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Auf dem Todtenacker zu Mannheim

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
DCLXXXXVIII. Die Kirche zu Sachseln im Melchthale Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band (1852) von Joseph Meyer
DCLXXXXIX. Auf dem Todtenacker zu Mannheim
DCC. Die Lutherzelle auf der Wartburg
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Die GRÄBER der GESTANDRECHTETEN
auf dem Kirchhof zu Manheim.

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DCLXXXXIX. Auf dem Todtenacker zu Mannheim.
 „Saat von Gott gesäet, am Tage der Garben zu reifen“.




Ein Friedhof.

Wie ist doch so ein Stückchen Erde, wo des „alten Wühlers“ Maulwurfshügel blühen und die Thränen der Liebe wie Thautropfen an den Grashalmen hängen, ein so reiches Feld für die Betrachtung! Jeder Friedhof ist ein Vorhimmel, jedes Grab ist ein Altar, und Gott selbst erscheint dem geistigen Auge an keinem Orte lieber. Rauscht auch in jedem Baumwipfel die Aeolusharfe der Wehmuth und tönen in jeder Glockenblume Trauer und Schmerz; so schwingt sich doch auch von den Gräbern der Gedanke am leichtesten zum Himmel auf und folgt dem Lichtheere seiner Welten. –

Leider! gibt es für Viele nichts Niederdrückenderes und Beängstigenderes als einen Todtenacker, obschon nichts Beruhigenderes und Erhebenderes auf Erden ist, sobald nur das Nachdenken sich der äußern Erscheinung bemächtigt hat. Das Bild des Todes, welches an die Vergänglichkeit alles Irdischen und des eignen Daseyns mahnt, verliert seinen Stachel, sobald der Mensch inne wird, daß der Tod nur eine nothwendige Folge derselben Gesetze ist, welche das Weltgebäude zusammenhalten und ihm ewige Bewegung, ewiges Leben verleihen. Er weiß, daß jedes Sterben die Geburtswehe eines neuen Lebens ist, und daß nach unveränderlichen Gesetzen jedes Daseyn nur einen Uebergang bildet zu einem andern höhern Daseyn, gleichviel, ob das Überschreiten selbst mit der Schnelligkeit des Augenblicks geschieht, oder große Zeiträume braucht. Ohne das Zertrümmern und Wegräumen eines alten Gebäudes [159] kann ein neues an dessen Stelle nicht erstehen; ohne Tod und Auflösung gäbe es keine Stoffe zu neuen Wesen; Welten selbst müssen vergehen, damit Welten werden. Allmächtig und ewig ist das Princip der Zerstörung und gegenwärtig in Allem, was Gott geschaffen hat; aber eben so allmächtig und ewig und allgegenwärtig ist das der Erhaltung. Kein Sonnenstäubchen im ganzen Universum gibt es, das ausgestoßen werden könnte aus dem Kreislauf des Lebens und, abgenutzt, entkräftet und verbraucht, bei Seite bliebe. Wenn nebelartige Massen im Weltraume sich zu Sonnen bilden, wenn Sterne aufhören zu seyn, oder wenn sie für unser Auge unsichtbar werden, oder ihre leuchtenden Kräfte verlieren, immer deutet es nur eine Veränderung zu neuer Gestaltung an. – Selbst Länge und Kürze der Zeiten verlieren ihren eigenthümlichen Werth, gehalten gegen die Ewigkeit. Wo ist der Maßstab? Zeit ist ein phantastisches Gedankenspiel, unserm irdischen Eintagsleben entnommen und auf Beobachtung gewisser Erscheinungen begründet, die wir zu fassen vermögen. In der geschaffenen Welt, in der Natur gibt es nur Entwickelung. Wenn die Sonne sich in Finsterniß taucht, oder im Ocean verschwindet, so verschwindet sie nur für uns; das Abendroth, mit dem sie für uns niedergeht, ruft in einer andern Hemisphäre, als Morgenroth, Leben, Bewegung, Freude hervor. – Wenn die Natur den festesten Eckstein allmählig in seine Elemente zersetzt und in seine Grundstoffe auflöst, so will sie nur diesen Stoffen das Recht der Entwickelung vindiciren, auch dafür sorgen, daß sie die Stufenleiter der Verwandlung zu höheren Organismen beschreiten.

Wir staunen über die Schnelligkeit der Zeit, und je älter wir werden, je schneller entfliehen uns Tage und Jahre und je mehr bekümmert uns die Kürze und Eiligkeit des Daseyns. Wir Thoren! Eine Stunde nennen wir lang, wenn sie uns keinen Genuß bietet, oder keine Arbeit sie würzt, oder Erwartung uns spannt; ist aber ein Jahr vorüber, oder ein Jahrzehnt, so klagen wir über die reißende Schnelligkeit seines Verschwindens. Wie können uns doch, nachdem uns die Jahrzehnte des eignen Erdenlebens so kurz geschienen, die Jahrhunderte und Jahrtausende so unendlich lange Zeiträume dünken und unser Erstaunen erwecken? „Unser allen Zeugnissen von der Macht oder der Eitelkeit des Menschen“, sagt Humphrey Davy, „sie mögen errichtet seyn, um seinen Namen ewig zu machen, oder sein Gebein zu verbergen, kennen wir kein einziges, dessen Dauer mit dem Maßstab von Hunderten von Generationen gemessen werden dürfte. Ist ein zweihundertjähriger Dorfkirchhof etwas Seltenes? Die Dauer dieses zweihundertjährigen Dorfkirchhofs aber zehnfach genommen, führt schon in das römische Weltreich zurück, und das Geburtsjahr unserer Urgroßväter hundertmal in die Vergangenheit gelegt, gibt einen Damm, der um tausende von Jahren älter ist als die Geschichte des Menschengeschlechts“. So sehr schwindet bei dem Vergleich die Länge der Zeit zusammen. Das Kolosseum in Rom, unter den Monumenten auf dem Erdkreise eines der größten, wurde von den Beherrschern der Welt erst vor 17 Jahrhunderten errichtet; heute sehen wir es als Ruine, nach 5 oder 10 Jahrhunderten wird es Staub seyn. Es wird eine Zeit kommen, wo auch Sankt Peters Dom, der Christenheit größtes Gotteshaus, seyn wird wie das Kolosseum, und wieder eine Zeit, wo der Staub vom Grabmal des Apostels [160] sich mit dem des goldnen Hauses des Nero mengt. Alles Menschenwerk und alle menschlichen Einrichtungen, selbst die herrlichsten und edelsten: die Lehrgebäude der Philosophen, die Verfassungen der Staaten, die Religionen selber – sind als Formen geistigen Schaffens dem allgemeinen Gesetz des Wechsels unterworfen: sie entstehen, blühen eine Zeit lang, sinken und vergehen. Aber weder die geistige noch die physische Natur läßt die Stoffe verderben; sie ist vielmehr unausgesetzt bemüht, um die an die Formen gefesselten Stoffe wieder zu befreien, wieder in den Strom des Lebens und zur weiteren Entwickelung zu bringen. Wollen wir immer, wie Kinder, in Hyperbeln reden? Wollen wir noch von der Beständigkeit menschlicher Einrichtungen faseln, oder der ewigen Dauer der Bauwerke in Theben, Memphis und Ellora? Wenn ihre Trümmer einige Jahrtausende länger widerstehen durch die gewaltige Masse, als die von Babylon, Ninive, Persepolis und Troja, deren Staub längst versammelt ist zum Sand der Wüste, so werden sie doch so sicher vergehen, als Tyrus und Karthago vergangen sind, deren Daseyn nur noch im gefärbten Sande des Strandes, in den bunten Geschieben, die von den Prachtgebäuden aus Marmor, Porphyr und Serpentin herrühren, die letzten schwachen Spuren zurückließ. Und doch pulsirt in der Jetztwelt keine gewaltigere Lebenskraft als in diesen Städten pulsirt hat, die zweimal gestorben sind und zweimal gelebt haben. Nicht London, nicht Paris, nicht New-York sind ihnen zu vergleichen.

Was der Erde entnommen ist, nimmt die Erde zurück: was der Mensch der Natur entzog, um es für seiner Hände Werk dauernd zu verwenden, ist die Natur beständig bestrebt, durch tausend Mittel und Kräfte im Wege der Zerstörung sich wieder anzueignen, und alle menschliche Kunst und Wissenschaft reicht nur hin, den Zeitpunkt der Veränderung etwas weiter hinauszurücken und den Auflösungsprozeß zu verlängern. Ist es ein beengender und niederbeugender Gedanke, alle die herrlichen Monumente der Kunst, die unser Stolz sind, unsere Bewunderung erregen und uns so hohe Freuden und Genüsse gewähren, nach kürzerer oder längerer Dauer dem Untergang geweiht zu wissen, so erhebt es im Gegentheil um so mehr, sich der Fähigkeit bewußt zu seyn, Unvergängliches zu schaffen im Reiche des Geistes und sich ein Wirken zu bereiten, das durch die Ewigkeit geht. Was ist flüchtiger, als ein Gedanke? was ist vergänglicher, als ein Hauch, ein Laut? Und doch werden die Gesänge Davids, die Lieder, in denen Israels Volk an „Wasserflüssen Babylons“ sein Weh seinem Jehova klagte, noch heute und so lange Menschen auf Erden wohnen, Trost und Freudigkeit in die Herzen gießen und zu hohen Thaten begeistern. Ihr Wirken dauert ungeschwächt fort, während Babel in Schutt begraben liegt und auf Zion längst ein anderer Glaube und ein anderes Volk seinen Tempel gebaut hat. Wo sind sie, die Mausoleen der Besieger Troja’s? Was ist aus ihren Heldengeschlechtern geworden und was aus ihren Reichen? Aber das Heldengedicht Homer’s lebt in jugendlicher Kraft und Schönheit für alle Zeiten fort. Wenn die Ziege weiden wird auf den Schutthügeln Londons; wenn in den Hallen des Berliner Königschlosses das Käutzchen die Stunden der Nacht abrufen wird; wenn die Siegesbilder auf der Vendômesäule ausgebrochen in den Museen zu schauen seyn werden; wenn die Archäologen über die einstige Lage des [161] Vatikans Streitschriften wechseln: dann werden Shakspeare’s und Schiller’s, Byron’s und Göthe’s Werke noch jedes Bücherbret zieren, werden die Gesänge Tasso’s, Dante’s und Beranger’s, die Töne Haydn’s, Beethoven’s und Mozart’s noch alle Herzen erwärmen, und um die Büsten Newton’s, Kepler’s, Copernikus’, Herschel’s, Franklin’s, Davy’s und Faraday’s, Humboldt’s, Ritter’s, Berzelius’ und Liebig’s, Arago’s und Lavoisier’s, um die Standbilder von Washington, Luther und Huß und so viel hundert anderer Heroen im Reiche des Gedankens und der Wissenschaft wird eine verehrende dankbare Nachwelt noch frische Kränze legen.

Möge der Staub der Weisen und Guten, der Blutzeugen Gottes und der ewigen Wahrheit, der Märtyrer der Freiheit und der unveräußerlichen Menschenrechte, – verwehen; mögen die Opfer für ihres Vaterlandes Größe und ihres Volkes Ehre unter dem Gezänk der Parteien in der Erde kühlen Schooß sinken: die Enkel feiern sie in unsterblichen Gesängen, und in ihren zur Nacheiferung mahnenden und erweckenden Thaten leben sie für ihre heiligen Zwecke beständig fort. Wie manches Grab erinnert an das Wort des Propheten: „Dem Verworfenen wird mehr Ehre werden, denn dem Könige, dessen Schwert die Menschen mäht, wie die Sichel das grüne Gras.“

So wollen wir uns denn nicht kümmern um die Vergänglichkeit des Kleids, das unsern ewigen Geist umhüllt! – So wenig wie wir unserm eigenen Körper eine unbegrenzte Dauer wünschen können (hätten wir auch das Erdenleben noch so lieb!), so wenig würde eine solche den Werken von Menschenhand zu wünschen seyn im Interesse der allgemeinen Entwickelung und des Fortschritts des Geschlechts zu höherer Vollkommenheit. Der Verfall der Kunstwerke und Monumente, die Vergänglichkeit aller, auch der weisesten Einrichtungen, bewahrt uns davor, bei den alten Ideen stehen zu bleiben. Was von den kostbarsten und höchsten Werken der Kunst aus der Verlassenschaft des Alterthums herüber gerettet ist in die Gegenwart, ist für den Zweck geistiger Anregung genügend; wir erfrischen unsern Geist und bilden unsern Kunstsinn an diesen Meisterstücken, ohne daß sie uns Raum und Veranlassung entziehen, Neues zu erfinden und Anderes, Zeitgemäßeres zu schaffen. Auch das Allerherrlichste ist ohne Ausnahme mit dem Stempel seiner Zeit bezeichnet; und offenbar hat sich gar manches bewunderte Denkmal schon zu lange erhalten für den Fortschritt, und wir müssen bei aller Verehrung dennoch bekennen: es hat sich längst überlebt.

Darum noch Einmal: jede Betrachtung über die eherne Gewalt und Macht der ewigen Gesetze der Zerstörung und Erhaltung im Reiche Gottes führt zur Zufriedenheit, und was in seinen äußern Erscheinungen dem Gedankenlosen zuweilen so trostlos vorkommt, wird, näher besehen, allemal zur Quelle des Trostes und der Erhebung. Wir Menschen, ebenbürtige Bürger dieser Schöpfung, und ewig wie sie selber, können der Natur nur gebieten, indem wir ihren Gesetzen gehorchen. Dies gilt nicht bloß von der Materie; auch unser geistiges Schaffen, Wirken, Denken und Streben ist diesen Gesetzen Unterthan. Der Staatsmann, der politische Institutionen aufrichtet, welche dem Rückschritt statt dem Fortschritt huldigen; der Denker, der philosophische Lehrgebäude aufstellt, [162] die das Geschlecht den Krebsgang führen; der Priester, der die religiösen Wahrheiten in Formen zu hüllen strebt, welche der fortgeschrittenen Intelligenz der Völker Hohn sprechen; der Schwärmer, der für Systeme eifert und Propaganda macht, welche auf unnatürlichen oder gebrechlichen Fundamenten ruhen; der Reformator von Staat und Gesellschaft, der politische und sociale Einrichtungen in geistige Klimate verpflanzen will, wo sie nicht gedeihen können, – alle diese müssen ihre von Ueberschätzung, Unvernunft, oder Irrthum begleiteten geistigen Bestrebungen unfruchtbar verkümmern und welken sehen. Diejenigen Unternehmungen im geistigen Gebiete aber, welche aus unreinen Leidenschaften hervorgehen, werden jedesmal unfehlbar gestürzt, ehe sie an’s Ziel gelangen; denn nichts bleibt erhalten und hat Antheil am Erbe der Ewigkeit, denn diejenigen Werke des Menschengeistes, die mit der göttlichen Natur desselben rein und vollkommen harmoniren.

„Auch der Umsturz der Reiche“ – bemerkt Volney – „wird nur durch den Zwiespalt der Pflichten und des Willens der Gewalthaber verschuldet. Wenn sie das Gesetz der Natur befolgen, wenn sie die Macht und das Wohlseyn der Staaten nicht auf Unwissenheit und Leidenschaften bauen, sondern auf Bildung und Freiheit gründen, so ist ihr Bestehen in Harmonie mit den Gesetzen Gottes und sie haben nichts zu fürchten“. – Dies ist der einzige sichere Weg. Auch Verfassungen und Bekenntnisse sind Formen, welche so wenig Anspruch auf Unveränderlichkeit haben, als Parlamentshäuser und Kirchthürme. Aber dahin könnten und sollten wir es bringen, daß, wenn das Alte untauglich und unpassend wird für die Bedürfnisse einer in Erkenntniß fortgeschrittenen Gesellschaft, dasselbe beseitigt werde ohne Revolution und Verwüstung, – und eine Bildungsstufe über die andere sich friedlich erhebe.

Es käme nur darauf an, daß man die Merkmale des Fortschritts, die neue Zeit mit den neuen Bedürfnissen, zeitig erkennte, und daß man den redlichen Willen hätte, ihnen gebührend Rechnung zu tragen. Einst predigte Schleiermacher: – „Wenn lang genährte Vorurtheile vor dem Lichte der Vernunft verschwinden: – so werden die Blinden sehend. Wenn gelähmte Volkskräfte sich neu beleben: – so werden die Lahmen gehend. Wenn das sittliche Verderben tief und reuig empfunden wird: – so werden die Aussätzigen rein. Wenn tausendmal verkündigte, aber immer überhörte Wahrheiten und Mahnungen endlich Eingang finden: – so werden die Tauben hörend. Wenn das Veraltete, Abgestorbene, Unbrauchbargewordene einem neuen frischen Leben Platz macht: – so stehen die Todten auf. Wenn die ewigen Menschenrechte an jedem Menschen, auch an dem Aermsten, erkannt und geehrt werden, und so eine Kraft von Unten nach Oben die Völker begeisternd durchdringt: – so wird den Armen das Evangelium gepredigt“.

Doch die Blinden sehen nicht, die Lahmen gehen nicht, die Aussätzigen werden nicht rein, die Tauben hören nicht, dem Armen wird das Evangelium nicht gepredigt. Eins aber ist gewiß: – unsere Todten werden auferstehen!