Allerlei Mißhandlungen des Ohres

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Autor: Rudolf Haug
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Titel: Allerlei Mißhandlungen des Ohres
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 255–256, 258–259
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Allerlei Mißhandlungen des Ohres.

Von Dr. Rudolf Haug.


Nicht von großen Verletzungen, wie sie bei Unglücksfällen, bei dem ungeheuren Maschinenbetriebe der Neuzeit so häufig vorkommen, auch nicht von den „Schmissen“, die sich unsere studierende Jugend auf der Mensur holt, oder sonstwie entstandenen Schnitt-, Stich-, Hieb- oder Quetschwunden des Ohres wollen wir reden, sondern die tagtäglich vorkommenden, oft von der Mode bedingten Verunglimpfungen des Ohrs, die vielen Mißbräuche und kleinen Mißhandlungen, unter denen unser Ohr zu leiden hat, sie wollen wir in das Bereich unserer Betrachtungen ziehen. Und mit Erstaunen wird da mancher Leser erst innewerden, welche Unsumme solcher Verletzungen es giebt, die Tag für Tag vorkommen und deren Folgen oft recht traurig für den Betroffenen sind.

Es ist eigentümlich, daß gerade das Ohr – wir haben zunächst das äußere, die Ohrmuschel, im Auge – wie kaum ein anderes Organ unseres Körpers den Launen der menschlichen Leidenschaften ausgesetzt ist. Die Eitelkeit sucht es zu verschönern, im Zorne wird es geschlagen, gebissen und zerrissen, die Liebe küßt es und grausame Rachsucht willkürlicher Despoten hat es in früheren Jahrhunderten einfach abgeschnitten, so kennzeichnet Magnus dies Schicksal. Im Spiele der Kinder wird es oftmals zu einem höchst unzweckmäßigen Versteckplatz gewählt und die Erwachsenen fügen ihm, oft aus übergroßem Reinlichkeitsdrange, oft aber auch absichtlich aus purem Unbedacht, allerlei Schaden zu. Laster und Tugenden versündigen sich gleichmäßig am Ohre. Ein gut Teil Schuld daran trägt die exponierte Lage des Ohres, obschon es dieserhalb keineswegs gerade häufiger mißhandelt zu werden brauchte als unser edles Geruchsorgan, der Gesichtsvorsprung der Nase, und doch ist es so.

Wollen wir nun zuerst einmal die Folgen der Eitelkeit am Ohre betrachten. Da haben wir den uralten Brauch der Ohrringe und Ohrgehänge, die unser Interesse wachrufen. Uralt ist derselbe, finden wir doch schon im 1. Buch Mosis seiner Erwähnung gethan; gleicherweise war er verbreitet bei den Völkern des Ostens und des Westens und durch das Mittelalter zieht er sich in breiter Spur bis in unsere Zeit. Hanptsächlich sind es die Frauen, die diesem Brauche huldigen, doch sehen wir, so auch zum Beispiel im bayerischen Gebirge, nicht selten kleine Ohrringe bei den stämmigen Burschen und älteren Männern, ganz abgesehen von der Unzahl beohrringter Kinder, auf die wir noch besonders zu sprechen kommen. Bei manchen Völkern Afrikas und Amerikas werden gewichtige Scheiben und Klötze als Ohrgehänge getragen. Ueberall und zu allen Zeiten war das Ohr ein Sklave der Mode.

Was soll mit dem Ohrgehänge bezweckt werden? Es soll das Ohr schmücken, verschönern. Aber ein jedes normale Ohr ist von der Natur so ausgestattet, daß es durchaus keiner künstlichen Verschönerung bedarf; jedes normal gebaute Ohr ist im allgemeinen schön, so daß es durch solchen Anhang geradezu verunziert wird, ja ein natürlich schönes Ohr wird durch die oft ziemlich gewichtigen Gehänge mit der Zeit sehr unschön, da die zarte Rundung des Läppchens leidet. Es hängt dann als breiter dünnhäutiger Lappen herunter, und nicht gar selten kommt es vor, daß infolge der Schwere der Gehänge das Läppchen allmählich durchschnitten wird, so daß dann zwei hahnenkammähnliche Fetzen die Stelle des einst so anmutigen Ohrendes einnehmen. Bei kleinen Ohrringen ist das allerdings nicht so leicht zu befürchten.

Und ein häßliches, mißbildetes Ohr, wird es schöner dadurch, daß wir es mit funkelnden Steinen zu schmücken suchen? Hand aufs Herz! es bleibt trotzdem häßlich. Und das Auge der Andern wird durch den Schmnck gerade auf seine Häßlichkeit gelenkt. Es [256] bildet außerdem einen Gradmesser für das willkürliche oder unwillkürliche Protzentum des Trägers.

„Aber ich trage ja die Ohrringe gar nicht aus Eitelkeit,“ hört man sehr oft sagen, „sondern meiner Augen wegen.“ Es ist eine alte, besonders in den niederen Volksklassen verbreitete Anschauung, daß durch das „Stechen“ und Tragen von Ohrringen die Augenkrankheiten verhütet oder geheilt werden könnten, und sie läßt sich, wie so mancher Aberglaube, nicht ausrotten. Insbesondere sind es die Kinder, speziell die sogenannten „skrofulösen“, die Ohrringe haben müssen wegen der bei ihnen sich häufig einstellenden Augenaffektionen, auch das Zahnen der Kinder muß häufig „erleichtert“ werden durch das Stechen von Ohrringen. Heilige Einfalt! Diese Meinung hat auch nicht den Schein einer Berechtigung für sich. In keinem einzigen Falle hat sich bei rein objektiver wissenschaftlicher Betrachtung irgend welch günstiger Einfluß der Ohrringe auf Augenleiden nachweisen lassen.

Der Ausführung des Ohrringstechens aber haftet etwas Barbarisches an. Ganz abgesehen von den unnötigen Schmerzen, die dem Kinde oder dem sonst Betroffenen durch dieselbe erwachsen, ist sie keineswegs ungefährlich. Gewöhnlich sind es Bader, Heilgehilfen, Hebammen, die die Durchbohrung des Läppchens mittels einfacher Ahlen oder auch glühend gemachter Nadeln vornehmen; zur völligen Beruhigung des Operierten wird auch manchmal „eine goldene Nadel“ zum Durchstechen benutzt, hierauf werden dann entweder Seidenfäden durch das Loch gezogen und dort geknotet so lange liegen gelassen, bis das Loch nicht mehr zuwächst, oder es wird auch sofort das Ohrgehänge eingesetzt. In der Folge kommt es nun beinahe durchgehends zu einer starken Schwellung und Rötung des ganzen Teiles, verbunden mit starker Schmerzhaftigkeit. „Das ist notwendig,“ sagen die betreffenden „Operateure“, es ist aber nur eine ganz natürliche Folge der den Grundgedanken unserer heutigen chirurgischen Anschauung direkt hohnsprechenden Behandlungsweise! Die unreinen Hände, die unreinen Nadeln (selbst eine „goldene“ Nadel ist nicht rein, solange sie nicht durch entsprechende Vorbereitung keimfrei gemacht wird), der unreine Seidenfaden, das Ohrgehänge selbst (auch wenn es golden ist), sie alle bringen und pressen geradezu eine Unzahl von Infektionsstoffen in die frische unbedeckte Wunde hinein; sie und die direkten Veranlasser dieser Entzündung – eine reine, chirurgisch rein angelegte und behandelte derartige Wunde eitert nie, noch schwillt sie unter Schmerzen an. Nicht selten entwickelt sich aus der kleinen örtlichen Wunde ein Wundrotlauf, der den Patienten dem Rande des Grabes nahe bringen kann, ja es ist sogar wirklich eine Anzahl von Todesfällen bekannt geworden, die nur der unglücklichen Mode in die Schuhe zu schieben sind.

Ein blühendes Kind wegen eines solchen Unsinns eine Leiche! Aber auch weiterhin dauert oft die üble Einwirkung fort; die kleinen Wundkanäle werden immer wieder gereizt (durch die Gehänge selbst, die oft mit Schmutz, Grünspan überzogen sind, durch das Ziehen an denselben), und so kommt es zu nässendem Ausschlage, der sich auf das ganze Ohr, den ganzen Kopf weiter verbreiten kann und den armen Kleinen unendlich viel Pein verursacht. In jeder Zeit kann auch von diesen chronisch erkrankten Teilen ein Rotlauf, eine Gesichtsrose sich entwickeln. Die in der Nähe des Ohres gelegenen Drüsen können durch den immerwährenden Reiz geschwellt, vergrößert werden, zuweilen sogar in Eiterung übergehen, und man sieht dann solche Kinder gewöhnlich für „skrofulös“ an, obschon sie es keineswegs sind, sondern nur die Folgen eines thörichten unbesonnenen Eingriffes zur Schau tragen müssen.

Das sind aber noch lange nicht alle Schattenseiten der Folgen des Ohrringstechens. Selbst wenn die Stichkanäle längst zugeheilt, überhäutet sind, stellen sich gar nicht so selten noch ganz andere Folgeerscheinungen ein. Es bilden sich, hervorgebracht durch den fortdauernden Reiz, den die Anhängsel ausüben, Verdickungen, Knoten in dem Läppchen, die, langsam wachsend, allmählich bis zu Tauben-, ja Hühnereigröße herangedeihen. Besonders in manchen Tropengegenden erreichen diese Geschwülste eine außerordentliche Größe; aber auch bei uns kommen sie zur Beobachtung und ich selbst war schon zu wiederholten Malen in der Lage, wegen solcher Neubildungen große Teile des Ohres mit dem Messer abtragen zu müssen.

Daß außer diesen harten Geschwülsten sich noch andere aus den Stichkanälen und ihrer Umgebung entwickeln können, die den Bau der Knotentuberkulose aufweisen, oder solche, die sich später in Krebsgeschwüre umwandeln, das möchte ich nur noch andeuten. Denn schon zur Genüge geht aus dieser in keiner Weise übertreibenden Darstellung hervor, daß der Brauch des Ohrringtragens nicht bloß vom ästhetischen Standpunkte, sondern speziell auch vom einfach sanitär hygieinischen aus wegen der großen Reihe der möglichen schlimmen Folgen unter allen Umständen verwerflich ist.

Obschon nun ein großer Teil unserer wahrhaft gebildeten und denkenden Frauen einsehen gelernt hat, daß das Ohr keinen Schmuck weiter braucht, am allerwenigsten einen gefährlichen, so muß doch das Bewußtsein der direkten Schädlichkeit und Gefährlichkeit in noch viel weitere Volkskreise dringen. Dann werden normale gesunde schöne Ohren viel häufiger zu sehen sein als heute. Und das wäre sehr wünschenswert, denn nur das unentstellte Ohr erlaubt uns, in gewisser Beziehung ihm eine physiognomische Bedeutung zuzuschreiben, wenn wir auch nicht so weit gehen wollen wie ein französischer Gelehrter, der aus der Form der Ohrmuschel den Charakter, die geistige Begabung und die Echtheit der Familienabstammung bei jedem Einzelnen mit untrüglicher Sicherheit zu erkennen vermeinte.

Nun einen Schritt weiter!

Wir kommen jetzt zu dem beliebten Kapitel der Ohrfeigen und Maulschellen. Auch diese verbreitete Züchtigungsart, die der Vater dem Sohne, der Meister dem Lehrjungen etc. in einer berechtigten oder unberechtigten Zornesaufwallung zuteil werden läßt, kann sich für das Ohr verhängnisvoll erweisen. Ich bin im Prinzip durchaus nicht gegen einen gewissen Grad der körperlichen Züchtigung; ein ungezogener Junge wird am eindringlichsten und nachdrücklichsten bestraft burch eine mit körperlichem Schmerzgefühl verbundene Strafe, aber daß der Kopf gerade dazu herhalten soll, das ist völlig ungerechtfertigt, ja sogar zu verpönen, weil die Folgen für den Betroffenen äußerst schlimmer Natur sein können, während es niemals Schaden bringen wird, wenn wir einem ungezogenen Sprößling die „Hosen ordentlich anziehen“ und seine Kehrseite mit einem Haselnußstocke innige Bekanntschaft machen lassen.

Der Kopf und das Ohr speziell muß von Schlägen frei bleiben. Freilich ist es ja durchaus nicht notwendig, und das soll auch hier nicht behauptet werden, daß jede Ohrfeige eine üble Folge haben muß, aber daß es eben gerade oft genug zu unglücklichen Ereignissen dabei kommen kann, muß uns abhalten, von dieser Art der Züchtigung oder der Zornesäußerung Gebrauch zu machen.

Und weshalb, höre ich fragen, ist denn solche Züchtigung so sehr bedenklich? Weil durch sie gerade das Gehörorgan als solches schwer in seiner Funktion, vielleicht auf Lebensdauer, beeinträchtigt werden kann. Das kann aber doch wohl bloß vorkommen bei recht starken, heftigen Schlägen, nicht bei einem einfachen leichten Klaps!! Gemach! Das ganze Ohr ist ein so wunderbar fein gebautes Organ, daß es unter Umständen schon auf recht leicht erscheinende Gewalteinwirkungen hin seinen Dienst versagt und leider oft genug auf die Dauer.

Vergegenwärtigen wir uns in Kürze den mechanischen Vorgang einer Ohrfeige und ihrer Wirkung. Die schlagende Hand – und gewöhnlich ist es, da die meisten Menschen rechtshändig sind, die rechte, falls nicht von hinten meuchlings zugeschlagen wird – trifft mit einer gewissen, mit Erschütterung einher gehenden Gewalt zunächst auf die ihr entgegenstehende Ohrmuschel, am häufigsten also die linke, und schließt den Gehörgang, der zum Trommelfell führt, für einen Moment mehr oder weniger luftdicht ab. Hierdurch wird die Luftsäule innerhalb des Gehörganges außerordentlich rasch zusammengedrückt und sie wird sich, einem allgemeinen physikalischen Gesetze zufolge, wieder auszudehnen trachten und zwar geschieht das natürlicherweise in der Richtung des geringsten Widerstandes. Da die komprimierte Luft nach außen durch den Gehörgang so schnell nicht entweichen kann, so muß sie naturnotwendig auf das ihr entgegenstehende Trommelfell auftreffen. Obschon nun das Trommelfell trotz seiner Dünnheit (sein Dickendurchmesser beträgt im allgemeinen 0,1 mm!) für gewöhnlich eine außerordentliche Widerstandsfähigkeit und Elastizität besitzt und erst bei einer Belastung mit einer Quecksilbersäule von etwa 150 cm Höhe, bzw. einem Luftdrucke von etwa 13/4 Atmosphären, reißt, so kommt es eben doch leider recht häufig vor, daß der durch die Ohrfeige bewirkte Luftdruck genügt, eine Sprengung zu verursachen. Es braucht der Schlag, wie gesagt, durchaus kein heftiger gewesen zu sein, und doch kann es zum Zerreißen der Membran kommen. Da spielt eben noch eine Reihe anderer Verhältnisse mit, wie der zufällige luftdichte Abschluß, dann der Umstand, daß das Ohr nicht vorbereitet ist auf die jähe Einwirkung der Luftwelle. Haben wir doch in unserem Ohre [258] einen kleinen Muskel, den Trommelfellspanner, der sich, wenn wir wissen, daß eine Schall- oder Luftwelle auftrifft, unwillkürlich zusammenzieht und so die Gewalt des Druckes abzudämmen vermag. Nicht unerwähnt dürfen wir lassen, daß es zumeist keine ganz gesunden Trommelfelle sind, die solchen Gewalteinwirkungen so rasch erliegen.

Das Trommelfell hat also jetzt ein Loch, einen Riß. Für gewöhnlich hat diese Verletzung durchaus nicht so viel auf sich, wie man als Laie anzunehmen geneigt ist. Wird ein derartiges Ohr sachgemäß behandelt, d. h. werden alle Einträufelungen und Einspritzungen von Oel und Wasser etc. unterlassen und wird der Patient zudem noch angewiesen, mit dem Schneuzen sehr vorsichtig zu sein, ja nicht heftig zu schneuzen, wird ferner das Ohr einfach gegen die äußern Einflüsse durch einen Wattepfropf geschützt, so heilt eine derartige auch ziemlich ausgedehnte Verletzung innerhalb weniger Tage völlig spurlos, ohne irgend welche Störung zu hinterlassen. Die Vorsicht beim Schneuzen empfiehlt sich deshalb, weil die zerrissenen Trommelfellränder durch den bei dieser Procedur unfehlbar von innen her eindringenden Luftstrom jedesmal wieder von einander getrennt werden und somit ihre Verklebung direkt verhindert wird.

Wird aber die Trommelfellwunde infiziert, was durch Einträufelungen regelmäßig geschieht, so stellt sich jetzt eine oft folgenschwere eitrige Entzündung ein, der nicht nur das Trommelfell und Gehör, sondern auch sogar das Leben des Patienten zum Opfer fallen kann. Derartige traurige Fälle sind etliche bekannt. Es muß aber bei Gelegenheit einer solchen momentanen Luftverdichtung durchaus nicht zum Zerreißen des Trommelfells kommen und doch kann das Gehörorgan schwer geschädigt werden. Ja, es sind solche Fälle gerade im Gegenteil als viel ungünstigere zu betrachten. Hier wird eben die Membran samt der mit ihr in inniger Verbindung stehenden Kette der Gehörknöchelchen sehr stark und rasch nach einwärts getrieben, diese Bewegung setzt sich ebenso weiter nach innen fort und bewirkt in dem im inneren Ohre befindlichen Labyrinthwasser, das die zarten Nervenendigungen umspült, gewissermaßen eine heftige Sturzwelle, welche die feinen tonauslösenden Endfäserchen der Hörnerven entweder ungewöhnlich reizt oder direkt lähmt. Derartige Fälle gehen, obschon am Trommelfelle nicht die Spur einer Verletzung zu sehen ist, nicht selten in höchstgradige, bleibende Schwerhörigkeit oder Taubheit aus.

Das was bis jetzt über die mögliche Wirkung einer gut aber unglücklich applizierten Ohrfeige gesagt worden ist, gilt selbstverständlich auch für alle anderen Arten von momentanen starken Luftverdichtungen am Gehörorgan, wie z. B. Detonationen von Kanonenschüssen, Explosionen und Aehnliches.

Jedenfalls dürfen wir aus diesen Ausführungen den berechtigten Schluß ziehen, daß das Ohr kein Platz ist, an welchem körperliche Züchtigung ausgeführt werden darf. Auch das Ziehen oder Zerren an den Ohren ist eine verwerfliche Strafart, weil es dadurch leicht zu Einrissen hinter der Ohrmuschel oder sogar zu Zerreißung der Gehörgangswand kommen kann.

Aber nicht bloß die Strafe, der Zorn können das Ohr schädigen, zuweilen geschieht dies auch durch ein Uebermaß der Liebesbezeigung.

Es wird die Leserin interessieren, zu hören, daß auch unter Umständen das Küssen einen sehr schlimmen Einfluß haben kann. Sie staunen? und doch ist es so! Der küssende Mund legt sich auf das niedliche rosige Oehrchen, auf den Ohreingang und schließt denselben einen Augenblick luftdicht ab. Jetzt tritt das gerade Gegenteil ein von dem, was wir bei der Ohrfeige sahen: beim Küssen wird durch die Lippen eine saugende Bewegung ausgeübt und hierdurch wird die Luft innerhalb des Gehörganges rasch verdünnt, das Trommelfell aus seiner natürlichen nach einwärts trichterförmigen eingezogenen Lage ziemlich heftig nach außen gezogen und gewölbt. Da kann es nun infolge dieser Luftverdünnung zum Zerreißen der zarten Blutgefäße des Trommelfells kommen oder es kann gar die Membran selbst einen Riß abkriegen. Derartige Fälle sind bekannt, in denen z. B. die ungestüme Zärtlichkeit einer Mutter durch einen Kuß das Trommelfell ihres Kindes teilweise zerstörte.

Ich komme jetzt zu einem andern mit Recht sehr verbreiteten Gebrauche, dem der Reinigung des Ohres. Ueberall, in allen civilisierten Ländern ist es Sitte, sich die Ohren zu reinigen. Dieser Gebrauch ist an und für sich, wie alle hygieinischen Maßnahmen, durchaus lobenswert, aber die Art und Weise, wie die Reinigung zu erfolgen pflegt, ist nur zu häufig unzweckmäßig, sogar schädlich, gleichwie die zulässigen Grenzen für die Reinigung leider oft genug überschritten werden.

Es ist eine ganz falsche Ansicht, daß das Ohr, das heißt der Gehörgang, nicht die Ohrmuschel, möglichst häufig, womöglich täglich, von dem in ihm sich bildenden Ohrenschmalz befreit werden müsse; dadurch arbeiten wir der Natur gerade zuwider. Das Ohrenschmalz ist das physiologisch natürliche Produkt der Ohrenschweißdrüsen und hat als solches einen bestimmten, von der Natur ihm vorgeschriebenen Zweck: es schützt den Gehörgang gegen die Einwirkungen von außen und hält ihn in einem normalen Feuchtigkeits- und Befettungszustand, wie ja die ganze Haut unseres Körpers durch die Talgdrüsen ihre Geschmeidigkeit erhält. Arbeiten wir gegen dieses Naturgesetz an durch wohlgemeintes, aber falsches zu häufiges Reinigen, so nützen wir dem Ohre nicht, sondern schaden ihm: der Gehörgang wird abnorm trocken, künstlich trocken gemacht; ein unangenehmes Gefühl der Spannung, des Zuengeseins ist die Folge, ein Juckreiz und Kitzeln, zuweilen auch Sausen und kleine Einrisse in die Oberhaut, die sich in Geschwüre umwandeln können.

„Aber ich kann doch den Schmutz nicht im Ohre lassen, das wäre ja zu unanständig!“ Ganz recht. Jedoch wenn der Gehörgang alle zwei bis drei Monate einmal gründlich gereinigt, das heißt sanft ausgespült und sorgfältig nachgetrocknet wird, so ist dies unter normalen Verhältnissen gerade oft genug. Eine öftere Reinigung ist bloß bei Leuten, die mit einer sehr starken, über die Grenzen des Normalen hinausgehenden Ohrenschmalzabsonderung behaftet sind, notwendig; da muß das Ohr mit Spritze und lauwarmem Wasser von seinem „Pfropfe“ befreit werden.

Jedoch nicht bloß in Bezug auf Häufigkeit der Reinigung wird viel gefehlt, sondern noch viel mehr in der Art der Reinigung, die sehr, sehr häufig nicht nur unzweckmäßig, sondern einfach schädlich ist. Sehr verbreitet ist der Gebranch von Ohrlöffeln und trotzdem ist die Anwendung derartiger Instrumente dringend zu widerraten. Die Ohrlöffel, mögen sie nun aus Elfenbein, Holz, Hartgummi, Silber oder gar Gold gearbeitet sein, taugen trotz ihrer verhältnismäßig zweckmäßigen äußeren Gestalt nicht zur schadlosen Reinigung des Ohres, weil sie bei nur einigermaßen stärkerem Drucke – und das geschieht sehr gern, besonders wenn es uns gerade ein bißchen im Ohre juckt – die Oberhaut sehr leicht verletzen, aufreißen können. Und gar nicht selten schließen sich dann an eine solche kleine Verletzung, die dem Patienten vielleicht kaum zum Bewußtsein gekommen ist, schmerzhafte Entzündungen im Gehörgange an; der Gehörgang schwillt infolge des Eindringens von Infektionskeimen, die durch den Löffel selbst meist geradezu in die verletzte Stelle eingeimpft werden, entweder gleichmäßig zu oder es bilden sich kleinere umschriebene sehr schmerzhafte Erhöhungen, die einen kleinen Eiterpfropf enthalten. Gerade diese „Furunkel“ des Gehörgangs verdanken recht oft ihre Entstehung dem Ohrlöffel. Auch recht bösartige Rotläufe entwickeln sich nicht zu selten aus solch unscheinbaren infizierten Stellen. Insbesondere sind hier die metallenen, auch selbst die goldenen Löffel gefährlich, weil das Metall immer etwas scharf, hartkantig auch in der feinsten Bearbeitung bleibt; am wenigsten schädlich sind solche von Hartgummi. Alle diese Instrumente sind nie absolut rein, sie werden in der Tasche herum getragen, in den Schubladen aufbewahrt und dann nach oberflächlicher Reinigung wieder gebraucht; so bleiben sie immer Träger von Infektionsstoffen. Hat sich eine größere Menge von Ohrenschmalz angesammelt, so gelingt es mit dem Löffel gewöhnlich nicht mehr, es völlig zu entfernen, und es wird der größere Rest durch den Ohrlöffel nur weiter hineingearbeitet, auf das Trommelfell hinaufgestoßen. Daß natürlich Zündhölzchen, Bleistifte, Federhalter, Strick- und Häkelnadeln u. a. m. höchst unzweckmäßige, geradezu gefährliche Instrumente sind, sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber doch wird recht häufig mit ihnen im Ohre gewirtschaftet. Ganz abgesehen von den Entzündungen, die sich hier in gleicher Weise wie beim Gebrauch des Löffels zeigen können, bergen derartige Manipulationen noch die große Gefahr der direkten Verletzung des Trommelfells und der tieferen Ohrteile in sich. Ein unachtsames Ausrutschen oder ein unvorsichtiger und unbeabsichtigter Stoß von seiten einer zweiten Person und der Griffel durchbohrt das Trommelfell und fährt schließlich noch weiter in die Tiefe. Derartiger Fälle mit den traurigsten Folgen – absolute Taubheit, Hirnhautentzündung und Tod – sind leider manche bekannt geworden.

Zweckmäßiger als die bisher berührten häuslichen Reinigungsinstrumente [259] ist das bekannte Ohrschwämmchen. Aber, obschon demselben der oben gerügte Fehler abgeht, ist doch auch dieses nicht zu empfehlen. Das Schwämmchen hat den großen Uebelstand, daß es als hygroskopischer, d. h. Feuchtigkeit aufsaugender Körper sich mit den verschiedensten Bestandteilen, dem Inhalte des Ohres, dem Staube etc., imprägniert, und so häuft sich in ihm bei wiederholtem Gebrauch eine Unmasse von Schmiere an; eine Reinigung mit einem solchen Schwamme ist eine direkte Verunreinigung, und es wird die Möglichkeit für eine Infektion bei ihm in noch höherem Grade gegeben als beim Löffelchen. Dieser „Vermuffelung“ hat man durch Auswaschen in Seife, Alkohol etc. vorzubeugen gesucht, allein wenn dieses nicht nach jedem Gebrauch des Schwämmchens sehr sorgfältig wiederholt wird, ist der an und für sich schon ziemlich zweifelhafte Nutzen völlig hinfällig; dazu haben aber wohl die wenigsten Lust und Ausdauer genug. Hier und da kommt es dann auch vor, daß ein nicht mehr gut befestigtes Schwämmchen beim Gebrauch sich ablöst und als Fremdkörper im Gehörgange stecken bleibt. Also auch das Schwämmchen entspricht den gerechten Anforderungen der Hygieine nicht.

„Aber womit soll ich mir dann das Ohr reinigen, wenn alles nichts taugt?“

Doch! Es giebt ein einfaches Mittel dafür: völlig entfettete Watte, die sogeannte chirurgische Verbandswatte (Bruns’sche Watte). Sie schnitzeln sich ein kleines dünnes Holzstäbchen, kerben es an dem einen Ende mit einigen kleinen Einschnitten ein und wickeln nun ein Flöckchen Watte, gerade groß genug für den Gehörgang, um das eingekerbte Ende des Hölzchens in der Weise, daß Sie die Watte locker festhalten und das Stäbchen immer in der gleichen Richtung von links nach rechts drehen, dadurch wickelt sich die Watte sehr fest um das Holz, so daß ein Abrutschen nicht zu befürchten ist, und mit dem pinselförmig aufgebrachten weichen und angenehmen Ende können Sie jetzt bequem genug ohne jede Furcht den Gehörgang bearbeiten. Haben Sie es ausgebraucht, so ziehen Sie das Wattebäuschchen ab und heben das Hölzchen auf, um es beim nächsten Gebrauch wieder so herzurichten. Ein einmal gebrauchtes Bäuschchen darf nie zum zweitenmal Verwendung finden; es muß zerstört, am besten verbrannt werden.

Das ist die einzige Methode, die allen hygieinischen Anforderungen entspricht und deren Durchführung weder die Gefahr einer Verletzung noch einer Infektion in sich birgt.

Es giebt eigene Watteträger hierfür, jedoch kommt man mit dem einfachen billigen Hölzchen eben so gut oder noch besser zurecht. Erweist sich das Ohrenschmalz als sehr zäh, so ist es nicht unvorteilhaft, das Wattebäuschchen vor dem Gebrauche in eine Lösung von Alkohol und Wasser zu gleichen Teilen einzutauchen, weil dadurch dann die zähe Aussonderung leichter zur Lösung gelangt.

Jetzt hätte ich noch ein großes Anliegen, und das möchte ich besonders den Müttern unserer lieben Kleinen ans Herz legen. Wie oft kommt es vor, daß einer der kleinen Sprößlinge ins Zimmer stürzt mit dem Rufe: „Mama, Mama, die Schwester (der Bruder) hat sich einen Kirschkern ins Ohr gesteckt.“ Alles Mögliche bringen ja die Kinder beim Spielen ins Ohr hinein, Bohnen, Linsen, Erbsen, Johannisbrotkerne, Schrotkörner, Bleistiftköpfe, Papierkügelchen, sogenannte Palmkätzchen, Glasperlen und, Gott weiß, was noch mehr. Da heißt es nun vor allem, ruhig Blut behalten, den Kopf nicht verlieren und zunächst einmal das Kleine beruhigen; halten Sie den Gedanken fest: wie der Fremdkörper ins Ohr hineingekommen ist, so wird er auch wohl wieder herauskommen.

Vor allem sollte man, auch wenn der Fremdkörper noch so verführerisch einladend am Eingange des Gehörganges herauslugt, niemals versuchen, des Körpers habhaft zu werden mit Haarnadeln, Häkelnadeln oder gar mit einer unglücklicherweise im Haushalte vorhandenen Pincette. Mit beinahe unfehlbarer Sicherheit wird der Fremdkörper nicht nur nicht herausgebracht, sondern nur viel tiefer hineingestoßen, und dabei werden noch bei der immer vorhandenen Unruhe der Kinder Verletzungen hervorgebracht.

Gehen Sie, ohne nur ein bißchen an dem Dinge gerührt zu haben, zu Ihrem Arzte; er wird dann entscheiden, ob er, wenn er sich heimisch genug in diesem Gebiete weiß, selbst die Entfernung vornehmen kann oder ob diese von einem Ohrenarzte gemacht werden muß.

Der Fremdkörper an und für sich wird wohl kaum jemals einen Schaden anrichten, selbst wenn er im Ohre bliebe. Wissen wir doch, daß die allerverschiedensten Fremdkörper jahre- und jahrzehntelang sich im Ohre befunden haben, ohne es irgendwie zu beeinträchtigen, höchstes, daß sich mit der Zeit ein Ohrenschmalzüberzug um sie herum bildete. So habe ich Palmkätzchen nach 7jährigem Verweilen, Glasperlen nach 25jährigem Aufenthalt im Ohre entfernt, ohne daß die Leute eine Ahnung davon hatten, daß sie sich überhaupt je etwas ins Ohr gesteckt hatten, und derlei Beispiele giebt es noch sehr, sehr viele. Wohl aber sind es die unglücklichen und verunglückten Entfernungsversuche von seiten Unberufener, die mit Instrumenten aller Art im Finstern hantierend schon manches jugendliche Ohr zerstört, seinen Besitzer der Taubheit, Taubstummheit oder dem Tode zugeführt haben.

Ehe ich zum Schlusse meines heutigen Kapitels komme, möchte ich noch einen weiteren verhängnisvollen Unfug und seine Folgen besprechen.

Das Zahnweh ist ein schlimmer Gast, aber ehe man möglichst bald zum richtigen Schmied, zum Zahnarzt geht, dessen Kunst in Bälde die Ursache des tobenden Schmerzes beseitigen kann, wird meist eine große Reihe von Hausmittelchen probiert, die doch alle die Ursache des Schmerzes nicht beheben können. Da weiß eine alte weise Dame, daß es vorzüglich wirkt, wenn man sich Knoblauch ins Ohr steckt, den kriegt man dann nicht mehr heraus und nun muß der Arzt außerdem den Knoblauch herausziehen und die durch ihn jetzt entstandene Entzündung bekämpfen. Ein anderer verbrennt sich den ganzen Gehörgang, indem er, den rasenden Schmerz zu dämpfen, Chloroform oder Aether ins Ohr hineingießt: starke Rötung des Gehörganges und schmerzhafte Entzündung des Trommelfells sind die prompte Antwort auf den Angriff. Auch der sogenannte „Painexpeller“ spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in diesen wegen Zahnwehs willkürlich hervorgebrachten Schädigungen des Ohres.

Dann wegen des Ohrenschmerzes, des Ohrenzwanges selbst, wie viel Unzweckmäßiges wird da nicht vorgenommen! Wollten die Leute bloß das verhältnismäßig harmlose Mandelöl nehmen, so wäre dies wenigstens nicht geradezu schädlich, statt dessen aber wird Milch in das Ohr geschüttet oder in Milch gekochte Reiskörner oder Rosinen, ein andermal auch Feigenstückchen hineingebracht, um „das Geschwür rasch zu zeitigen“, auch ein Stück rohes Fleisch habe ich einmal im Ohre gefunden. Alle diese Substanzen sind, ganz abgesehen davon, daß sie ihren Zweck, den Schmerz zu stillen, doch verfehlen, infolge ihrer leichten Zersetzbarkeit geeignet, die höchstgradigen Reizerscheinungen hervorzurufen; sie wirken direkt als Infektionsherde. Daß das Eingießen von Schnaps und Kölnischem Wasser gerade so wirken wird wie die beim Zahnweh berührten Mittel, dürfte sich von selbst verstehen. Auch Ohrbähungen werden nicht selten wegen des Ohrenschmerzes sowohl als auch wegen Schwerhörigkeit in Anwendung gezogen. Da werden durch einen Trichter die Dämpfe siedenden Wassers ins Ohr eingelassen oder der Unglückliche läßt sich, wie das auch in manchen Gegenden ortsüblich ist, gekochte Kartoffeln auflegen, so heiß als er sie ertragen kann. Die Folge dieser Eingriffe ist eine gründliche Verbrühung des Ohres, es bilden sich Brandblasen, später stellt sich eine oft sehr langwierige Eiterung mit Zerstörung des Trommelfells ein und schließlich kann der Gehörgang auch infolge der Narbenbildung hochgradig verengt werden, ja völlig zuwachsen.

Zum Schlusse möchte ich noch einen Punkt kurz berühren. In so ziemlich allen civilisierten Ländern ist die Militärdienstpflicht eingeführt, leider fehlt es überall nicht an solchen, die aus diesem oder jenem Grunde sich um den Dienst zu drücken versuchen. Unter den viele Simulationen, die im Schwange sind, um bei der Gestellung den Militärarzt zu hintergehen, giebt es gar manchen Unfug, der mit dem Ohre getrieben wird. Manche scheuen sich nicht, sich den schmerzhaftesten, gefährlichsten Selbstmißhandlungen zu unterwerfen zur Erreichung ihres Zieles. Der eine legt ein Spanischfliegenpflaster in den Gehörgang, das zieht Blasen und bewirkt eine oberflächliche Eiterung, ein Blick ins Mikroskop läßt uns sofort die Reste der Flügeldecke der spanischen Fliege (Lytta vesicatoria) erkennen. Ein anderer verätzt sich mit Schwefelsäure oder Salzsäure absichtlich den Gehörgang! Der so sich selbst Mißhandelnde zieht sich allerdings eine sehr thatsächliche, aber auch sehr folgenschwere Entzündung des ganzen Ohres zu, deren Ursache keinem Militärarzte verborgen bleibt, dem „Drückeberger“ aber leicht als kleine Dreingabe Gehör und Leben kosten kann.