Abschied vom Jahrhundert

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Textdaten
Autor: Rudolf Lavant
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Titel: Abschied vom Jahrhundert.
Untertitel: Das Jahrhundert (Silvester-Festzeitung der Sozialdemokratie)
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Herausgeber: Buchhandlung Vorwärts
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Paul Singer
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Erscheinungsort: Berlin
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Abschied vom Jahrhundert.

Ein Dichterherz, erfüllt von edlem Schwunge,
Dess‘ Adlerflug man heute noch bewundert,
Begrüsste einst mit schönem Wort das junge,
Verheissungsvolle, nahende Jahrhundert.

5
Schön stand der Mensch mit seinem Palmenzweige,

Auf hoher Stirn der Künste reinen Kuss,
Für Schiller’s Blick an des Jahrhunderts Neige ―
Melodisch rauschte seiner Verse Fluss.

Hat das Jahrhundert dem, was dem Gemüthe

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Des Dichters damals es verhiess, entsprochen,

Und ist zu reicher, duftumflossner Blüthe
Die streng geschlossne Knospe aufgebrochen?
In seinem Grabe schlummert längst der Dichter,
Versiegelt ist sein liederreicher Mund ―

15
Wie gäbe er als unbestochner Richter

Mit hohem Sinne wohl das Urtheil kund?

Er würde kaum den Stab dem Worte brechen,
Das sich den Weg in seine Stille bahnte.
Wir sind die Wissenden, wir dürfen sprechen;

20
Wir sahen Vieles, was er niemals ahnte.

Wie er des Weltenbildes sich bemächtigt
Im Werdedrang und im Zusammenbruch,
So sind auch wir zum Urtheil nun berechtigt,
Und also lautet heute unser Spruch:

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In vielem Sinne hat es mehr gehalten,

Als es versprach, mit offnen Jünglingsmienen;
Bezwungen hat es die Naturgewalten
Und sie gezwungen, sklavisch uns zu dienen.
Es brachte Antwort auf so manche Frage,

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So mancher Mühe wurde reicher Dank;

Geheimstes trat, Verborgenstes zu Tage
Und mancher dichte Schleier riss und sank.

Des Wissens Schranken, die Gebirge glichen,
Sind eingeschrumpft zu niedern Maulwurfshügeln;

35
Der Forschung Schmerzen sind zurückgewichen

Und nichts vermag den Eifer mehr zu zügeln,
Der rastlos strebt zum Kerne aller Dinge
Auf der entdeckten leichten schwachen Spur,
Und der sich sicher fühlt, dass er erringe

40
Die volle Herrschaft über die Natur.


Kein Saïsbild vermag uns mehr zu schrecken,
Von ahnungsvollem Tempelgraun umgeben,
Und was die Forscher heute froh entdecken,
Gewinnt Bedeutung morgen schon für’s Leben.

45
Nichts hält sie auf in ihrem ungestümen,

In ihrem glorreich-raschen Siegesgang;
Stolz darf die Menschheit sich der Kronen rühmen,
Die sie in dieser Spanne Zeit errang.

Doch all dem Licht gesellt sich tiefer Schatten,

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Und eine Stimme aus den dunklen Tiefen

Geht klagend um bei Nacht und schreckt die Satten,
Die Prahler auf, ob noch so fest sie schliefen.
Noch stöhnt der Arme unter alter Bürde,
Noch ward die Zwingburg nicht hinweggeräumt.

55
Wo sind die Freiheit und die Menschenwürde,

Von denen Schiller sehnsuchtsvoll geträumt?

Viel wurde wahr, was er nicht ahnen konnte,
Doch von dem Hoffen, drin bei Trug und Morden
Der Gegenwart sich seine Seele sonnte,

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Ist nur ein Bruchteil Wirklichkeit geworden.

Sein lichter Sinn, er würde schwer sich trüben,
Denn alter Fluch wirkt unerschüttert fort;
Ach, man vergass Gerechtigkeit zu üben,
Und in der Wüste irrt das freie Wort.

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Der Forschertrieb war feige nie und träge

Und jede Schwierigkeit hat er bezwungen,
Die Freiheit aber, die am nächsten läge,
Die Freiheit hat die Menschheit nicht errungen,
Und das Problem, das es bei seinem Kommen

70
Als dunkles Räthsel an der Schwelle fand,

Legt das Jahrhundert zweifelnd und beklommen
Bei seinem Scheiden in des nächsten Hand.

Wird ein Poet nach aberhundert Jahren,
Der Unterlassen abwägt und Vollbringen,

75
Ein Bild, das minder ihn bedrückt, gewahren?

Wird er begeistert ein Triumphlied singen?
Kam ein Geschlecht, voll Einsicht und Erbarmen,
Das heiss erröthend und in tiefer Scham
Der Wundgescheuerten von Fuss und Armen

80
Die letzte schwere Eisenfessel nahm?

                                                       R. L.