaganda machten, sind zu Stätten des gewerblichen Fleißes oder zu Pflanzschulen für Volksbildung und Unterricht geworden, die Flecken wuchsen zu Städten an, die Städte wurden Sitze des Wohlstands und der Intelligenz, und die einstigen Urwälder und Wildnisse verwandelten sich in eine Landschaft, welche an Fruchtbarkeit und lachender Schönheit ihres Gleichen sucht. Der Kanton gehört zur sogenannten ebenen Schweiz, jenem gepriesenen Hügellande, welches sich von den Rändern des Hochgebirgs in Ost und Nord nach dem Thale des Rheins hin abdacht, dem es seine Flüsse und Bäche durch liebliche Gründe zusendet. Die Aar, die dem Lande den Namen gibt, ist sein Hauptstrom und in dieselbe münden die meisten übrigen Flüsse des Kantons. Alle Thäler sind die Sitze einer überaus zahlreichen Bevölkerung, die weniger in eng zusammengedrängten Dörfern, als in einzelnen Gehöften wohnen, welche, abwechselnd mit Fabriken, Landhäusern, Mühlen, Feldern und Wiesen, Weinreben und Obstpflanzungen, in den Gründen bis zu ihren Spitzen hinziehen, während sich auf den Höhen selbst ansehnliche Kirchdörfer inmitten großer Fruchtfelder gelagert haben. Prächtige Kunststraßen durchziehen das Ländchen in allen Richtungen, ein nie rastender Verkehr bewegt sich auf denselben und überall treten die heitern Bilder menschlicher Thätigkeit, Intelligenz und Ordnung dem Auge entgegen. Sie geben Zeugniß von Dem, was, unter einer weisen Verfassung und patriotischen Führern, die demokratische Selbstregierung selbst in engern Wirkungskreisen für treffliche Früchte hervorbringen kann.
Und sie hat sie hervorgebracht in wenigen Jahrzehnten; denn das Daseyn des Aargaus, als eines freien selbstständigen Staats (Kantons) datirt sich vom Beginn des laufenden Jahrhunderts. Die neue Republik entstand aus den buntschäckigen Lappen und Flicken der alten Feudalwirthschaft der benachbarten Kantone, den Territorien der Klöster, Stifter und Prälaturen der Kirche, und, wie das österreichische Frickthal, aus mancherlei Besitzungen fremder Fürsten, die durch Friedensschlüsse, oder auf Napoleons, des damaligen Vermittlers Diktat, der Schweiz einverleibt wurden. – Alle diese Länderfetzen besaßen seit Jahrhunderten von einander abweichende Gesetzgebungen, Gewohnheiten und örtliche Interessen. Selbst der Charakter ihrer Bewohner hatte verschiedene Physiognomien. Religion und Glaubensformen waren nicht weniger mannigfaltig als der Stand der Intelligenz und Schulbildung. Im alten Aargau galt der reformirte Glaube, zu kaltem, todten Formenwerk verknöchert; im Frickthale der Katholizismus, von Joseph II. Geist durchwebt; im Freiamt und in der Grafschaft Baden hatte der finstere, gedankenlose, alleinseligmachende Priester- und Mönchsglaube neben krasser Unwissenheit seine Stätte. In mehr denn einer Ortschaft konnte der Vorstand nicht einmal seinen Namen schreiben. Noch ein Uebel kam dazu. Viele der Landesgenossen waren keine Staatsgenossen. In der Schweiz, wie im alten Germanien, und wie jetzt wieder in Nordamerika, ruht das Leben der Republik, des Staats, auf dem Leben der Gemeinde; dies ist die [97] Wurzel, aus dem jenes sproßt. Die Selbstregierung geht von der Gemeinde aus, – die ihre Beamten, Richter, Lehrer, Pfarrer ohne Zuthun der Regierung wählt. In den Schweizergemeinden ist aber Niemand stimm- und wahlfähiger Bürger, als wer zum Mitgenuß an Kirchen- Schul- und Armengut, den Kapitalien, Waldungen und Ländereien berechtigt ist. Diese sind gemeinsames Vermögen der Ortsbürgerschaft. Ohne Ortsbürgerrecht hat kein Ortseinwohner (Insasse) Stimm- und Wahlrecht; ohne Ortsbürgerrecht hat auch keiner Staatsbürgerrecht in der Schweiz. Es kann einer vom Urgroßvater her in der Schweiz ansässig seyn, und ist doch – kein Schweizer. – Es kann aber auch der Bürger einer Gemeinde eines Kantons niemals Bürger in einem andern Orte der Eidgenossenschaft seyn; und hätte er in allen Kantonen Grundbesitz im Werth von Hunderttausenden: er wäre doch nur in dem einen Ort Bürger, in allen andern bliebe er ohne ortsbürgerliche Rechte. Diese Eigenthümlichkeit des schweizerischen Staatsthums, uralten deutschen Herstamms, wird von Auslande selten mit Klarheit begriffen und veranlaßt daher häufig die irrigsten Ansichten. – Nun aber lebten damals in Aargau viele Tausende, deren Voreltern seit Jahrhunderten vielleicht Einwohner des Landes gewesen waren und doch keine Bürger; es lebten Nachkömmlinge eingewanderter Handwerker und Arbeiter in den Gemeinden zu Tausenden, welche ihr ursprüngliches Vaterland verloren und vergessen hatten; andere Tausende, die Nachkömmlinge von französischen Flüchtlingen aus der Hugenottenverfolgung und von Proselyten aus katholischen Kantonen, welche mit dem Uebergang zur evangelischen Kirche das alte Heimathsrecht eingebüßt hatten; andere Tausende, Nachkommen von Fremdlingen aus aller Herren Länder, welche vor der Verfolgung der Tyrannen ein Asylrecht angesprochen und erhalten hatten; endlich eine große Anzahl von Heimathlosen – von jener Menschenklasse ohne bleibende Stätte, die, mit Duldungsscheinen versehen, in sämmtlichen Kantonen der Schweiz umherzogen, und denen man, nachdem sie zur wahren Landplage geworden waren, feste Wohnsitze anwies, bei welchem Akt dem Aargau nicht weniger als 600 dieser Unglücklichen zufielen.
Und aus solchen Bestandtheilen sollte eine Republik geschaffen werden, und zwar eine demokratische, ruhend auf der Grundlage vollkommener Rechtsgleichheit aller Bürger! Demungeachtet haben wenige Jahre hingereicht, um durch den sittigenden Einfluß der Freiheit der Presse, des Gewissens, des Verkehrs, der Niederlassung, der Obrigkeitswahlen, – kurz der Selbstregierung – alle früher einander völlig fremde Volks- und Landestheile des jungen Freistaats zu verbrüdern, den Gemeingeist zu wecken und alle guten Kräfte in dem braven Volke zur heilsamen Regsamkeit und zum segensreichen Wirken zu entfalten. So wurde ein Staatsleben geschaffen in diesem glücklichen Ländchen, daß nicht nur wetteifern konnte in öffentlichen Ordnungen und Einrichtungen mit den besten der ältern Schweizer Kantone, sondern für manche ein Vorbild war und geblieben ist bis zur Stunde, würdig ihrer Nacheiferung und beneidet von Vielen. Dazu waren in dem Land keine Befehle eines [98] Monarchen, keine Garnisonen, keine lauernde Polizei, keine amtlichen Wächter bei jeder Volksthätigkeit, keine leitende, bevormundende, regelnde Büreaukratie, kein Pochen der Regierung auf den Beistand stehender Truppenmassen und auf fremde Intervention, keine Gesetzgebung, die den Bürger zum Knecht der Staatsmacht erniedrigt, und ihn der legalen Willkühr der Regierungsgewalt überliefert, nöthig. Das Alles fehlte im Aargau. Hier that’s der von der vollen Volksfreiheit geweckte und getragene Patriotismus der intelligenten Bürger, der gesunde Menschenverstand, die Rechtlichkeit des Volks, die durch die freie Besprechung in der Presse Allen klar gewordene Einsicht Dessen, was dem Lande frommt, und vor allem das stolze Bewußtseyn staatsbürgerlicher Unabhängigkeit in jedem Einzelnen, welchem die Selbstregierung den rechten Ausdruck gab. Begünstigend wirkte allerdings in Aargau, daß so treffliche und weise Männer wie Zschokke und seine Freunde, bei der Organisation des Staats großen Einfluß gewannen, und daß hier alles neu zu schaffen war, alte Vorurtheile also, verrostete Institutionen und durch Alterthum und Herkommen ehrwürdig gewordene Gebrechen keinerlei Berechtigung anzusprechen hatten, die dem Neuen hindernd oder feindlich in den Weg traten. Kaum ein halbes Jahrhundert ist seit der Gründung der Aargauer Republik verflossen, und wenn man den Zustand von Damals und Jetzt vergleicht auf diesem glücklichen Fleckchen Erde, so möchte man an Wunder glauben. Viele leben noch, die an dem Werk geholfen haben, und mancher Graukopf, dessen jugendliche Hand den Grundstein legen half, blickt an den Bau mit stolzer Freude hinan und preißt Gott für das Gelingen. Im ganzen Lande ist Zufriedenheit, wachsender Wohlstand, steigende Bevölkerung, vermehrte Intelligenz, religiöse und politische Toleranz, Verbesserung des Ackerbaus, beständige Zunahme in Handel-, Gewerbe- und Fabrikthätigkeit bemerklich. Die Abgabenlast ist kaum fühlbar; daß Staatsvermögen durch redliche und geschickte Verwaltung in beständiger Werthsteigerung; die Regierung einfach, von dem souveränen Volke kontrollirt in allem Wirken, Keinem lästig, für Keinen demüthigend; das Land ist mit Kunststraßen bedeckt, vortrefflicher Elementarunterricht ist in allen Gemeinden, die höhern Schulanstalten werden mehr und mehr vervollkommnet, die Presse, bei vollkommener Freiheit, hat eine anständige Haltung und führt nützliche Belehrung durch zahlreiche Volksblätter in jede Hütte; der kriegerische Geist des Volks wird durch zweckmäßige Waffenübung und Waffenspiele genährt und an Mannszucht gewöhnt; patriotische Gesellschaften und Vereine sind thätig überall, um Wissenschaft und Künste zu beleben, die Bodenkultur zu verbessern, die Landeskunde zu befördern, auf die Volkserziehung durch Verbreitung guter Schriften zu wirken, Ersparungskassen, Versicherungsanstalten und andere gemeinnützige Stiftungen und Institute der Wohlthätigkeit zu gründen. Die ganze Physiognomie des kleinen Freistaats ist der heitere Ausdruck dieses allseitigen Gedeihens. Städte und Dörfer verschönern sich mit jedem Jahre, die Anlagen der Industrie wachsen an Ausdehnung und Zahl beständig, und die vermehrte Intelligenz der Staatsgenossen läßt immer neue Quellen des Erwerbs entdecken oder die ältern vortheilhafter [99] benutzen. Die Vorurtheile, welche der finstere Geist der Unwissenheit und des Pfaffenthums geschaffen und gepflegt hatte, verschwinden und die Rohheit der Sitten ist vor dem Lichte des Unterrichts und dem bildenden Einfluß der Freiheit vergangen. Selbst in den dunkelsten Winkeln des Landes, wohin in frühern Zeiten kein erwärmender und belebender Strahl in die umnachteten Seelen drang, ist’s heller Tag.
Wohl haben sich solche gepriesenen und glücklichen Zustände nicht ohne Kämpfe entwickeln können; Reaktionsphasen hat auch das Aargau gehabt. Der kalte Athem des Absolutismus, der Europa aus dem Munde der Triarier der heiligen Allianz nach 1815 anwehete, traf auch die schweizerische Volksfreiheit. Die Republik, die man in Holland glücklich beseitigt hatte, war in der Schweiz mit dem System, das den europäischen Kontinent beherrschte, in besseren Einklang zu bringen. Zwar wagte man es nicht, die Republik ohne Weiteres auch der Form nach zu zerbrechen; aber man versuchte, sie von ihrem Wesen zu entkleiden, und sie zur Lüge zu machen, wie sie wohl anderwärts zur Lüge geworden ist, und das Wörtlein „frei“ nur die Herrschaft Weniger neben der Knechtschaft Vieler andeutet. Da wurden auch in Aargau die Gelüste nach den Vor- und Sonderrechten vergangener Zeiten aus den Gräbern gerufen und, wie in der ganzen Schweiz, so trachteten auch dort die alten Patriziate, Stadtvorrechte und Herrschaften nach Wiederbelebung und Wiederherstellung. Gelang es ihnen auch nicht ganz damit, – so mußte doch die freie Verfassung des Aargaus, unter dem Drange des ausländischen Einflusses, der auf die ganze Schweiz lastete, aristokratische, mit den Grundsätzen der Selbstregierung unverträgliche Elemente in sich aufnehmen, ohne daß man um die Einwilligung des Volks fragte. Man oktroyirte eine 12jährige Amtsdauer der Obrigkeiten, um das Volk der Ausübung seiner landesherrlichen Rechte zu entwöhnen, seine Theilnahme am Gemeinwesen abzustumpfen, und allmählig eine erbliche Bureaukratie zu schaffen, die, wo sie herrscht, allemal Tyrannei übt, härter oft als die Alleinherrschaft. Die Stellvertretung des Volks wurde gefälscht und fühlte bald in ihrem Wirken, wie dies in monarchischen Staaten stets geschieht, das Uebergewicht und den Einfluß der Regierung. Er drang in die Gemeinden und machte sich bei der Besetzung der Gemeindeämter geltend. Aller Unfug der Aristokraten-Herrschaft, wie wir ihn noch gegenwärtig in mancher „freien Stadt“ sich gebärden sahen, kam zum Vorschein: Verwandtschaft und Protektion verhalfen zu Stellen; Opposition und Widerspruch zogen den Haß der kleinen Machthaber auf sich; Titel und Amtstrachten berückten die Eitelkeit; durch einen lächerlichen Ernst äußerer Ehrbarkeit und durch ein Gepränge, dessen Kosten man aus dem Staatssäckel bestritt, suchte man Ehrfurcht zu erwecken; durch Strenge auf der einen Seite, durch Gunst und Gnade nach der andern hin, suchte man das Volk zu theilen, es in Parteien zu spalten, sich Anhänger zu machen, die Widerspenstigen zu züchtigen. Die Preßfreiheit wurde gelähmt, die Censur machte die Gedankenmittheilung unmöglich und fälschte die öffentliche Meinung. Grundböse wurde der Haushalt – so arg, wie er irgendwo werden kann, wo [100] die Regierungsgewalt, sey es unter welcher Aufschrift, firmirt. Eine widerliche Polizeiwirthschaft kränkte und verletzte das Bewußtseyn des Menschen, wie des Bürgers. Tiefer Mißmuth durchdrang das ganze Volk; – er barg sich unter der Maske der Gleichgültigkeit und – schwieg.
Da kam das Jahr 1830 und mit der Juliussonne das erste Wiedererwachen der Völker. Der Geist, welcher in Frankreich den restaurirten Absolutismus niederwarf und die alten Bourbonen vom Throne und aus dem Lande jagte – dieser Geist sprengte auch in der Schweiz die Fesseln, in welchen man ihn schon erwürgt zu haben wähnte. Im Aargau, wo der Zunder durch das Aristokratenregiment hoch aufgehäuft lag, fehlte nur der Funke, um den Ausbruch des Volksunwillens zu veranlassen und dem freiheitsmörderischen Unwesen ein Ende zu machen. Aber ein politisch gebildetes Volk erhebt den Arm nur auf gesetzlichem Anlaß. Dieser fand sich, als es in berufenen Urversammlungen zur neuen zwölfjährigen Wahl seiner Stellvertreter schreiten sollte. Das Volk wählte nicht: es forderte vielmehr Aenderung der durch das aristokratische Element verfälschten Verfassung kraft seiner in ihm ruhenden Landesherrlichkeit! Die Aristokratie sah den Sturm herankommen. Sie gab nach, und forderte das Volk auf, eine constituirende Versammlung zu berufen; behielt sich jedoch das Recht der Revision und Genehmigung des beschlossenen Verfassungsentwurfs vor. Diese Falle war zu plump – und das entrüstete Volk machte nun mit der Herrschaft der Aristokraten kurzen Prozeß. Im Freiamt, im Aarthal, im Frickthal traten die Milizen unter die Waffen. Die Regierung rief die Truppen zu ihrem Schutz. Diese kamen: sie erklärten aber, sie würden gegen ihre Mitbürger, die in ihrem Rechte seyen, keinen Säbel ziehen und keinen Schuß thun. Zitternd gehorchten sodann die entmuthigten Machthaber den Geboten des von verständigen Patrioten geleiteten Aufstands. Truppen und Milizen zogen in die Heimath zurück; ruhig trat der gesetzmäßig berufene Verfassungsrath zusammen und vollendete sein Werk am 15. April 1831. Seitdem lebt das Aargauer Volk im Genusse der Freiheit, die Willkür der Beamten ist gänzlich gebrochen, die Staatsgewalten sind scharf abgewogen und kontrollirt, die Wiederkehr der frühern Bedrückungen ist unmöglich gemacht, die Presse ungefesselt, die öffentliche Meinung stark, die Verwaltung wohlgeordnet, das Staatsvermögen groß und wachsend. Ein zufriedenes, glückliches, kräftiges Leben ists, und die Reibungen der Parteien dienen nur dazu, es vor Erschlaffung zu behüten.
Aarau selbst, die Hauptstadt, entspricht dem von der Republik entworfenen Bilde. Bei der Gründung des Staats war es ein kleines, ummauertes Städtchen ohne Gewerbsfleiß und Verkehr; und die Zahl der Einwohner war weniger als 2000. Längst hat es seitdem die Zwangsjacke ausgezogen, den alten Stadtkern mit schönen Straßen und Anlagen umzogen und seine Bevölkerung auf das Dreifache vermehrt. Es ist das rechte Herz des [101] Staats, von hier strömen Bildung, Gemeinsinn und Humanität, genährt und gepflegt von tüchtigen Menschen, durch die Adern des Landes. Patriotische Männer riefen gemeinnützige, wissenschaftliche und wohlthätige Anstalten in’s Leben, die Regierung bot ihnen dazu bereitwillig die Hand und half höhere Lehranstalten, Bibliotheken und Institute für die Bildung der Handwerker und Fabrikanten begründen. Hochsinnige Bürger verwendeten dazu ihr Vermögen. Carl Herrose und Joh. Georg Hunziker errichteten in Aarau eine polytechnische Schule, die erste der ganzen Schweiz. Rudolph Meyer, dessen großartiger Gemeinsinn so Vieles in der Schweiz geschaffen und angeregt hat, stattete das Gymnasium mit fürstlicher Freigebigkeit aus. Eifer für alles Gemeinnützige und Unternehmungsgeist sind charakteristische Zuge der Aarauer, und ein milder Geist der Humanität hat mehr als an andern schweizer Orten die Bevölkerung durchdrungen.– Zschokkes Wirken burch Geist und Beispiel ist sichtbar in vielen Dingen, und obschon der Weise selbst der Erde entrückt ist, wird sein Daseyn beständig unvergessen bleiben.