Auch ein Vergessener

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Titel: Auch ein Vergessener
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 617-620
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Auch ein Vergessener.
Erinnerung aus der Zeit der schweren Noth.

Am 25. Mai des Jahres 1809 donnerten die Kanonen von den letzten Resten der ehemaligen Außenwerke Stralsunds herab ihren rauhen Jubelruf in die sonnige Morgenluft hinaus. Er galt dem Triumphe Frankreichs über Oesterreich, der Verherrlichung des Einzuges Napoleon’s in Wien. Jetzt lag das ganze Deutschland besiegt, in schweigender Gebundenheit zu den Füßen des corsischen Emporkömmlings. Was half es, daß die Fluth der Empörung in dem Gemüthe manches Patrioten hoch aufwogte! [618] die zwingende Macht der Verhältnisse war zu groß, um nicht jeden Versuch der Auflehnung dagegen als hoffnungslose Thorheit erscheinen zu lassen. Auch in Stralsund, dem Hauptort des damaligen Schwedisch-Pommern, herrschte äußerlich Ruhe und Ordnung unter dem fränkischen Regimente, dem es seit dem August 1807, nach halbjährigem, tapferem Widerstande, verfallen war. Seitdem hatte man seine bedeutenden Festungswerke darniedergeworfen und es befand sich gegenwärtig nur eine kleine Besatzung daselbst, etwa einhundert und fünfzig Mann Artillerie unter dem Befehl eines Capitains. Schmetternde Marschmusik ertönte an dem gedachten Morgen, ihr nach zogen die fremden Krieger durch die Straßen der Stadt, jeder einzelne stolz in dem Bewußtsein, der großen Nation anzugehören, ein Glied des gewaltigen Kolosses zu sein, der den Erdkreis umspannen zu wollen schien.

Der kriegerische Schall drang jetzt mit verstärkter Deutlichkeit zu den Ohren eines Mannes, der im Erdgeschoß eines Eckhauses am sogenannten Schildsod zum Fenster getreten war, die Stirn an das Holzkreuz desselben lehnend. So stand er lange. Das heitere Familienbild hinter ihm im Zimmer zog ihn nicht an. Am Frühstückstische im sauberen Hauskleide jener Zeit sein noch junges, hübsches Weib mit den Kindern, einem blühenden Knaben und einem Mädchen, ihr gegenüber seine alte Mutter, deren ergrautes Haupthaar ein farbiges Tuch nach schwedischer Sitte umhüllte. – Vom Festlärm draußen offenbar schmerzlich berührt, hatte er mit einer fast heftigen Bewegung dem Fenster den Rücken gekehrt. Die Arme verschränkt, blickte er finster und voll innerer Aufregung gerade vor sich hinaus. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann, gegen vierzig Jahre alt und von regelmäßigen Gesichtszügen; seine zugleich straffe und ungezwungene Haltung verrieth, trotz der bürgerlichen Kleidung, die er trug, den ehemaligen Soldaten. In der That hatte der frühere Ingenieur und Artillerielieutenant Petersson lange im activen Dienst der schwedischen Krone gestanden und als solcher auch die Vertheidigung von Stralsund während der Belagerung mit durchgefochten. Wegen eines falschen Verdachts war er seiner Stellung enthoben worden und beim Abzuge seiner Landsleute hier geblieben, hatte sich ein Haus erworben und füllte die seinem thätigen Geiste wenig zusagende Mußezeit durch Unterrichtgeben, besonders im Zeichnen, aus.

In seine Gedanken versunken, merkte er es nicht, daß die alte Frau mit den Kindern das Zimmer verließ, daß jetzt Stille in demselben waltete und seine Gattin mit bekümmerter Miene neben ihm stand. Erst als sie sanft ihre Hand auf seine Schulter legte, schüttelte er wie unwillig über diese Störung das Haupt und drehte sich hinweg. Mit schallenden Schritten durchmaß er eine Weile hastig das Wohnzimmer, noch immer schweigend, bis nach und nach seine Bewegung langsamer ward, sein verhaltenes Zürnen, sein Gram einzelne Worte fand und er dann, wie schon oft vorher, gegen die theilnehmende Gattin seinen innersten Gefühlen Luft machte. Durfte denn der Verrath, das Unrecht, der Despotismus der Welt Gesetze vorschreiben? Nein! Eine höhere Gewalt, der Geist der Wahrheit, der Gerechtigkeit mußte endlich ein Machtwort darein reden, vor dem alle Tyrannengewalt in Trümmer zerschellte. Eben weil der Frevel so groß, das Unrecht so himmelschreiend, durfte es nicht länger bestehen: es mußte ein Ende nehmen, und zu diesem Ende selber thätig mitzuwirken, sei sein sehnlichster Wunsch. Wie der heldenmüthige Schill, auf den jeder Wackere mit freudig erwachender Hoffnung blicke, möchte auch er wieder hinaus, zu kämpfen, zu siegen, den Haß zu stillen in dem Blute der Franzosen.

Petersson hatte im Sprechen sein Herz erleichtert; die hochgehenden Wogen der Erbitterung ebneten sich und eine hellere Stimmung überkam ihn. Seine Züge gewannen wieder jenes offene und gewinnende Gepräge, welches ihm leise die Herzen zuwandte, wie er sich denn auch einer seltenen Beliebtheit bei seinen Mitbürgern und Bekannten erfreute. Bald darauf verließ der ehemalige Lieutenant, sorgfältig zum Ausgehen gekleidet, das Haus. Die neunte Stunde rückte heran und berief ihn zur Ausübung seiner Lehrerpflicht.




Petersson hatte die Unterrichtsstunde geschlossen. Langsam schritt er durch die Straßen, sein zerstreut umherschweifender Blick gewahrte eine auffallende, unruhige Bewegung. Menschen eilten hin und wieder, fragten, berichteten untereinander; sie kamen aus den Häusern hervor, sahen die Straße entlang, Knaben liefen jauchzend dazwischen. „Der Schill ist hier!“ scholl es ihm entgegen. Was war dies, war es möglich? Was wollte, was konnte –

„Ah, Herr Lieutenant!“ – ein aufgeregter Bürger rief es Petersson zu, den er wie die Meisten noch so betitelte – „wissen Sie schon? Denken Sie sich, der Schill ist plötzlich gekommen, preußische Jäger und Husaren halten auf dem Neuen Markt. Jetzt müssen die Franzosen kopfüber!“

„Ach was, er ist schon wieder fortgeritten.“

„Nein, nichts da! Der französische Capitain ist ja gefangen worden, ich hab’s selbst mit angesehen.“

So tönt es widersprechend durcheinander. Petersson schlug fast laufend die erwähnte Richtung ein: er war erschrocken wie über ein unerwartetes Glück, eine Freude, die plötzlich vom Himmel herabkam; dann mußte er still stehen, sich an die Stirn fassen, blitzschnell jagten sich hinter ihr die Gedanken. Da – sein geübtes Ohr vernahm, unterschied den Lärm kriegerischer Zurüstungen, das Rollen von Geschützen auf dem Steinpflaster, Wagengerassel, Rufen, Geschrei. „Die Franzosen wollen sich wehren,“ klang es ihm entgegen, „Gott im Himmel, was wird es geben!“ Er stürzte vorwärts, er überblickte eine wüste, tumultuarische Scene, einen Auftritt rasender Eile und Geschäftigkeit. Wie rumpelte und toste es durcheinander, wie rannten und schleppten die flinken Franzosen von dieser, von jener Richtung, mit allen nur möglichen schmetternden Flüchen ihrer Muttersprache die Arbeit würzend! Die im Ueberfluß vorhandenen Kriegsmaterialien wurden mit Windesschnelle herbeigeschafft, in Bereitschaft gesetzt, Lafetten gerichtet, Munition aufgefahren; es galt die Haakstraße zu versperren, die Zugänge zu verbarricadiren, Kanonen davor aufzupflanzen.

Petersson mußte sich um Alles zuerst von der Sachlage einen vollständigen Ueberblick verschaffen. Ihm brannte das Herz in der Brust, alle seine Sinne waren geschärft, auf das Höchste angespannt; das Soldatenblut wallte hoch in ihm auf, er fühlte sich wie elektrisirt. Auf Nebenstraßen eilte er vorwärts; nun hieß es: „Die Preußen sind da, Schill ist wiedergekommen!“ Er hörte nur das Eine, hatte nur Gedanken für das Eine. Alles Uebrige um ihn her, die laut ausgesprochenen Befürchtungen, die Besorgniß der Einwohner vor den möglichen Folgen eines blutigen Zusammentreffens, die in bangen Klagen sich Luft machte – es ging spurlos an seinem Geiste vorüber. Aus den höchsten Giebelluken eines Hauses beobachtete er angestrengten Auges jede Bewegung, jeden sich entwickelnden Vorgang unten. Die Schaar der Preußen hatte einen Moment zögernd, unentschlossen auf dem Neuen Markt gehalten, sie schienen mit Ueberraschung die gerüsteten Feinde vor sich, die Mündungen der Kanonen sich entgegen gerichtet zu sehen. Officiere sprengten hierhin und dorthin, mit Ordnen beschäftigt; Petersson glaubte den so hoch von ihm bewunderten Helden unter ihnen herauszuerkennen – ja, er war es, er mußte es sein! Die Franzosen auf der andern Seite, in aller lärmenden Lebendigkeit ihres südlichen Naturells, hielten drohend, schimpfend, herausfordernd bei ihren Geschützen, die herannahenden Preußen trotzig erwartend. Eine prasselnde Salve schmettert in diese hinein, Gewehr- und Kartätschenfeuer – ha! es hat blutig getroffen, rings um den Anführer stürzen sie zusammen. Zwei Officiere sind darunter, einer erhebt sich wieder, schwingt hoch den Säbel empor – nur Einer! Triumphgeschrei von drüben, gellend, überlaut – o, diese Franzosen! Die Preußen wanken, Verwirrung in ihren Reihen, sie ziehen sich eilig zurück. Nur um sich von Neuem zu ordnen, in fester Kampfordnung geht es wieder vorwärts, den Todesschlünden entgegen.

Man kennt den Verlauf des mit ungeheurer Erbitterung geführten Kampfes, man weiß, daß es Petersson war, der, unfähig, länger diesem zuzuschauen, sich durch das tobende Gewirr hindurch zu Schill drängte, ihm seinen Beistand anzubieten. Die zwingende Minute entzündete ein schnelles Verständniß zwischen dem preußischen Major und dem ehemaligen schwedischen Lieutenant, und während jener hier den Streit fortsetzte, führte dieser die seiner Leitung zugewiesenen Jäger und Scharfschützen auf einem Umwege in weitem Bogen in den Rücken der Feinde hinein. Sie erlegten mit ihren weittreffenden Kugeln die französischen Kanoniere neben den Geschützen, von den Luken und Fenstern eines Hauses am sogenannten Katharinenberge herab, das mit seiner Rückseite an den inneren Hof des Zeughauses sich lehnte. Der [619] Sieg ward durch diese entscheidenden Vorgänge unverzüglich herbeigeführt. Was von den Franzosen noch die Waffen trug, ward in der noch kochenden Wuth des Kampfes zusammengehauen; der Ueberrest erhielt Pardon, welchen nur der Capitain, der, gezwungen sein Ehrenwort brechend, die Vertheidigung geleitet hatte, anzunehmen verschmähte.

Es war kurz nachher, als der zum letzten Male siegreiche Schill dem zur gelegenen Zeit genahten Helfer mit kräftigem Druck der Hand seinen Dank, seine Anerkennung aussprach und dieser, hingerissen von seiner Begeisterung für Denjenigen, dessen überraschende und glückliche Handstreiche, dessen treue Hingebung für seinen König ihn so bald zum Liebling des Volkes gestempelt hatten, ihm seinen Arm und mit diesem alle Hülfsquellen seines Geistes zur Verfügung stellte. Schill nahm freudig dies Erbieten an, und Petersson trat unter seinem früheren Rang in preußische Dienste. Man nahm die vorhandenen Kriegsbedürfnisse und Vorräthe in Augenschein und ihr reichlicher Befund mochte wohl in der Seele des preußischen Anführers die so hartnäckig in ihm festgewurzelte Idee, sich in Stralsund zu behaupten, mit verstärkter Macht rege machen. Aber die Festung lag darnieder, war vernichtet und der nachsetzende Feind ihm auf den Fersen; es war nicht denkbar, die schützenden Wälle und Bastionen unter den die grösste Eile gebietenden Verhältnissen wieder herzustellen.

„Wenn es sich nur darum handelt,“ rief Petersson mit blitzenden Augen, „so verpflichte ich mich auf Ehrenwort, falls ich über die nöthigen Mittel und Arbeitskräfte gebieten kann, in kürzester Frist, ja im Zeitraum einer Woche, die Festungswerke vollständig aufzurichten.“

Schill erfaßte begierig diesen Vorschlag, und von jetzt an begannen für den Lieutenant Petersson Tage rastlosen Wirkens, einer nie ermüdenden Thätigkeit, die, wenn sie hinterher auch nicht von dauernden Erfolgen gekrönt wurde, doch das Talent und die Thatkraft dieses Mannes bewundern läßt, der die zertrümmerten, geschleiften Verschanzungen fast gänzlich neu wieder aufrichtete. Auf das Innigste vertraut mit jeder Einzelheit der Fortification, wie sie unter den Schweden hier gewesen, konnte er den ursprünglichen Plan getreu wieder herstellen. Bald starrten Palissaden drohend empor, die Gräben wurden ihres Schuttes entleert, die Wälle mit ihren Brustwehren wuchsen wie durch Zauberschlag in die Höhe; die Thore, auf die das meiste Augenmerk der Vertheidigung sich richtete, waren nach Verhältniß größtentheils schon trefflich befestigt. Alle diese Dinge in’s Werk zu setzen waren zahlreiche Kräfte aufgeboten worden. Tag und Nacht ging die Arbeit mit ungeheuerer Anstrengung ohne Unterbrechung fort: Hunderte von herbeorderten Landleuten und Tagelöhnern waren im Verein mit der Mannschaft beim Schanzen thätig; Schaufeln und Hacken ruheten nimmer, während unzählige Karren nach allen Richtungen hin sich kreuzten. Auch mancher müßig einherschlendernde Bürger sah sich durch die entblößte flache Säbelklinge des preußischen Befehlshabers zur Mitwirkung an diesem Schaffen genöthigt, dessen schleunigste Förderung diesem freilich vor allen Dingen nothwendig erscheinen mußte.

Gleich zu Anfang hatte Schill vermittelst Proclamation Pommern, als durch ihn den Franzosen entrissen, für die Krone Schweden in Besitz genommen erklärt und erließ in diesem Sinne zahlreiche, durch seine eigenthümliche und verzweifelte Lage gebotene Verordnungen und Anforderungen an die Stadt und das Land, die freilich den Betreffenden ihrerseits mitunter strenge und ungerechtfertigt erscheinen mußten. Der Landsturm der Provinz wurde schleunigst aufgeboten, Ausbleibende mit Todesstrafe bedroht und alle früher in schwedischem Dienst gewesenen Mannschaften sich zu stellen beordert. Auf dem Rathhause, wo Schill eine ständige Commission von Officieren und Mitgliedern des Rathes errichtet hatte, kam es oft zu stürmischen Auftritten, da manchem Verlangen, das für die Wohlfahrt der Stadt bedenklich erschien, nicht ohne Weiteres entsprochen werden konnte, und gewiß war es nur natürlich, daß die Einwohner zum überwiegenden Theil nicht von kriegerisch freudiger Zuversicht beseelt waren, vielmehr mit angstvoller Besorgniß der nächsten Zukunft entgegen sahen. Handelte es sich doch für sie, die gleichsam zwischen zwei Feuern sich befanden, wahrlich um nichts Geringes, wenn ein zur rächenden Vergeltung aufgestachelter Feind sich der Stadt bemächtigte. Auch die meisten der Officiere Schill’s, welche für Einschiffung nach England oder für ein offenes Feldtreffen stimmten, waren unzufrieden mit dem sonst vergötterten Anführer, der keines Rathes achtete.

Petersson theilte nicht diese Stimmung; ganz in seinem Wirken aufgegangen, sah er in dessen Fortschreiten die Bürgschaft des Gelingens. Mit seiner Familie verkehrte er nur auf kurze Momente, und die treue Gattin hätte nimmer durch Kundgebung eines besorgten Kleinmuths dieses muthige Vertrauen trüben mögen.

So war die letzte Entscheidung des blutigen Dramas, dessen Hergang und Hauptmomente bekannt genug sind, um eine weitläuftige Schilderung derselben hier am Orte überflüssig erscheinen zu lassen, nach längerem Drohen aus der Ferne jetzt herangenaht. Voll höchster Aufregung und Spannung war die Nacht, welche dem letzten Maitage voranging, vom Lärm der Trommeln, vom wechselnden Signalruf der Hörner durchklungen, und während an lodernden Wachtfeuern aus muthigen Kehlen die Schlachtgesänge deutscher Dichter erschallten und Kampfeslust jede Brust der preußischen Krieger höher schwellen ließ, genossen auch wohl wenige der Einwohner Stralsunds eines sorglosen Schlafes. Der Morgen war vorgerückt und mit ihm die Massen des Feindes, der in dunkel drohenden Linien von drei Seiten her sich langsam heranzog, enger stets die Stadt einzuschließen.

Nicht lange mehr, und der Kampf entbrannte heiß und mörderisch an den Thoren im Westen und Süden. Die Schill’schen bewährten ihren alten Ruhm der Tapferkeit glänzend auf’s Neue; die Feinde wichen, zurückgeschlagen, eine Strecke hinterwärts; die Kanonen der Gegner hatten ihre Vorderreihen gelichtet. Der ungestüme Muth, der die deutschen Herzen entflammte, drängte ungeduldig, aber vom Willen des Befehlshabers gefesselt, in’s Freie, zum Ausfall, zum Hervorbrechen aus den beengenden Schranken. Das Zeichen zum Kämpfen erharrend hielt die Reiterei auf ihren Pferden müßig auf dem Alten Markte, dem Knieperthore im Norden zunächst, auf welches sich das Hauptcorps der feindlichen Streitmacht von linksher über sumpfigen Wiesengrund, einer Lawine gleich, unaufhaltsam näher und näher herzuwälzte.

Doch wer vermöchte das Bild des bald an allen drei Thoren wüthenden Streites, den bis zur Wuth gesteigerten Heroismus der Schill’schen Kämpfer, ihre fast übermenschlichen Anstrengungen anschaulich genug in Worten wieder zu geben? Sie erlagen der Uebermacht, der Enge des Raumes, der Zersplitterung ihrer Kräfte, die, im Einzelnen gewaltig und staunenswerth wirkend, doch der leitenden Einheit ermangelten, durch das Terrain bedingt, ermangeln mußten.

Und als schon Alles verloren, als Schill gefallen war und sich die holländischen und dänischen Soldaten in alle Straßen ergossen, wehrte sich noch ein geringer Rest der Seinen, vom altersgrauen Thurme des Knieperthores aus, gegen die erdrückende Uebermacht, bis auch der Letzte von ihnen sterbend dahin sank. Hier, am Fusse jenes Thorthurmes, wo eine Schwadron abgesessener Cavalerie, mit Gewehren ausgerüstet, unter dem Befehl eines Hauptmanns die Besatzung verstärkt hatte, war es auch, wo Petersson nicht minder tapfer als jene gefochten. Er ward gefangen, fand jedoch, einen günstigen Zwischenfall gewandt benutzend, der Schnelligkeit seines treuen Rosses vertrauend, Gelegenheit zu entschlüpfen. Man behauptet, daß er ohne Zweifel bei der herrschenden Verwirrung auf Wegen nach aussen hin sich hätte retten können; aber wer, dessen Geist, von der langen Blutarbeit benommen, der Klarheit entbehrt, ist fähig in solchen Augenblicken stets den allein sichern Ausweg besonnen zu erfassen? Vom Instincte des Herzens getrieben suchte Petersson den Schutz seines Hauses, nachdem er, an der Ecke vom Pferde abgesprungen, diesem die Zügel über den Hals geworfen hatte. Niemand war seiner gewahr geworden von draußen, aber die sich ausbreitenden Verfolger drängten auch bis hierher nach, sich um jeden Preis des schädlichen Feindes zu bemächtigen. Man erkannte das Thier, das er geritten, und die von Grimm entflammten Soldaten stürzten in das Haus hinein. Sie suchen wie die lechzenden Spürhunde, sie durchstöbern die Kammern, die Gemächer – sie finden nichts. Aber es sind Frauen da, die Mutter, die Gattin des Gesuchten; von ihnen wird man das Geständniß seines Aufenthaltes erpressen können. Muthig und standhaft unter den Drohungen versichert das jüngere Weib seinen Aufenthalt nicht zu wissen; die alte Frau zittert erblassend unter den hochgeschwungenen Säbeln ihrer Dränger. Sie stoßen sie in ein Nebengemach, schütteln die Geängstigte an den Schultern. Die Schwache, den ermuthigenden Blick ihrer Schwiegertochter [620] vermissend, fühlt sich ohne Halt, schutzlos ihren Peinigern verfallen, zitternd, außer sich vor Furcht, sah sie die blanken Klingen über sich, gegen ihre Brust, ihren Kopf gerichtet, mit augenblicklichem Tode sie schreckend. Da entfloh es unwillkürlich ihren Lippen, da nannte sie den Versteck des Gesuchten – des verfolgten Sohnes. Im Nebengemach hört die Gattin, deren Sinne die Angst um den Geliebten verschärft, das Bekenntniß. Einen lauten Schrei ausstoßend, stürzt sie mitten durch ihre Wächter in das andere Zimmer. Die Arme erhoben, außer Stande mit den zitternden Lippen verständliche Worte zu bilden, heftet sie nur einen langen, wilden Blick des Vorwurfs auf die Schwiegermutter. Diese steht wie vernichtet; das plötzliche Ablassen ihrer Quäler, die unerbittliche Rachsucht, die in ihren Gesichtern mit einem aufflammenden Zug des Triumphes sich mischt, lassen sie mit einem Schlage die Folgen ihres Geständnisses überblicken. In eiligster Hast stürzen die Soldaten die Treppe hinauf, noch eine – weiter bis zum angedeuteten Orte, dem Boden des Hauses. Sie zerstreuen sich umher, werfen Kisten und Geräth beim Suchen polternd durcheinander, bis sie den Gegenstand ihres Hasses, hinter zusammengesteckten hohen Körben und Wirthschaftsgegenständen verborgen, entdeckt haben. Der früher schon seiner Waffen Beraubte richtet sich stolz aus seiner gebückten Stellung in die Höhe und ergiebt sich schweigend und mit verächtlichem Lächeln in das Unvermeidliche.

Petersson ward nach der Hauptwache abgeführt. Nicht lange brauchte er dort im Gefängniß den Todesspruch zu erwarten. Er war darauf gefaßt, es mußte so kommen, und die selber am Erfolg verzagende Fürsprache seiner Mitbürger, die zu seinen Gunsten sich erhob, konnte nichts fruchten. Das Kriegsgericht, das am 3. Juni sich über den Lieutenant Petersson versammelte, fällte nach kurzer Berathung sein Urtheil, das auf Erschießen lautete und am nächsten Morgen zu vollstrecken war.

Nur das treue Weib des dem Tode Verfallenen wollte Nichts zu seiner Rettung ungeschehen lassen. Mit jener Liebe, die Alles erduldet, Alles wagt, versuchte sie das letzte, das Aeußerste für den geliebten Mann. Ihre weinenden Kinder an der Hand eilte sie durch die Straßen von dem Einen zum Andern; auf die Commandantur, auf das Rathhaus, zu den feindlichen Anführern – ach, und fand nur verschlossene Thüren, fruchtloses Bedauern oder harte Zurückweisung. Bis in die Nacht hinein legte sie sich die Folter dieser vergeblichen Anstrengungen auf. Zum Sterben erschöpft sank sie zuletzt auf der Schwelle ihres Hauses zusammen.

Wenige Stunden nachher, am 4. Juni 1809, um vier Uhr in der Frühe, ward das über Petersson gefällte Todesurtheil an ihm vollzogen. Auf eben diesem Walle, den er vor wenig Tagen neu geschaffen, dicht vor dem Thore, wo er mit Tapferkeit gestritten hatte, erfüllten sich seine letzten Augenblicke. Die Schüsse knallten; der zerrissenen Brust entfloh das Leben, und den zusammenbrechenden Leichnam empfing das hinter ihm gähnende Grab. – –

Petersson ward von seinen ehemaligen Mitbürgern zwar im Stillen, aber tief bedauert, und es spricht für die reiche Begabung, die Thatkraft und persönliche Liebenswürdigkeit des Mannes, daß alte Leute in Stralsund, Zeitgenossen dieser Begebenheiten, mit Vorliebe bei diesen Eigenschaften verweilten, als das Bild jener Tage, aufgefrischt aus langer Vergessenheit, in ihrem Gedächtnisse sich wieder aufbaute, heraufbeschworen durch die Fragen der jüngeren Generation und durch die in den letzten Jahren neubelebten Erinnerungen an Schill und seinen Zug nach Stralsund.

Kein Stein, kein noch so einfaches Wahrzeichen macht die Stelle kenntlich, wo Petersson gefallen; aber alljährlich an seinem Todestage ertönt auch für ihn das Glöckchen der Schillscapelle in Westphalen, und wenn ein vaterländisches Herz in dankbarer Wehmuth am Denkmale der dort gefallenen Streiter weilt, so erinnere es sich auch Dessen, der am Ostseestrande mit gleicher Treue, mit gleicher Hingabe für eine vielleicht abenteuerliche und unbesonnene, aber schöne und glanzvolle Idee sich hingab. Wenn „Großes gewollt zu haben groß ist,“ wie es das Wort des römischen Dichters am Grabe Schill’s besagt, so dürfen wir unsere volle Anerkennung, unsere Theilnahme Demjenigen nicht versagen, der die Kraft seines Armes, das Wollen und Fühlen der feurigen Seele, ruhigen Wohlstand, Familienglück und Leben daran setzte, die Idee der Freiheit verwirklichen zu helfen, welche in andern Formen und Verhältnissen, aber ewig dieselbe, in jedem wackern, muthigen Herzen lebt.