Am Abgrund

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Autor: unbekannt
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Titel: Am Abgrund
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 352
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Aus den Erinnerungen einer Hebamme Nr. 1
Blätter und Blüthen

Nr. 2: Du riechst mir zu gut!

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[352] Aus den Erinnerungen einer Hebamme. 1. Am Abgrund. In einer schönen, mond- und sternehellen Winternacht verließ ich ein Haus in der Vorstadt. Der Anblick des herrlichen Himmels fesselte mich; ich wandte deshalb meine Schritte dem Freien zu und ließ mich endlich dort auf einer Bank am Wege nieder, um mich an dem prachtvollen Firmamente zu weiden. Wie ich so dasaß und schaute, trat mir meine Kinderzeit vor die Seele, jener Abend, wo mein seliger Vater mir zuerst den Orion am Sternenhimmel gezeigt, und unwillkürlich suchte ich ihn auch jetzt und labte mich an seinem Anblick. Endlich fühlte ich meine Augen vom Glanze geblendet und ließ die Blicke über die Schneefläche irren, um irgend einen dunklen Punkt zum Ausruhen für dieselben zu suchen. Und wirklich fand ich einen solchen, aber einen, der plötzlich alle meine Ruhe vertrieb.

In ziemlicher Entfernung von mir lag es am Boden wie ein schwarzer Haufen, aber plötzlich streckten sich zwei Arme daraus empor und gleich darauf vernahm ich stöhnende Laute. Wie ein Blitz durchfuhr mich ein schrecklicher Gedanke. An jener Stelle, wußte ich, gähnte steil und tief der Abgrund eines verlassenen Kohlenschachtes; ich hatte einmal am Tage hinabgeblickt und mir schauderte noch vor der unheimlichen Tiefe. Wer um diese Zeit dort jammert, kann es nur auf einen Schritt der Verzweiflung abgesehen haben.

Hier mußte ich dazwischen treten, das sagte ich mir sofort, aber wie? Wenn das unglückliche Wesen mein Nahen bemerkte, so beschleunigte ich vielleicht nur den Selbstmord. Da erinnerte ich mich eines Grabens, der von meinem Wege sich bis in die Nähe der Kohlengrube hinzog, und ich erkannte nun auch den dunklen Strich desselben am Boden. Ich schlich dahin, allein der Graben war so voll Eis und Schnee, daß er mich nicht ganz verborgen hätte. So that ich denn meinen Mantel ab und kroch nun auf allen Vieren, mit angstvoll verhaltenem Athem und doch laut pochenden Herzens, den Graben entlang. Endlich nahe genug gekommen, sah ich eine Frauengestalt in schwarzen Gewändern, auf den Knieen liegend, weinend und laut betend, daß Gott ihre That verzeihen und sich ihrer Kinder erbarmen möge. Sie hörte mich nicht, als ich aus dem Graben stieg und mich ihr näherte. Nur ein paar Schritte von uns gähnte die schwarze Todespforte, daß mich ein Grausen überlief. Und da erhob sich langsam die Gestalt und schlug die Capuze des seidenen Mantels vom Kopfe zurück; diese ergriff ich rasch mit der einen Hand, und als sie nun auch den Mantel loshaken wollte, offenbar um ihn vor dem Sprung in den Abgrund abzuwerfen, faßte ich mit der andern ihren Arm und riß sie rückwärts. Ein entsetzlicher Schrei – wir starrten uns an – lautlos, zitternd: ich erkannte sie, sie mich. – Vor mir stand eine der angesehensten Damen der Stadt, reich und schön, noch nicht dreißig Jahre alt und Mutter von mehreren prächtigen Kindern. Ich hatte sie in ihrem letzten Wochenbett gepflegt und so Tage lang die Gelegenheit gehabt, sie nur glücklich und zufrieden zu sehen. Und jetzt! – Welch’ ein Ringen um ein Wort! Endlich stieß sie’s hervor: „Was wollen Sie?“ keuchte sie. „Was haben Sie mir nachzuschleichen? Warum halten Sie mich fest?“ – „Lassen Sie mich los!“ schrie sie endlich außer sich und versuchte, sich loszureißen. Ich widerstand mit aller Kraft, und so begann ein Zerren und Ringen zwischen uns an dem Abgrund. Sie wehrte sich wüthend und biß mich sogar, aber mein besserer Muth siegte. Sie fest umschlingend, zog ich sie vom Schachte hinweg, ihr Widerstand erlahmte; langsam, zögernd, aber doch still ergeben ließ sie sich von mir den Graben entlang führen, während ich mit zitterndem Herzen in sie hineinredete, wie ich auf jene Bank gekommen und sie gesehen, und daß Niemand von dem Vorfall wisse, gar Niemand, außer Gott. – „O, wenn Sie wüßten!“ seufzte sie endlich. - „Ich will nichts wissen,“ entgegnete ich. „Vielleicht sind Sie unglücklich – sehr unglücklich – ich will nicht danach fragen. Ich weiß nur das Eine, daß es Pflicht aller Menschen ist, sich in das Unvermeidliche zu fügen, und daß meine gute selige Mutter mich gelehrt hat, bei Allem, was mir Uebles begegnet, zu allererst den Grund in mir selber zu suchen, und da bin ich oft dahinter gekommen, daß ich selbst die Ursache meiner eigenen Widerwärtigkeiten war; wo ich aber schuldlos litt, habe ich’s mit Gottvertrauen getragen.“

Die Dame schwieg. Ich half ihr den Mantel wieder umlegen, hüllte mich in meinen eigenen Mantel, und so machten wir uns auf den Weg zu ihrer sehr entfernten Wohnung. Kein Laut wurde zwischen uns gewechselt. Als wir in die Nähe ihres Hauses kamen, schlug es drei Uhr. Sie hatte beim Fortgang den Hausschlüssel unter die Thür geschoben und fand ihn noch an derselben Stelle. Da hörte ich sie bewegt sagen: „Er ist noch nicht zu Hause!“ –

Sie konnte doch nur ihren Gatten gemeint haben, und eine Ahnung vom Zusammenhang dieser Nachtschwärmerei und ihres nächtlichen Gangs stieg in mir auf. Deshalb flüsterte ich ihr zu: „Das ist ja gut! Nun können Sie sich bei seiner Heimkehr schlafend stellen und ihn morgen früh recht freundlich empfangen.“ Sie aber seufzte tief und sagte: „Das Heucheln bin ich nicht gewohnt; ich habe noch immer und jederzeit gesprochen und gethan, wie es mir um’s Herz ist.“

Ich sah nun klar in das Verhältniß, schwieg jedoch und begleitete die Dame in ihr Wohnzimmer, versicherte sie, weil sie das beruhigen konnte, nochmals meiner tiefsten Verschwiegenheit und wollte mich eben entfernen, als wir den Herrn Gemahl die Treppe herauf kommen hörten. Als er das Zimmer betrat, sah ich nicht blos sein Staunen über meine Anwesenheit, sondern auch seinen überreizten Zustand. Jeder Frage zuvorkommend erklärte ich ihm, daß seine Gemahlin plötzlich sehr unwohl geworden, daß man vergeblich nach einem Arzt geschickt, daß ich auf meinem Heimgang von einem Geschäftsweg dies zufällig erfahren und hierher geeilt sei, damit seine Gattin in ihrem leidenden Zustand nicht ganz allein habe sein müssen. Darauf empfahl ich mich.

Wie kleinlich sind oft die Ursachen unsäglichen Unglücks! Die Heftigkeit der Frau und die Empfindlichkeit und rücksichtslose Genußsucht des Mannes haben einen Auftritt herbeigeführt, und in Folge dessen läuft er in’s Wirthshaus und sie zum Kohlenschacht, – und hätte mich meine Mondnacht-Seligkeit nicht dazwischen geführt, so war ein Selbstmord geschehen, ein Mann vernichtet und das Leben unschuldiger Kinder für immer getrübt!

Lange Zeit erfuhr ich nichts über das Ehepaar, und ich muß gestehen, das verletzte mich, denn ich hätte doch gern etwas Näheres gewußt. Wohl ein halbes Jahr nach jener Nacht wohnte ich einer großen Tauffeier bei, unter deren zahlreichen Gästen ich auch meine Gerettete wieder fand. Ich beobachtete sie erst, von ihr unbemerkt, und staunte über ihre Frische und Schönheit und über die Einfachheit und doch Eleganz ihres Anzugs. Sie strahlte von Glück und Freude. Als sie mich endlich sah, kam sie zu mir, ergriff meine beiden Hände und flüsterte mir zu: „Theure Freundin, was denken Sie von mir, daß ich Ihnen noch keinen Dank gesagt? Würdigen Sie das Gefühl, das mich immer zurückhielt, Ihnen wieder unter die Augen zu treten. Heute kann ich’s Ihnen nun sagen, daß ich jetzt glücklich bin, und Ihnen allein verdanke ich das und den Worten Ihrer guten seligen Mutter! Ja, ich habe Ihre Mahnung befolgt, ich habe mich und mein Betragen geändert, habe meine Heftigkeit und Vorwürfe in Milde und sanfte Bitten verwandelt, und seitdem ist auch mein Mann die Güte selbst, giebt mir nie mehr Ursache zu einer Klage, und unsere Liebe ist wieder so innig, wie in den ersten Tagen unserer Vermählung. Und das Alles, Alles verdanke ich Ihnen, und“ – hauchte sie mir tief erröthend zu – „das Leben selbst!“

Ich winkte ihr ab, um kein Aufsehen erregen zu lassen, aber so selig wie ich ist gewiß keines von all’ den Reichen und Glücklichen dieses Festes gewesen. – Vor ganz kurzer Zeit pochte es an meine Thür und herein trat meine Dame mit ihrem Gemahl. Sie theilten mir mit, daß ich bald zu einem freudigen Ereigniß bei ihnen würde gerufen werden. Aus den Blicken und Worten des nun von ganz anderem Reiz, als damals, belebten Gatten erkannte ich deutlich, daß er in mir die Bewahrerin eines ewig mahnenden Geheimnisses ehrte. Auch das that mir wohl.