Anastasius Katzenschlucker, der große Zauberer/Das stumme Dorf

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Der Katzenkrieg Anastasius Katzenschlucker, der große Zauberer
von Rudolf Slawitschek
Das Meisterstück
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Das stumme Dorf

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[33] [A]nastasius saß in die Ecke des Wagens gedrückt. Er war im Grunde genommen etwas ängstlicher Natur und die Erlebnisse des heutigen Tages hatten ihn recht hergenommen. Aber je weiter sie fuhren, um so mehr kam ihm der Mut zurück. Er griff immer wieder in die innere Rocktasche, um sich zu überzeugen, daß sein Zauberstab sich noch an Ort und Stelle befand, und freute sich auf den Augenblick, wo er ihn wieder würde brauchen können. Dabei sah er bald zum Fenster hinaus, bald blickte er sich im Wageninneren um.

Was stand da für eine große runde Holzschachtel auf dem Rücksitz, ihm gegenüber? Hatte man ihm doch einiges von seinem Hab und Gut mitgegeben, ohne ihn[WS 1] vorher etwas davon wissen zu lassen? Oder war darin Mundvorrat für die Reise? Er hätte sich gerne von dem Inhalte der Schachtel überzeugt, aber er traute sich doch nicht recht: Vielleicht war irgendein Schabernack oder eine Hinterlist dabei! Und so blickte er lieber in die Gegend hinaus, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

Da draußen waren inzwischen die Häuser und Felder immer seltener geworden. Durch tiefen Wald brausten die Rosse und als der Weg wieder ebener ging, da blieben auch die Bäume zurück und braungrüne Mooswiesen dehnten sich in die Weite.

„So, Herr Zauberer,“ sagte der Ratsdiener und ließ den Wagen halten, „jetzt wären wir weit genug von der Stadt und Ihr könnt aussteigen! Und mit euren Zauberkünsten könnt Ihr gleich anfangen. Nur mich und den Wagen samt Kutscher und Pferden laßt freundlichst in Ruhe, denn wir sind gegen alles gefeit durch die Gunst des Herrn Oberzauberers, das habt Ihr bei dem Angriffe der Katzen gesehen! Was ist denn mit der Schachtel da im Wagen? Habt Ihr Euch also doch unerlaubterweise etwas [34] mitgenommen? Nun, mit Leuten eurer Art soll man es sich nicht verderben und so mögt ihr sie meinetwegen behalten. Also heraus damit, aber rasch, damit wir am Abend wieder zu Hause sind!“

Eine kleine Weile später rollte die Kutsche wieder bergab und Anastasius stand allein auf der weiten Heide. Ein ganz bedeutender Hunger meldete sich. Sollte er sich ein köstliches Mahl herbeizaubern oder sollte er zunächst einmal in der Holzschachtel nachsehen, ob nicht darin etwas Genießbares zu finden war?

Auf das Zaubern hatte er noch immer keine rechte Schneid, so entschied er sich denn für das letztere. Der Deckel ließ sich leicht heben – aber nein – da war nichts Eßbares darin, sondern etwas ganz anderes! Eine ganze Menge fein säuberlich geschnitzter Häuschen und viele, viele Holzfigürchen, Bauern und Bäuerinnen, Knechte und Mägde, Jäger und Hüterbuben – und alles schön sauber mit bunten Farben bemalt und auf grüngestrichenen Brettchen angeleimt, damit es einen festen Halt zum Stehen habe.

Merkwürdig! Anastasius war über diesen Anblick ganz der Hunger vergangen. Er hockte sich neben der Schachtel auf die Erde nieder und begann auszupacken, ja nicht nur das, er stellte alles fein säuberlich auf. An seine Kinderzeit mußte er denken, wo der Besitz solcher Spielsachen immer sein heimlicher, nie erfüllter Wunsch gewesen war. Und nun hatte ein unaufgeklärter Zufall ihm das beschert, was die Sehnsucht seiner Kindheit gewesen war. Ob er wollte oder nicht, er mußte sich auf die staubige Straße setzen und die Häuschen schön um die Kirche herumstellen und auf den Platz den Dorfpolizisten und dort auf den Weg, der ins Feld führen sollte, ein Dirndel mit ihrer Gänseherde. Und vor das Haus da, das grüne mit den gelben Fensterrahmen, da stellte er drei Bauern wie im Gespräch zusammen, und vor dem rosaroten stand die Bäuerin und schickte gerade die Knechte auf den Acker hinaus. Und der Bäckerjunge trug einen [35] ganzen Korb Brote aus und draußen vor dem Dorfe weidete eine Herde buntgefleckter Kühe.

Wie alles fertig dastand, richtete er sich auf und sah sich das Ganze recht gründlich von oben an. Und dabei fiel ihm erst ein, daß er, der erwachsene Mann, gerade wie ein kleiner Junge gespielt habe. Ganz rot wurde er darüber im Gesichte und sah sich ängstlich nach links und rechts um, ob ihn denn niemand gesehen habe. Doch da war keine Menschenseele weit und breit. Aber er schämte sich trotzdem noch immer, suchte vor sich selbst eine Erklärung und Entschuldigung für sein Handeln und da fiel ihm ein, daß er das alles gewiß nur aufgestellt hätte, um es dann groß zu zaubern und die Menschen und Tiere und alles lebendig zu machen.

Gedacht, getan. Im nächsten Augenblick begannen die kleinen Häuschen alle in die Höhe zu wachsen; und die Holzfigürchen dazwischen begannen sich zu regen und zu strecken und von ihren grünen Brettchen herunterzusteigen, als ob sie niemals angeleimt gewesen wären, und mit einem Male stand auf der einsamen Bergwiese ein stattliches Dorf voll geschäftigen Lebens. Da wurde in der Scheune fest Getreide gedroschen, dort trugen die Müllerburschen Säcke in die Mühle, hier stand die Bäuerin arbeitend am Butterfaß.

Anastasius aber ging behaglich durch die Gassen und freute sich seines Werkes. Da, dieses Haus hätte er ein wenig weiter nach rückwarts stellen sollen, die Straße war hier zu schmal, nun das machte schließlich nicht so viel aus! Und dort der Gartenzaun stand quer in den Garten hinein! Nun das war auch kein Unglück, das sollte sich der Bauer nur fein selbst richten, die Hauptsache war doch, daß alles so schön lebendig war.

Nur etwas lauter hätten die guten Leutchen sein können! Man hörte zwar die Dreschflegel im gleichmäßigen Takte aufschlagen, die Peitschen knallen und die Wagenketten klirren, aber keine menschliche Stimme, kein tierischer Laut schallte dazwischen. Gerade so, als ob sie alle zusammen stumm wären! Sie sind wohl noch nicht [36] das Reden gewöhnt, dachte Anastasius. Doch damit einmal angefangen würde, sprach er den ersten Menschen, der ihm entgegenkam, an und sagte ihm, daß heute schön Wetter wäre. Der aber ging an ihm vorüber, ohne seiner Worte zu achten. Darob etwas verdrossen, besann sich Anastasius, daß er ja eigentlich Hunger hätte. Und so trat er denn in den Bäckerladen und sagte dort sein Begehr. Das hübsche Landkind, das hinter dem Ladentische stand, nickte ihm freundlich zu und gab ihm das Gewünschte, doch ohne ein Wort zu sagen. Taub waren die guten Leutchen also nicht, aber scheinbar stumm, ein Fehler, der schleunigst beseitigt werden mußte. Und so schwang er denn, kaum daß er auf die Gasse getreten war, seinen Zauberstab und wünschte ihnen die Gabe der Sprache. Als er aber den nächsten Bauernjungen ansprach und sich, nur um etwas zu fragen, nach dem Wege zum Marktplatz erkundigte, gab ihm der nur mit Gebärden Antwort. Also stimmte schon wieder etwas n[i]cht mit seiner Zauberkraft! Das wurmte den guten Anastasius gewaltig und er versank in tiefes Grübeln, wie sich denn diesem Mangel abhelfen ließe.

Schwer den Kopf in Gedanken gesenkt, erreichte er den Marktplatz, den Blick immer fest auf den Boden gerichtet. Dabei fiel ihm auch ein, daß er noch keine Behausung für sich habe und daß es wohl das beste wäre, wenn er sich im Dorfgasthaus einmieten würde. Wie er gerade darüber nachdachte, sah er auf seinem Wege ein Schneckenhaus liegen. Es war ein selten schönes, schneeweißes Schneckenhaus und Anastasius bückte sich, um es genauer zu betrachten. Dabei sah er, daß es leer war. Da wurde auf einmal seine Miene heiter und vergnügt, er nickte schmunzelnd vor sich hin, schwang im nächsten Augenblicke seinen Zauberstab und wünschte sich, daß das Schneckenhäuschen hier auf der Stelle, mitten auf dem Marktplatze, schön fest wie ein wirkliches Haus am Boden ruhend sich weiten solle, daß es groß genug wäre für eine menschliche Behausung. Und dann wünschte er sich weiter, daß es eine Tür und zwei Fenster und einen Kamin und im [37] Inneren zwei hübsche Stübchen mit einem behaglichen Ofen, mit Tisch und Bett und Kommode haben solle samt allem, was man so brauche, bis zu Suppenteller, Stiefelzieher und Tabakspfeife hinunter. Und als das alles fix und fertig dastand, da ging er hinein, stopfte sich die neue Pfeife, öffnete das Fenster, lehnte sich behaglich rauchend hinaus und freute sich gewaltig über die erstaunten Gesichter der guten Dorfbewohner. Daß sie ihrer Verwunderung nicht durch Worte Ausdruck verleihen konnten, darüber ärgerte er sich für heute nicht mehr. Wozu auch? Die Leute verständigten sich ja scheinbar auch so ganz gut, trugen sie doch jetzt gerade von allen Seiten grüngestrichene Brettchen zusammen, teils kreisrunde, teils rechteckige, und schichteten[WS 2] sie fein säuberlich neben dem Marktbrunnen aufeinander.

Anastasius sah ihnen aufmerksam zu und dachte angestrengt darüber nach, was es mit diesen Brettchen für eine Bewandtnis haben möge. Es dauerte eine geraume Weile, ehe ihm das Richtige einfiel: Das waren doch sicher die kleinen grünen Untersätze, auf denen seine Holzpüppchen angeleimt gewesen und die mit ihnen gewachsen waren! Wie ordentlich die Leutchen doch waren, daß sie d[i]ese Erinnerungen an ihre und ihres Viehstands Puppenvergangenheit nicht in den Straßen herumliegen und verloren gehen ließen! Sah das nicht fast so aus, als ob sie wüßten, daß man das noch einmal wieder brauchen würde? Anastasius war wieder sehr nachdenklich geworden; und da die Pfeife zu Ende geraucht war, so schloß er das Fenster, zauberte sich noch ein ordentliches Nachtmahl herbei und legte sich schlafen.

Als er am nächsten Morgen erwachte, frühstückte er erst ordentlich und begann dann gleich wieder die Arbeit forzusetzen, die er gestern abend begonnen hatte, das heißt, er lehnte sich zum Fenster hinaus, rauchte seine Pfeife und sah behaglich den Leuten zu, die alle ihrer Beschäftigung nachgingen, als wären sie das seit Jahren nicht anders gewohnt.

Da tönte plötzlich Rossegetrabe von der Ferne, das kam [38] immer näher und auf einmal sah er zu seinem nicht geringen Erstaunen den Budweiser Ratsdiener auf schweißbedecktem Pferde herangaloppieren.

„Schönen guten Morgen, Herr Zauberer,“ rief der schon von weitem; „dem Himmel sei Dank, daß ich Euch sogleich gefunden habe! Ich dachte schon, ich wäre in die Irre geritten, denn an dieses Dorf hier kann ich mich gar nicht erinnern, obgleich ich doch erst gestern diese Straße gefahren bin. Doch nun zur Sache! Mir ist gestern ein Irrtum passiert! Die Holzschachtel im Wagen war doch nicht euer, die gehört ja dem Weihnachtsmann! Der hohe Rat der Stadt stellt ihm alljährlich die große Kutsche zur Verfügung, die dann, wenn der Schnee zu fallen beginnt, auf Schlittenkufen gesetzt wird. Bei uns hier im Böhmerwald hat es der Weihnachtsmann nicht leicht, wenn er bis ins kleinste Dörfchen kommen will, denn die Wege sind schlecht und die Häuschen verstreut. Da fängt er schon im November mit seinen Vorbereitungen an und darum hat er uns in der Vorwoche diese Holzschachtel geschickt. Ich war gerade nicht zu Hause, da hat sie meine Frau ohne mein Wissen gleich in den Wagen gestellt, damit nichts vergessen wird, wenn dann der Weihnachtsmann wirklich kommt. Also seid so gut und gebt mir die Schachtel wieder heraus!“

Anastasius aber schüttelte den Kopf und sprach:

„Die Schachtel kann ich Euch wohl zurückgeben, aber nicht das, was darin war! Seht Euch um, schaut Euch diese Häuser an, die Menschen alle hier, die Kühe, Ziegen, Pferde, Gänse, Hühner, das war alles in der Schachtel darin. Glaubt Ihr im Ernste, daß das wieder hineingeht? Also, wie gesagt, die Schachtel könnt Ihr wiederhaben, sie steht, wenn ich nicht irre, dort unten an der Ecke des Marktplatzes, so wie Ihr sie gestern selbst auf die Erde gestellt habt; aber was das übrige anbelangt, so soll sich das der Herr Weihnachtsmann selbst holen, wenn er es wiederhaben will!“

Sprach’s, nickte dem Ratsdiener noch einmal freundlich zu und schloß das Fenster, um sich eine frische Pfeife zu stopfen. [39] Und während er bedächtig den duftigen Tabak aus der großen, mit grünen Bändern eingefaßten Schweinsblase herausholte, hörte er draußen das Rößlein wieder davontraben.

Anastasius führte nun ein beschauliches Leben. Seine einzige Sorge war, seinem Völkchen ringsum die Gabe der Stimme zu verschaffen. Zuerst glaubte er, daß er vielleicht beim Aussprechen der Wunschworte irgendeinen Fehler gemacht hätte, und suchte den auf alle möglichen Arten gutzumachen. Aber nichts wollte helfen, nichts die lautlose Ruhe unterbrechen, die im Dorfe herrschte. Wenn doch wenigstens eine Kuh gemuht, ein Hahn gekräht, eine Gans geschnattert hätte! Aber nein, nicht einmal das, die Tiere waren gerade so stumm wie die Menschen. Wenn Anastasius nicht das Klirren der Werkzeuge und Ackergeräte, das Knarren der Wagenräder, das Sausen des Herbstwindes im Kamin gehört hätte, er hätte wahrhaftig geglaubt, daß er taub geworden sei. Zuweilen hielt er die eigentümliche Stille gar nicht mehr aus [40] und sprach laut mit sich selbst, um doch wieder eine menschliche Stimme zu hören. Manchmal hätte er am liebsten, verärgert wie er war, das ganze Dorf wieder klein gezaubert, aber dann konnte er sich doch wieder nicht davon trennen.

Inzwischen hatte der Winter seinen Einzug gehalten und es fing gewaltig an zu schneien. Soviel Schnee fiel, daß das ganze Dorf darunter verschwand und Anastasius nichts anderes übrig blieb, als seinen Zauberstab zu nehmen und den Schnee einfach weg zu zaubern, denn mit Schaufeln hätte man wochenlang arbeiten müssen, um sich aus diesen endlosen Massen herauszugraben. Aber kaum hatte er den Schnee glücklich weg, so fing er von neuem an in dichten Flocken zu fallen; und ehe der Morgen kam, war das Dorf wieder so tief im Schnee vergraben, daß er ihn von neuem wegzaubern mußte. Das hatte ihm wohl der Weihnachtsmann zur Strafe angetan, weil ihm Anastasius die Schachtel nicht zurückgegeben hatte! Zuweilen kam ihn auch die Reue an und er dachte wirklich daran, alles wieder gutzumachen; aber dann meinte er zu sich selbst, daß es ja mit dem Schnee gewiß nicht immer so fortgehen und daß der Weihnachtsmann sich gewiß schon andere Spielsachen verschafft haben würde.

Einmal in der Nacht glaubte er, im Schlafe ein silberfeines Glockengeläute zu hören. Er wachte auf und lauschte – es war kein Traum; und der helle Mondschein fiel durch das Fenster in sein Zimmerchen, es schneite also heute einmal nicht, zum ersten Male seit langer Zeit. Neugierig trat er ans Fenster, um zu sehen, wag da los wäre.

Auf dem Marktplatz stand ein großer offener Schlitten, der war mit zwei weißen Hirschen bespannt. Und die Hirsche hatten goldene Geweihe. Im Schlitten saß ein Mann mit langem Weißbart in einem dicken braunen Pelz und mit einer gleichen Mütze. Vom Kutschbock stieg gerade mit sehr eckigen, ungeschickten Bewegungen ein Mann herunter, der hatte einen schwarzen Zweispitz, einen blauen Frack, rote Weste und weiße Hosen; und wie ein Stock [41] stand ihm rückwärts ein langer Zopf vom Rücken ab. Er hatte einen Mund, der ging von einem Ohr bis zum andern, das konnte man selbst beim Mondlicht sehen, und er fletschte ununterbrochen die Zähne. Dieser nußknackerartige Mensch stieg also vom Bock herunter, ging geradewegs auf den sauber geschichteten Haufen grüner Brettchen zu, welche die Dorfbewohner damals so ordentlich zusammengetragen hatten, und legte fein säuberlich eines neben das andere auf den weißen Glitzerschnee. Währenddessen zog der Mann im Pelz ein silbernes Horn aus seinem Mantel, blies darauf zwei, drei Töne und steckte es wieder ein.

Da wurde es in den Fenstern der Häuser licht und man sah überall die Schatten von Menschen, die sich hastig in die Kleider warfen. Und die Türen der Ställe öffneten sich und Kühe und Gänse, Ziegen und Hühner kamen in langem Zuge heraus. Und bald gingen auch die Haustüren auf und die Menschen kamen alle heraus, Bauern und Bäuerinnen, Knechte und Mägde, Jäger, [42] Kuhhirten und Gänsemädchen. Und jedes stellte sich eilfertig auf so ein grünes Brettchen, das der Nußknacker in den Schnee gelegt hatte. Und dann griff der Mann im Pelz nach ihnen und jedes, das er anrührte, wurde im Augenblick klein wie ein Holzpüppchen, klebte fest an seinem grünen Brettchen und wurde in eine große Holzschachtel gelegt. Und als alles darin war, was im Dorfe gelebt hatte, stieg der Nußknacker wieder auf und lenkte den Schlitten die Häuser entlang; der Pelzmann aber griff nach ihnen und löste sie mit einer Hand leicht aus dem Boden wie unsereiner einen Schwamm im Walde, und darüber wurden die Häuser zu Häuschen, die Ställe zu Ställchen, so daß sie ganz leicht in die große Schachtel hineingeschichtet werden konnten.

Bald war von dem ganzen Dorfe nichts mehr übrig. Nur das Schneckenhaus stand unverändert da und an seinem Fenster lehnte Anastasius und guckte erstaunt auf die Dinge, die sich da begaben, ohne daß ihm auch nur eingefallen wäre, etwas dagegen zu unternehmen. Das war gewiß der Weihnachtsmann, der sich sein Eigentum zurückholte, da konnte auch ein Zauberer nichts dagegen machen. Und so sah er nur ruhig zu und war froh, daß man sich gar nicht nach ihm umsah, ja das ganze Schneckenhaus gar nicht zu bemerken schien.

Der Schlitten draußen war zur Abfahrt bereit. Schon schwang der Nußknacker die Peitsche, da schien er sich plötzlich auf etwas zu besinnen, legte sie wieder weg und holte unter dem Spritzleder einen großen Käfig hervor. Den öffnete er und zwei große Raben steuerten krächzend gerade auf das Schneckenhaus zu. Dann knallte die Peitsche, die weißen Hirsche zogen an und bald war der Schlitten im Silbernebel der Mondnacht verschwunden. Anastasius hörte noch eine Weile auf seinem Dache die Raben krächzen, dann zog er sich das Federbett über die Ohren und schlief ein.

Am nächsten Morgen weckte ihn wieder das Gekrächze der Raben. Er kleidete sich an, trat ans Fenster und blickte auf die endlose Weiße der verschneiten Mooswiese, die sich vor seinen Augen [43] nach allen Seiten dehnte. Er öffnete das Fenster, um ein wenig frische Luft zu schnappen, aber er hatte kaum nur die Nase herausgesteckt, so klang es krächzend vom Dach herunter:

„Komm nicht heraus, komm nicht heraus,
du in deinem Schneckenhaus,
sonst hacken wir dir die Augen aus!“

Also, das war eine schöne Geschichte! Nicht genug daran, daß er nun da ganz einsam und verlassen war, so sollte er sich gar nicht mehr aus dem Zimmer rühren, sondern eingesperrt darin hausen wie ein Gefangener! Nun, da mußte schnell Abhilfe geschaffen werden. Er griff rasch nach seinem Zauberstab und wünschte sich die Raben weg. Die aber krächzten unentwegt weiter, als wollten sie sich über seine Machtlosigkeit lustig machen. Nein, unter solchen Umständen war es gar kein Vergnügen mehr, Zauberer zu sein! An allen Ecken und Enden stieß man auf Hindernisse und Schwierigkeiten! Ob es anderen Zauberern auch so ergehen mochte? Es war sehr, sehr schade, daß er sich mit keinem von ihnen aussprechen, sich nicht beraten lassen konnte. Traurig stand Anastasius am Fenster, das er nicht zu öffnen wagte, damit nicht die beiden schwarzen Gesellen über ihn herfielen.

„Ach, wenn jetzt doch der kluge Herr Habakuk Löwenlippe hier wäre,“ seufzte er, schlug das Fenster zu und verkroch sich ängstlich in den dunkelsten Winkel seines Zimmer, „der würde mir gewiß mit Rat und Tat zur Seite stehen.“

Er hatte das kaum nur so vor sich hergesagt, da erblickte er am Horizont auf dem lichtblauen Winterhimmel ein dunkles Pünktchen, das zusehends größer wurde. Was mochte das nur sein? Mit angestrengter [44] Aufmerksamkeit schaute Anastasius darnach aus und erkannte bald, daß es ein Ziegenbock war, der mit großen Sätzen durch die Luft galoppierte. Auf seinem Rücken aber saß ein Mann im wallenden Weißbarte, der nur so im Winde flog. Anastasius wunderte sich gerade noch, daß ihm bei diesem scharfen Ritte nicht die spitze rote Mütze vom Kopfe fiel, da hielt er auch schon vor seinem Hause und winkte ihm freundlich zu.

„Ihr habt mich gerufen, Herr Kollege,“ rief er ihm im Absteigen zu, „was ist euer Begehr?“

Anastasius öffnete ganz vorsichtig das Fenster und rief hinaus:

„Wenn Ihr mir vor allem die zwei Raben da oben vom Halse schaffen wolltet!“

„Wenn es weiter nichts ist, das soll gleich geschehen!“ gab der unten zurück, dann beschrieb er mit der Linken ein Zeichen in der Luft und schon kamen die Raben zu ihm herabgeflogen. Nun schien sich zwischen den dreien eine lebhafte Unterhaltung zu entspinnen. In einer unverständlichen Sprache redete er auf sie ein, während sie mit lautem Krächzen antworteten. Schließlich schrieb er etwas auf einen Zettel, faltete diesen sorgfältig zusammen und steckte ihn dem einen Raben in den Schnabel. Da nickten beide mit den dicken Köpfen, dann hoben sie die Flügel und flogen eilig davon. In der nächsten Minute waren sie schon weit weg und zwei schwarze, immer kleiner werdende Punkte zeigten den Weg, den sie genommen hatten.

Erleichtert aufatmend trat Anastasius aus seiner Klause.

„Ich habe wohl die Ehre, den Herrn Oberzauberer Löwenlippe vor mir zu sehen?“ sagte er und als dieser nickte, fuhr er fort: „Empfangt zunächst meinen ergebenen Dank für eure gütige Hilfe!“

„Nichts zu danken,“ gab Herr Löwenlippe zurück, „das ist nur selbstverständlich, daß man einem jüngeren Kollegen hilft, wenn er in Schwierigkeiten kommt. Ihr braucht Euch dessen nicht zu schämen, denn diesmal war der Fall wirklich nicht leicht. Die zwei Raben hat Euch der Weihnachtsmann geschickt? Da müßt Ihr ihn [45] wohl sehr gereizt haben, denn sonst kommt das nicht so leicht vor, daß er so unangenehme Gaben spendet. Ihr hättet ihn gewiß nicht gekränkt, wenn Ihr eine Ahnung gehabt hättet, was für ein mächtiger Herr er ist! Da richtet unsereiner mit den schönsten Zaubersprüchen nichts aus, sondern muß die Sache im Guten in Ordnung zu bringen trachten. Nun, ich weiß, ich habe bei ihm von früher her einen Stein im Brett und darum konnte ich es mir erlauben, ihm die Raben mit einem sehr höflichen und ergebenen Brieflein zurückzuschicken. Aber Ihr könnt aus diesem Erlebnis die Lehre ziehen, daß auch unserer Macht Grenzen gesetzt sind. Und die muß man genau kennen, wenn man nicht empfindlichen Schaden nehmen oder sich zumindest vor den Leuten nicht lächerlich machen will. Eure Unkenntnis der Dinge ließ Euch auch nicht den Grund erkennen, warum Mensch und Tier in diesem Dorfe stumm waren. Euch war eben nicht bekannt, daß man aus einer leblosen Sache, wie es ein Stück Holz oder ein Stein ist, wohl ein lebendiges Wesen machen kann, das da ißt und trinkt und sich bewegt, aber man kann ihm nimmer die Gabe verschaffen, sich durch seine Zunge vernehmlich zu machen. Dieses stärkste Zeichen des Lebens, dieses höchste der Wunder hat sich der Meister aller Meister im Himmel oben selbst vorbehalten. Wenn Ihr meinetwegen Sperlinge in Menschen verwandelt hättet, so hätten sie sprechen können, oder wenn Ihr aus Ameisen Kühe gemacht hättet, so wären sie auch nicht stumm gewesen, weil das Leben als Gottesgabe schon in ihnen war. Nie und nimmer aber konnte jenes Scheinleben, das Ihr den hölzernen Püppchen verliehen habt, sich durch eigene Laute vernehmen lassen. Doch so geht es ja allen Anfängern in unserer Kunst. Jeder von ihnen glaubt, daß er sich, wenn ihm jene geheimnisvolle Kraft zuteil geworden ist, gleich das Blaue vom Himmel herunterholen kann. Merket Euch wohl: Zaubern können heißt noch lange nicht allmächtig sein. Da liegt noch viel, sehr viel dazwischen. Wer es sich ersparen will, in solche Schwierigkeiten zu kommen, wie sie Euch nun schon wiederholt zugestoßen sind, der darf die Mühe nicht scheuen und [46] muß die Zauberei bei einem tüchtigen Meister vom Grund aus lernen. Und darum schlage ich Euch vor, so für ein kleines Jährlein oder zwei zu mir in die Lehre zu gehen. Es wird Euch gewiß nicht gereuen!“

Mit Freuden schlug Anastasius in die dargebotene Rechte, holte sich aus dem Hause Mütze und Winterpelz, Pfeife und Tabaksbeutel, sperrte die Tür ab und zauberte dann das ganze Haus klein, so daß er es bequem in die Tasche stecken konnte.

Der Ziegenbock scharrte schon ungeduldig. Herr Löwenlippe schwang sich auf seinen Rücken, Anastasius setzte sich hintenauf und fort ging es in eiliger Fahrt. Noch einmal blickte er hoch aus den Lüften zurück nach der endlosen Schneefläche der Mooswiesen: Keine Spur mehr von dem Platze, wo gestern noch das stille Dorf und mitten darin sein Schneckenhaus gestanden war.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ihm
  2. Vorlage: schlichteten